Die Dreierkoalition befindet sich in einem grundsätzlichen Wandel. Personalwechsel an der Spitze stellen die bisherige Machtbalance der Regierung auf eine Probe. Der wahre Garant für den Zusammenhalt von Blau-Rot-Grün sitzt aber ohnehin nicht am Kabinettstisch. Eine Analyse.

Xavier Bettel, Etienne Schneider, Felix Braz: Es waren diese drei Politiker, die am Abend des 20. Oktober 2013 die Revolution wagten. Es waren auch diese drei, die seitdem als Aushängeschilder von Blau-Rot-Grün fungierten. Jener „Koalition auf Augenhöhe“, deren Akteure immer wieder betonten, dass sie sich nicht nur politisch verstehen, sondern auch persönlich befreundet sind.

Seit der Erkrankung von Felix Braz ist zumindest einer der Schmiede dieser Koalition nicht mehr an Bord. Mit Etienne Schneider, der seinen geplanten Abschied aus der Regierung mittlerweile bestätigte, wird bald der zweite Macher dieser Koalition das blau-rot-grüne Cockpit verlassen. Damit bleibt von den einstigen Revolutionären an der vordersten Front nur noch der Premier übrig.

Viele Personalwechsel, kein politisches Projekt

Solche Personalwechsel wären wohl für jede Regierung ein tiefer Einschnitt. Sie wiegen umso schwerer in einer Koalition, die sich von Beginn an mindestens genauso sehr über ein gemeinsames Programm wie über die persönliche Ebene definiert hat. Zwar verband DP, LSAP und Déi Gréng seit 2013 auch ein politisches Projekt, insbesondere in der Gesellschaftspolitik. Doch waren Bettel, Schneider und Braz stets persönlich die Garanten für den Zusammenhalt dieser neuen Koalition.

Mehr noch als bei der ersten Auflage von Blau-Rot-Grün haben die Liberalen dem aktuellen Koalitionsprogramm ihren Stempel der ’sozial-liberalen‘ Beliebigkeit aufgedrückt.“

Rund sechs Jahre nachdem die drei Parteien erstmals an die Macht kamen, bleibt von dem Kitt der Anfangsjahre nicht mehr viel übrig. Personell stellen sich die Regierungsparteien neu auf. Politisch fehlt es offensichtlicher denn je an jenem „gemeinsamen Projekt“, das Alex Bodry im vergangenen Wahlkampf vermisste. Der LSAP-Fraktionschef ist übrigens ein weiterer Garant dieser Koalition, der sich bald aus der ersten politischen Reihe verabschieden wird.

„Sozial-liberale“ Beliebigkeit setzt sich durch

Schon bevor die Erneuerung vollzogen wird, offenbart sich eine neue Machtbalance innerhalb der Regierung. Alle drei Parteien haben es sich nach anfänglicher, latenter politischer Hyperaktivität mittlerweile in den Sesseln der Macht bequem gemacht. Die meisten Minister beteiligen sich längst  nur noch auf Nachfrage am politischen Diskurs. Manche von ihnen sind geradezu unsichtbar.

In diesem politischen Vakuum kristallisiert sich die DP mehr denn je als prägende Kraft der Koalition heraus. Nicht nur, weil bei der Premierpartei die personelle Kontinuität im Kabinett am stärksten ist. Sondern auch politisch sind es vor allem die Liberalen, denen der Mangel an einem klaren Programm in die Karten spielt.

Rot und Grün werden bekanntlich stets dafür kritisiert, dass sie an der Macht ihre „Ideale“ verraten haben. Bei der DP existiert dagegen seit jeher kein wirklicher Markenkern, den man an politischen Inhalten festmachen könnte. Mehr noch als bei der ersten Auflage von Blau-Rot-Grün haben die Liberalen dem aktuellen Koalitionsprogramm ihren Stempel der „sozial-liberalen“ Beliebigkeit aufgedrückt. Und personell besteht bei jenem Team, das 2013 erstmals Regierungsverantwortung übernahm, ohnehin kein akuter Druck zur Erneuerung.

Wenn es dem Land und den Menschen gut geht …

Wenn sie auch keine in Stein gemeißelten politischen Prinzipien kennen, so haben die Liberalen den letztlichen realpolitischen Selbstzweck der Macht schnell verinnerlicht. Sie hat die Ihren an zentralen Schaltstellen im Staatsapparat installiert. Sie punktet bei den Wählern mit einer abstrakten Vision der politisch-sozialen Modernität. Vor allem aber verteilt sie weiter die Früchte des luxemburgischen Modells im Hier und Jetzt und legt damit den Grundstein für kommende Wahlsiege. Diese Grundausrichtung wird wohl auch die kommende Steuerreform prägen.

Wenn es dem Land und den Menschen gut geht, dann will man sie offenbar nicht mit weitsichtiger oder gar kontroverser Politikgestaltung belästigen.“

Gleichzeitig steht die DP in wesentlichen Zukunftsfragen auf der Bremse. Wie die CSV in früheren Legislaturperioden ist es auch heute die Premierpartei, die den Fortschritt in politischen Kerndossiers – Wohnungskrise, Bändigung des Wachstums, konkreter Klimaschutz – verhindert. Wenn es dem Land gut geht, soll es auch den Menschen gut gehen, lautet der Leitspruch der Bettel’schen Ideologie. Und wenn es dem Land und den Menschen gut geht, dann will man sie offenbar nicht mit weitsichtiger oder gar kontroverser Politikgestaltung belästigen.

Geschwächte Grüne auf Konsolidierungskurs

Dieser vorherrschenden liberalen Ideologie haben die beiden Koalitionspartner nicht viel entgegenzusetzen. Déi Gréng haben sich im ersten Jahr der Neuauflage von Blau-Rot-Grün vor allem mit sich selbst beschäftigt. Zum unfreiwilligen Ausscheiden von Felix Braz aus der Regierung gesellten sich fast parallel erste Abnutzungserscheinungen der Macht. Die „Affäre Traversini“ markiert den Höhepunkt des grünen Marsches durch die Institutionen.

Durch den unfreiwilligen Rücktritt von Felix Braz und den angekündigten Abschied von Etienne Schneider wird sich die Machtbalance innerhalb der Dreierkoalition wohl oder übel verändern. (Foto: Matic Zorman)

Unabhängig von der rezenten Entwicklung sind die Grünen seit 2013 aber auf dem besten Weg, zu den besseren Liberalen zu werden. In ihren ersten fünf Regierungsjahren erarbeiteten sie sich den Ruf von pragmatischen Staatsdienern, die das Wohl des Landes vor die Ideale der Partei stellten. 2018 wurden sie für diesen Ultra-Realo-Kurs denn auch von den Wählern reichlich beschenkt. Ein Jahr später erwecken manche Minister der Partei jedoch den Eindruck, als hätten sie damit bereits das Endziel erreicht.

Doch gerade in den einstigen Kernkompetenzen der Umwelt- und Klimaschutzpolitik der Partei geht es gemächlich voran. Jahrzehntelang scheuchten die Grünen die Regierungen der Landes vor sich her. Sie forderten eine pazifistische Außenpolitik, eine ökologische Steuerreform und nicht zuletzt ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell. An der Macht fügten sie sich jedoch allzu schnell dem vorherrschenden wirtschaftspolitischen Laissez-Faire.

Sam Tanson, die neue starke Frau der Grünen

Den politischen Verlust von Felix Braz und die kleine „Krise“ wegen der „Affäre Traversini“ scheint der kleinste der drei Partner zwar gut überstanden zu haben. Das liegt jedoch vor allem daran, dass François Bausch entgegen seinem eigentlichen Plan wieder die Führungsrolle in der Partei übernommen hat. Damit dürfte in naher Zukunft eher die politische Konsolidierung Priorität haben. Große gestalterische Initiativen sind zumindest kurzfristig von Déi Gréng nicht zu erwarten.

Der kleinste Koalitionspartner scheint denn auch trotz großen Rückschlägen personell besser aufgestellt zu sein, als es sich so mancher politischer Gegner erhoffte.“

In der mittelfristigen Perspektive könnte sich das aber durchaus ändern. Während Umweltministerin Carole Dieschbourg aus den Kontroversen der vergangenen Wochen merklich beschädigt hervorgeht, kristallisiert sich nämlich mehr denn je mit Sam Tanson eine mögliche neue starke Frau der Grünen heraus. Der kleinste Koalitionspartner scheint denn auch trotz großen Rückschlägen personell besser aufgestellt zu sein, als es sich seine politischen Gegner erhofften.

Dan Kersch vor Beförderung und Bewährung

Auch bei der LSAP steht indes eine folgenreiche personelle Veränderung an. Etienne Schneider ist nur noch Vize-Premier auf Abruf und könnte bereits Anfang des kommenden Jahres aus der Regierung ausscheiden, wie unter anderem das „Lëtzebuerger Land“ berichtete. Hinter den Kulissen ist längst das Terrain für Dan Kersch präpariert. Der aktuelle Arbeitsminister dürfte nach Schneiders Abgang nämlich neuer Vize-Premier werden.

Spätestens mit dieser Beförderung ist die ursprüngliche Machtbalance innerhalb der Dreierkoalition passé. Nach Etienne Schneider, dem unideologischen Macher mit Sympathien für die sozial-liberale Beliebigkeit der DP, wird mit Kersch ein ganz anderer Politikertypus das Ruder übernehmen. Streitlustig bis unberechenbar beschreiben selbst Parteifreunde den ehemaligen Kommunisten. Kersch verbindet anders als sein Vorgänger zudem keine persönliche Freundschaft zu Premier Xavier Bettel und er gilt nicht als besonders begabter Brückenbauer zwischen den Parteien.

Eine stärkere Profilierung der Sozialisten wird nicht ohne Machtkämpfe und Reibungsverluste für die gesamte Regierung ablaufen.“

Mit dem Aufstieg von Dan Kersch dürfte aber auch ein politischer Wandel der Sozialisten einsetzen. Das liegt weniger an der besonders linken Vergangenheit und Gesinnung des heutigen Arbeitsministers als an der suboptimalen Perspektive der LSAP. Die lange Zeit an der Macht hat die neue „ewige Regierungspartei“ sukzessive geschwächt. Rein arithmetisch befinden sich Luxemburgs Sozialisten mit ihren aktuellen zehn Mandaten im Parlament auf einem historischen Tiefpunkt.

Letztlich wird auch Dan Kersch in der eigenen Partei daran gemessen, ob er seine Partei aus dieser Abwärtsspirale befreien kann. Ob dies mit einem dezidiert linken Kurs machbar ist, für den Kersch zumindest innerparteilich steht, ist letztlich nicht ausgemacht. Schon in der vergangenen Legislaturperiode setzte die LSAP so manche soziale Wohltat um – und gehörte am Ende dennoch zu den Wahlverlierern. Ob die Krise der luxemburgischen Sozialdemokratie mit einer Erhöhung des Mindestlohns und zusätzlichem Urlaub bewältigt werden kann, darf ebenso bezweifelt werden.

Sozialisten, die wahren unsicheren Kantonisten

Während sich viele in der LSAP mit dem Schicksal der schwindenden Volkspartei längst abgefunden haben, nähren Politiker wie Dan Kersch dennoch die Hoffnungen auf die Rückkehr zu den guten alten Zeiten. Doch als Regierungspartei sind die Möglichkeiten zur sozialistischen Profilierung begrenzt. Das kann letztlich nur auf Kosten ihrer Koalitionsparteien gehen. Und dies wird wiederum nicht ohne Machtkämpfe und Reibungsverluste für die gesamte Regierung ablaufen.

Auch wenn diese Regierung sich eines Tages auf überhaupt keinen Kompromiss mehr einigen kann, bleibt bei vielen Koalitionspolitikern eine Gemeinsamkeit: Hauptsache nicht mit der CSV.“

Gleichzeitig geht mit Alex Bodry Ende des Jahres ein weiteres politisches Schwergewicht der Partei von Bord. Der Wechsel im Fraktionsvorsitz hin zu Georges Engel ist bereits beschlossene Sache, Bodrys Wechsel in den Staatsrat nur noch eine Formalität. Der bisherige Fraktionschef hinterlässt im Parlament eine große Lücke. Seine nahezu exklusive Erfahrung in der mitunter kritischen Begleitung der Regierungspolitik wird vor allem seiner Partei fehlen – Stichwort: Profilierung.

Spätestens mit Bodrys Schritt in die zweite bis dritte Reihe offenbart sich ein weiteres Grundproblem der Sozialisten. In ihrer langen Regierungszeit blieb im Grunde eine ganze Generation politisch auf der Strecke. Die personelle Erneuerung wurde bisher nur punktuell vollzogen. Was nach der Generation Kersch kommt, ist alles andere als sicher. Im Vergleich erscheint die LSAP demnach als das eigentliche schwache Glied in dieser Regierungskoalition.

Im Zweifel hilft ein gemeinsames Feindbild

Apropos Schwachpunkt: Der wahre Garant des Zusammenhalts der Dreierkoalition sitzt letztlich nicht mit am Kabinettstisch. Wie schon im Wahlkampf 2013, und seitdem, schöpfen Blau, Rot und Grün ihre Kraft bis heute weniger aus der Verfolgung einer politischen Vision als aus der geteilten Abneigung gegenüber der CSV. Auch wenn diese Regierung sich eines Tages auf überhaupt keinen Kompromiss mehr einigen kann, bleibt bei vielen Koalitionspolitikern eine Gemeinsamkeit: Hauptsache nicht mit der CSV.

Zur Zeit wächst eine neue Generation von blau-rot-grünen Politikern nach, die sich an die Vorzüge der Macht gewöhnt haben und das Regieren ohne die CSV zu schätzen wissen.“

In diesem Sinn erscheinen die jüngsten Versuche der größten Oppositionspartei, einen Keil zwischen die drei Parteien zu treiben, denn auch so verzweifelt bis peinlich. Die CSV hat es immer noch nicht verinnerlicht: Sie ist bis auf Weiteres nicht gefragt.

Paradoxerweise erinnern die ständigen Attacken der Christsozialen ihre Gegner immer wieder daran, warum es die Dreierkoalition überhaupt gibt. Je aggressiver die CSV die Regierung attackiert, desto stärker halten die Koalitionäre zusammen. Zur Zeit wächst zudem eine neue Generation von blau-rot-grünen Politikern nach, die sich an die Vorzüge der Macht gewöhnt haben und das Regieren ohne die CSV zu schätzen wissen.

Nur die CSV kann die Koalition wohl noch retten

Ob die aktuell andauernde Verwandlung der Dreierkoalition mit einem wesentlichen politischen Wandel einhergeht, steht noch in den Sternen. Doch letztlich könnte die CSV dafür sorgen, dass die blau-rot-grüne Metamorphose gelingt. So wie 2013 ist es nämlich nicht nur der persönliche Zusammenhalt der Koalitionäre, der Erfolg verspricht. Vor allem das strategische Unvermögen, die zunehmende Hysterie und die offensichtliche Orientierungslosigkeit der größten Oppositionspartei dürfte die Anhänger der Dreierkoalition optimistisch stimmen.

Die CSV kann zwar immer wieder davon träumen, dass die Koalition an einem handfesten Skandal zerbricht und sie als Retterin in der Not urplötzlich das Regierungsruder übernimmt. Doch bisher deuten die Signale eher darauf hin, dass sich die Geschichte von 2013 bis 2018 noch einmal wiederholen könnte. Damals konnte die Oppositionspartei keiner Mehrheit des Wahlvolkes vermitteln, dass ausgerechnet sie die Geschicke des Landes besser lenken könnte. Personalwechsel hin oder her: Bisher spricht wenig dafür, dass sich dieser grundsätzliche Eindruck in den kommenden Jahren ändern könnte.


Lesen Sie mehr zum Thema