Mit der Neuauflage der Dreierkoalition ist ein lange beschworenes Phänomen der luxemburgischen Politik definitiv Geschichte: der CSV-Staat. Die machtvolle Verbindung zwischen christlich-konservativen Kräften hat ausgedient. An ihre Stelle tritt eine neue demokratische Normalität.
Am Anfang war der Machtwechsel von 2013. In der Bewertung der Ereignisse, die DP, LSAP und Déi Gréng an die Macht führten, wurde nicht mit historischen Superlativen gespart. Erst zum zweiten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sollte Luxemburg nicht von der CSV regiert werden – zum ersten Mal gegen den Willen der stärksten Partei im Land. Zum ersten Mal waren die 1983 gegründeten Luxemburger Grünen an der Macht. Zum ersten Mal eine Koalition aus drei Parteien. Und so weiter.
Genau genommen waren diese Bewertungen jedoch noch untertrieben. Der Regierungswechsel von 2013 war noch viel historischer. Denn die politische Vormacht der CSV als einstige „Rechtspartei“ reicht noch viel weiter zurück. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, also seitdem es regelrechte Parteien gibt, wurde Luxemburg fast ohne Unterbrechung von den christlich-konservativen Kräften beherrscht. Mit Ausnahme der sozial-liberalen Koalition von 1974 bis 1979, der Nazi-Besatzung 1940 bis 1944 sowie weniger Stunden am 9. Januar 1919, als linksliberale Politiker erfolglos die Republik ausriefen.
Den CSV-Staat gab es wirklich
Dabei lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass es in der Tat so etwas wie einen „CSV-Staat“ gab. Um dies zu begründen, muss man jedoch zuerst den Begriff an sich definieren, der in der Debatte meist als diffuse Kampfparole nicht-konservativer Kräfte gebraucht wird. Ein möglicher Ansatz wäre: Der CSV-Staat war mehr als nur ein politischer Beamtenstaat. Er war die zutiefst luxemburgische Variante einer über Jahrzehnte gewachsenen politisch-sozialen Allianz zwischen konservativen Kräften, die darauf ausgerichtet war, die Besitzstände der katholischen Kirche zu wahren und die Einführung einer Republik zu verhindern.
So ähnlich sah es auch der luxemburgische Philosoph Carlo Sunnen: „Nicht erst seit 1848 befindet sich die Kirche Luxemburgs voll im politisch-sozialen Kultur-Bürgerkrieg mit nicht-religiösen Kräften (…). Die Gründung einer Rechtspartei nimmt die Kirche aus der direkten Schusslinie dieser Kräfte“, schrieb der in diesem Jahr verstorbene Autor einst im „Land“. Dabei sei der Einsatz der Konservativen für die Monarchie gewissermaßen eine Fortsetzung dieses Kulturkampfes mit politischen Mitteln. Das Leitprinzip des CSV-Staats lautete nach Sunnen: „An der Spitze der Macht entscheiden ‚für Wahrheit und Recht’ auf unbegrenzte Dauer.“
Der CSV-Staat war die luxemburgische Variante einer über Jahrzehnte gewachsenen politisch-sozialen Allianz zwischen konservativen Kräften, die darauf ausgerichtet war, die Besitzstände der katholischen Kirche zu wahren und die Einführung einer Republik zu verhindern.“
Der dezidierte Gegner dieser katholisch-konservativen Allianz war der sogenannte „Linksblock“, also die sich Anfang des 20. Jahrhunderts manifestierende politische Kooperation des bürgerlich-liberalen und sozialistischen Lagers. Mit der Zeit entwickelte sich aus der ursprünglichen Abwehr der republikanisch-antiklerikalen Revolution aber eben eine eigene rechts-konservative Allianz, die über nahezu ein Jahrhundert die Macht im Staate innehatte. Der CSV-Staat war der Inbegriff des luxemburgischen Konservatismus, der sich dank wesentlicher Unterstützung im Wahlvolk von der katholischen Interessengemeinschaft zur wahrhaftigen Staatsideologie entwickelte.
Christlich-soziale Staatsideologie
Während der Kulturkampf in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts keineswegs entschieden war, behauptete sich die 1945 in „Chrëschtlech Sozial Vollekspartei“ umgetaufte Rechtspartei nach dem Zweiten Weltkrieg als prägende Partei im Staat. Ausgehend von der traditionellen Vereinigung zwischen Partei und Kirche verstand sich die CSV fortan als Volkspartei. Ihr ideologisches Fundament der Verteidigung der alten, katholisch geprägten Ordnung blieb zwar bestehen. Hinzu kam aber ein staatstragender politischer Pragmatismus, der sich dem gesellschaftlichen Wandel zumindest nicht mehr komplett verschloss.
Und doch war die CSV bis in die 1970er Jahre der Garant für die Wahrung klerikaler Interessen, der den gesellschaftlichen Fortschritt aktiv verhinderte. Es brauchte jedenfalls den Regierungswechsel von 1974, um die Abtreibung zu legalisieren und die Todesstrafe abzuschaffen, um nur zwei Gesellschaftsreformen der damaligen Koalition aus DP und LSAP zu nennen.

Der Machtverlust von 1974 bis 1979 wurde vom CSV-Staat zwar wieder verdaut. Er sollte jedoch auch zu einem Wandel in der CSV führen. Fortan übernahm die „Breedewee“-Generation um Politiker wie Jean-Claude Juncker, François Biltgen oder Marie-Josée Jacobs das Ruder und sollte Partei und Land über zwei Jahrzehnte zu einer gewissen Modernisierung verhelfen. Der CSV-Staat sah seine Mission nicht mehr in der Verhinderung des Wandels, sondern in dessen Begleitung und Entschleunigung. Nur so konnte gewährleistet werden, dass die CSV dauerhaft an der Macht bleibt. Denn: Ohne Macht kein CSV-Staat.
Zu diesem Zweck wurden auch die gesellschaftlichen Strukturen des christlich-konservativen Machtapparats diversifiziert und gepflegt. Der CSV-Staat war jedenfalls nicht nur die Kirche, eine in der Regel regierende Partei und ihr politisiertes Beamtentum, sondern auch eine christliche Gewerkschaft, eine mächtige christlich-konservative Tageszeitung, christliche Hilfswerke wie die Caritas, Jugendbewegungen wie die „Lëtzebuerger Guiden a Scouten“ und vieles mehr. Alle diese Rädchen der christlich-konservativen Machtmaschinerie griffen jahrzehntelang ineinander und stützten letztlich die Vormachtstellung der CSV. Die Partei tat ihrerseits alles dafür, damit niemand die traditionelle Machtfülle der Kirche und ihrer Unterorganisationen antastete.
Die Ausläufer des Kulturkampfes
Lange war klar: Wer im luxemburgischen Staat etwas werden wollte, musste sich mit diesen politisch-sozialen Strukturen zumindest arrangieren. Dabei nahm der Grad der ideologischen Konfrontation zwischen Rechts- und Linksblock freilich stetig ab. Oft wird dabei vergessen, dass die CSV nie alleine über die absolute Mehrheit verfügte. Liberale und Sozialisten schufen sich zwar ihre eigenen Machtnischen, halfen als Koalitionspartner aber letztlich dabei, dass der CSV-Staat über Jahrzehnte hinweg gedeihen konnte.
Die Erfolgsgeschichte der CSV bestand aber auch darin, dass sie auf dem traditionellen Terrain des linksliberalen Bürgertums aktiv wurde. Vor allem die frühe Juncker-Ära verkörperte die neue, nicht mehr allzu ideologisch bedingte Vormachtstellung der Partei. So hielt die CSV gleichzeitig christliche Traditionen hoch, erhob den sozialen Zusammenhalt zur politischen Maxime und betrieb eine dezidiert liberale Wirtschaftspolitik, um den mit der Zeit recht aufgeblähten christlich-sozialen Staatsapparat auch auf Dauer zu finanzieren.
Die von Blau-Rot-Grün angetriebene Trennung von Kirche und Staat war der späte Abschluss der Politik, wie sie das Land aus dem 20. Jahrhundert kannte – der letzte Sargnagel des einst so mächtigen CSV-Staats.“
Der Kulturkampf um die Macht der Kirche verblasste dagegen zur Jahrtausendwende immer mehr. Die Auseinandersetzung um die Abschaffung der Monarchie spielte ohnehin keine große Rolle mehr. Indem sie die Wählerbasis der anderen Parteien zum Teil integrierte, hatte die CSV das nächste Level der Machterhaltung erreicht. An ihr schien bald selbst arithmetisch kein Weg mehr vorbei zu führen. 2009 erreichte die CSV ihren elektoralen Zenit und verfügte über 26 Sitze. LSAP, DP und Grüne kamen gemeinsam auf 29 Mandate. Im Rückblick erscheint der letzte fulminante Wahlsieg von Jean-Claude Juncker aber als der Anfang vom Ende der Übermacht der CSV.
Kurz zuvor gab es zudem ein bemerkenswertes Beispiel, bei dem die Macht der CSV gebrochen wurde. Im Februar 2008 verabschiedete das Parlament das sogenannte Euthanasiegesetz und lieferte damit den überfälligen Beweis, dass selbst eine historisch starke CSV bei gesellschaftspolitischen Fragen in der Minderheit war. Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe war dabei nicht nur eines der wenigen übrig gebliebenen Streitthemen im Sinne der alten Konfrontation zwischen konservativen und fortschrittlichen Kräften. Im Rückblick kann die Debatte auch als frühe Geburt der Dreierkoalition gedeutet werden.
Der logische Machtwechsel von 2013
Die Gründe, die zum Machtwechsel von 2013 führten, sind zwar nicht nur in der Gesellschaftspolitik zu finden. Doch der Antritt der ersten blau-rot-grünen Koalition bestätigte den politischen Trend, wonach die CSV in manchen Politikbereichen nicht mehr die Mehrheitsmeinung repräsentierte und in Teilen eine ausgesprochene Arroganz der Macht entwickelte. Im Zuge der Affären, die 2013 zu Neuwahlen führten, büßte die Volkspartei an Einfluss ein. DP, LSAP und Déi Gréng nutzten die erste beste Gelegenheit, um sich der bisher unangefochten tonangebenden politischen Kraft zu entledigen.
Die rezenten Wahlkämpfe waren dabei nicht wirklich von der aus früheren Zeiten gewohnten Konfrontation zwischen Rechts- und Linksblock geprägt. Es ging nicht mehr in erster Linie um die Ermöglichung des politischen Wandels, sondern um die Machtfrage. Erst nach den Wahlen einigte sich die neue Koalition auf eine Reihe von Reformen, die die kämpferische Konfrontation mit dem CSV-Staat aus vergangenen Zeiten aufflackern ließ. Mit Ausnahme der Trennung von Kirche und Staat führte Blau-Rot-Grün als Regierung aber einen Kulturkampf, der längst gewonnen war. Es ging vielmehr darum, die politischen Verhältnisse an den längst fortgeschrittenen gesellschaftlichen Wandel anzupassen.

Dennoch hatte die Neuordnung des Verhältnisses zwischen dem Staat und der katholischen Kirche natürlich einen hohen symbolischen Wert. Die von Blau-Rot-Grün angetriebene stärkere Trennung von Kirche und Staat war der späte Abschluss der Politik, wie sie das Land aus dem 20. Jahrhundert kannte – der letzte Sargnagel des einst so mächtigen CSV-Staats. Die restlichen Streitpunkte hatte die CSV im Zuge ihrer eigenen Modernisierung entweder selbst abgeräumt oder wurden selbst von den linksliberalen Parteien nicht mehr als solche aufgefasst, siehe Abschaffung der Monarchie. Die wahren ideologischen Konflikte liegen mittlerweile woanders, etwa im Umgang mit der nationalen Identität, der luxemburgischen Sprache oder der Integrationspolitik. Doch in all diesen Punkten vertritt die heutige CSV ähnliche Positionen wie die Parteien der Dreierkoalition.
Die neue demokratische Normalität
Unter dem Strich bleibt die Erkenntnis, dass der CSV ihr Staat abhanden gekommen ist. Mit der Wiederwahl von Blau-Rot-Grün wurde der Machtwechsel von 2013 bestätigt. Der einstige CSV-Staat wird in der bisher bekannten Form auch nicht mehr zurückkehren. Die Macht der Kirche und einer entsprechend konservativen Volkspartei spiegelt sich längst nicht mehr in der gesellschaftlichen Realität wider. Vor allem fehlt es aber an politischen Kontroversen. CSV und Blau-Rot-Grün streiten längst nicht mehr darüber, wie sehr sich das Land wandeln soll, sondern nur noch darüber, wer an der Macht sein soll. Wie in jedem demokratischen Staat.
Durch die Bestätigung der Dreierkoalition bei den vergangenen Wahlen wurde diese demokratische Normalisierung verfestigt. Der CSV-Staat ist abgeschafft. Blau-Rot-Grün ist der neue Status quo. Von einem neuen, einheitlichen blau-rot-grünen Staat kann jedoch keine Rede sein. Es sei denn, man reduziert den Begriff allein auf die Unterbringung von loyalen Parteigängern in den staatlichen Verwaltungen. Dass DP, LSAP und Grüne diese Praxis fortführen, lässt sich zwar kritisieren. Doch dabei handelt es sich kaum um ein Phänomen wie den CSV-Staat, der aufgrund einer geschlossenen ideologischen Interessengemeinschaft die Jahrhunderte überdauern könnte.
CSV und Blau-Rot-Grün streiten längst nicht mehr darüber, wie sehr sich das Land wandeln soll, sondern nur noch darüber, wer an der Macht sein soll. Wie in jedem demokratischen Staat.“
Vielmehr bedienen sich die aktuellen Regierenden aus der politischen Werkzeugkiste der späten CSV-Staatsideologie. Auch sie verfolgen eine überaus pragmatische Finanz- und Wirtschaftspolitik, die es erlaubt, die hohen sozialen Standards im Land aufrecht zu erhalten und damit dauerhaft eine Mehrheit des Wahlvolkes an sich zu binden. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass keine Partei mehr über einen bis in die kleinsten Strukturen der Gesellschaft reichenden Machtapparat verfügt und damit den politischen Wettbewerb verzerrt.
Der CSV-Staat war auf unbegrenzte Dauer angelegt. Obwohl er lange demokratisch legitimiert wurde, scheiterte er letztlich an den sich wandelnden gesellschaftlichen Realitäten und Milieus. Im Rückblick zeigt sich demnach die Tragweite des Machtwechsels hin zu Blau-Rot-Grün: Die CSV hat nicht nur die Macht verloren, sondern letztlich auch ihre ursprüngliche Daseinsberechtigung. Sie wird sich wohl oder übel an die neue Norm der luxemburgischen Demokratie gewöhnen müssen. Auch für sie gilt, dass die Macht in einem demokratischen Staat nur auf Zeit verliehen wird. Ihr einziger Trost: Für alle anderen Parteien gilt seit jeher das gleiche.