Der Mangel an erschwinglichem Wohnraum verstärkt soziale Ungleichheiten und setzt besonders die junge Generation unter Druck. Experten sind sich einig: Nur zielgerichtete Maßnahmen könnten die Krise lindern. Doch der Spielraum für politische Lösungen schwindet.

Eigentlich ist die Wohngeschichte von Mélanie B. nicht ungewöhnlich für Luxemburg. Die Ergotherapeutin zieht nach dem Studium in Brüssel zunächst in die Schweiz und arbeitet dort ein Jahr. Danach führt ihr Weg zurück nach Luxemburg, wo sie zunächst wieder bei ihrer Mutter einzieht. Mit ein Grund: die hohen Wohnungspreise. „Wenn man aus dem Ausland zurückkommt, ist es schwierig, in Luxemburg Fuß zu fassen, vor allem, wenn man niemanden kennt oder keine Familie hier hat. Wenn ich mir die Kaufpreise ansehe, glaube ich kaum, dass ich mir etwas hätte leisten können,“ erklärt die 27-Jährige.

Ungewöhnlich wird ihre Geschichte erst mit dem nächsten Schritt. Aktuell renoviert die junge Frau ihr altes Elternhaus in Strassen. Das Besondere daran: Auch der Garten drum herum ist eine Baustelle. Denn dort errichten ihre beiden Brüder gleichzeitig jeweils ein Haus. „Wir haben das in der Familie so vereinbart. Ich übernehme das Haus und meine beiden älteren Brüder bauen auf den anliegenden Grundstücken, also dem ehemaligen Garten“, erklärt sie die ungewöhnliche Konstellation.

Die Geschwister aus Strassen wissen, dass das Privileg, auf eigenem Grund bauen zu können, bei Weitem nicht allen Einwohnern des Landes vergönnt ist. Doch das Beispiel steht durchaus sinnbildlich für eine Entwicklung auf dem Luxemburger Immobilienmarkt, die in den offiziellen Statistiken kaum erfasst wird. Denn aufgrund der hohen Immobilienpreise ist vor allem die junge Generation gezwungen, kreativ zu werden und alle Möglichkeiten auszunutzen.

Wohnungsknappheit spitzt sich zu

Auch wer nicht im Garten des Elternhauses bauen kann, sucht nach Alternativen. Dies zeigen unter anderem die Debatten über ein Verbot von Wohngemeinschaften in Esch/Alzette oder den rechtlichen Rahmen von sogenannten „Tiny Houses“. Auch bei anderen alternativen Wohnformen, wie der Idee von Baugenossenschaften, läuft die Politik der Realität oft hinterher. Zum Problem gehört aber auch, dass es keine konkreten Zahlen zu diesen neuen Phänomenen gibt.

Ein Wohnungsmarkt, von dem ein Teil der Bevölkerung ausgeschlossen wird, zementiert die soziale Ungleichheit auf lange Dauer.“Lindsay Flynn, Politologin an der Uni Luxemburg

Diese dunkle Materie einer möglichen Beilegung der Wohnungskrise beschäftigt längst auch die Wissenschaft. „Bei der Wohnungskrise steht meist die Preisentwicklung bei den Immobilien im Mittelpunkt. Eine andere Frage wird dabei jedoch vernachlässigt, jene der Wohnungsknappheit“, sagt Michel-Edouard Ruben im Gespräch mit Reporter.lu. Der Ökonom beschäftigt sich für die „Fondation Idea“, der Denkfabrik der Handelskammer, hauptberuflich mit der Wohnungskrise. Bereits 2019 sorgte der Ökonom mit einer Analyse zur Wohnungsknappheit für Aufsehen. Seine Hauptthese damals: Das Schlimmste stehe Luxemburg bei der Wohnungskrise erst noch bevor, denn bisher sei die Krise von einem Überschuss an Neubauten aus den 1980er und 1990er Jahren abgefedert worden.

„In den Statistiken gibt es ein Paradox“, erklärt Michel-Edouard Ruben. „Zwischen 2010 und 2020 sind 57.000 Haushalte in Luxemburg hinzugekommen, es wurden jedoch nur etwa 40.000 Wohnungen gebaut. Es gibt also ein Defizit und eigentlich müsste die Wohnungskrise viel sichtbarer sein, etwa weil es einen drastischen Anstieg bei der Obdachlosigkeit gegeben hätte. Dem ist aber nicht so“.

Eine mögliche Erklärung dafür sei laut dem Wirtschaftswissenschaftler, dass der Bestand an verfügbaren Wohnungen größer sei als angenommen, weil etwa der Leerstand nicht richtig erfasst wird. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass in bestehenden Gebäuden zusätzlicher Wohnraum geschaffen wurde, etwa durch einen Umbau oder eine Erweiterung. „Das Einzige, was feststeht: Irgendwo müssen diese Leute wohnen“, so Michel-Edouard Ruben.

Eine Krise, die Ungleichheiten zementiert

Eine fast zwangsläufige Folge dieser Entwicklung: Irgendwann sind die Möglichkeiten, im Bestand neuen Wohnraum zu schaffen, aufgebraucht. „Die Frage ist, wie lange der Bestand die hohe Nachfrage noch abschwächen kann. Ist dieser erschöpft, wird sich die Wohnungskrise wohl weiter zuspitzen und vermutlich auch sichtbarer werden“, so der Wirtschaftswissenschaftler. Treffen dürfte diese Entwicklung dann vor allem jene, die gerade erst versuchen, auf dem Immobilienmarkt Fuß zu fassen, also jüngere Generationen.

„Das Einzige, was feststeht: Irgendwo müssen diese Leute wohnen“: Der Ökonom Michel-Edouard Ruben warnt vor einer Zuspitzung der Wohnungskrise. (Foto: Eric Engel)

Zu den Folgen der Krise und der hohen Immobilienpreise forscht auch die Politikwissenschaftlerin Lindsay Flynn. Die gebürtige US-Amerikanerin unterrichtet seit vergangenem Jahr an der Universität Luxemburg. Dort leitet sie auch das vom „Fonds National de la Recherche“ finanzierte „Propel“-Projekt, das soziale Ungleichheiten untersucht. Im Gespräch mit Reporter.lu betont die Politologin die Bedeutung der Wohnungskrise für die Gesellschaft: „Die Wohnungskrise trifft ins Mark des Gesellschaftsvertrags. Denn Immobilienbesitz ist immer auch Vermögen. Ein Wohnungsmarkt, von dem ein Teil der Bevölkerung ausgeschlossen wird, zementiert die soziale Ungleichheit auf lange Dauer.“

In Luxemburg erkennt die Forscherin dabei Trends, die auch in anderen europäischen Ländern oder in Teilen der USA zu finden sind: „Die hohen Mieten machen es jungen Menschen schwer, Rücklagen für einen Immobilienkauf zu schaffen. In Luxemburg geben die unteren Einkommensschichten bereits heute einen hohen Anteil ihres Einkommens fürs Wohnen aus.“ Hinzu komme, dass besonders junge Leute auf die Flexibilität des Wohnungsmarkts angewiesen seien, weil sich ihre Lebenssituation noch häufiger ändert, etwa wenn sie Kinder kriegen, so Lindsay Flynn. Eine Folge davon: Beim Wohnungswechsel gelangen sie durch die steigenden Mieten in eine Mietpreisspirale.

Zielgerichtete Maßnahmen sind gefragt

Massenproteste wie in Spanien oder das erfolgreiche Bürgerbegehren zur Enteignung von Wohnungskonzernen in Berlin zeigen, dass das soziale Problem auch schnell greifbare politische Folgen haben kann. Auch in Luxemburg demonstrierten Ende 2020 Hunderte Menschen für ein Recht auf Wohnen. Inwiefern dadurch der Handlungsdruck auf die Politik tatsächlich steigen kann, ist jedoch von Land zu Land verschieden.

Neben diesen Reaktionen auf die angespannte Lage auf dem Immobilienmarkt gebe es aber auch die weniger sichtbaren Folgen, erklärt die Politologin Lindsay Flynn. „In der EU und den USA gibt es bei jungen Menschen eine Tendenz, später Kinder zu kriegen, eine Entwicklung, die zum Teil auf ihre Wohnsituation zurückgeführt werden kann. Zudem sind sie öfter gezwungen, eine längere Pendlerstrecke in Kauf zu nehmen oder generell eine Wohnung zu akzeptieren, die eigentlich nicht ihren Bedürfnissen entspricht“, erklärt die Wissenschaftlerin der Universität Luxemburg.

Eine Debatte über eine stärkere Unterstützung von Mietern ist dringend notwendig, denn sie sind es, die am meisten unter der Wohnungskrise leiden.“
Michel-Edouard Ruben, „Fondation Idea“

Auf mögliche Lösungsansätze angesprochen, nuanciert Lindsay Flynn zunächst: „Aufgrund der Komplexität der Wohnungsfrage gibt es sicherlich kein Allheilmittel.“ Wichtig sei, dass die Politik einen schärferen Blick darauf werfe, wer am meisten von der Wohnungskrise betroffen sei, und spezifische Maßnahmen ergreife, um jene Gruppen in der Gesellschaft zu unterstützen. Zudem müsse man analysieren, ob bereits bestehende staatliche Hilfen noch zu den politischen Zielen passen. Als konkretes Beispiel nennt die Forscherin die Steuererleichterungen, die es in Luxemburg, wie in vielen EU-Ländern, bei einem Hauskauf gibt: „Man muss sich fragen, ob es noch immer politisch gewollt ist, dass jene, die am meisten für eine Immobilie ausgeben können, zugleich jene sind, die am meisten Unterstützung bekommen.“

Es ist eine Debatte, die auch Guy Entringer, Direktor der „Société Nationale des Habitations à Bon Marché“ (SNHBM), im Gespräch mit Reporter.lu einfordert: „Aktuell können einem die Leute, die keine Wohnung besitzen, nur leid tun. Das Angebot kann die Nachfrage bei weitem nicht decken.“ Um die Nachfrage zumindest teilweise zu regulieren, müsse der Immobilienkauf, besonders für Menschen, die bereits Eigentümer sind, steuerlich weniger attraktiv gemacht werden, fordert er. „Ein Instrument, wie das ‚Amortissement accéléré‘ muss dringend überdacht werden,“ erklärt Guy Entringer. Das Instrument sieht vor, dass Bauträger, die einen Neubau vermieten, die Investitionskosten steuerlich auf die Mieteinahmen geltend machen können.

„Eine Demokratie der Grundbesitzer“

Auch Michel-Edouard Ruben teilt diese Sichtweise. Bereits in seiner Analyse von 2019 warf der Ökonom die Frage auf, ob die zahlreichen steuerlichen Vergünstigungen beim Wohnungskauf noch zielgerichtet seien oder ob man die jährlich mehr als 600 Millionen Euro an Steuergutschriften nicht sinnvoller einsetzen könnte.

Auch rund drei Jahre später steht der Ökonom zu seiner Analyse von damals: „Luxemburg ist immer noch eine Demokratie der Grundbesitzer. Dabei ist eine öffentliche Debatte über eine stärkere Unterstützung von Mietern dringend notwendig, denn sie sind es, die am meisten unter der Wohnungskrise leiden.“ In diesem Zusammenhang weist der Forscher darauf hin, dass nur einer von fünf Haushalten, die eigentlich Anspruch darauf hätten, die staatliche Mietunterstützung auch in Anspruch nimmt.

Der Druck auf den Wohnungsmarkt dürfte indes auch in den nächsten Jahren hoch bleiben. Denn allein die demografische Entwicklung deutet nicht auf einen Rückgang der Nachfrage hin. So geht die Statistikbehörde Statec in ihren jüngsten Prognosen davon aus, dass bis 2026 jährlich mit einer Nettozuwanderung von 10.000 bis 11.000 Personen zu rechnen sei.

Bevorzugung von Eigentümern, Wohnungsknappheit, Mietpreisspirale: Laut den Experten verfestigt die Wohnungskrise die sozialen Ungleichheiten. (Foto: Eric Engel)

Die Zunahme spiegelt sich schon heute in der Nachfrage und auch auf den Wartelisten der SNHBM wider. 7.500 Personen sind aktuell auf der Liste des staatlichen Bauträgers für den Kauf einer Immobilie eingetragen, ein Plus von 1.950 gegenüber dem Vorjahr. Auf eine Mietwohnung warten indes 3.247 Interessenten, auch hier ist es ein Zuwachs von 1.454 im Vergleich zu 2021. Derweil baut die Gesellschaft jährlich rund 300 neue Wohnungen. Das ist zwar deutlich mehr als noch vor wenigen Jahren, als die SNHBM nur rund 50 bis 60 neue Wohnungen auf den Markt brachte. Doch es ist längst nicht genug, um der Nachfrage gerecht zu werden.

Dessen ist sich auch Direktor Guy Entringer bewusst: „Wir geben unser Bestes, aber wir retten natürlich nicht im Alleingang den Wohnungsbau.“ Für die Zukunft wünsche er sich deshalb auch mehr Flexibilität von der Politik: „Man darf nicht immer auf die perfekte Lösung oder das perfekte Grundstück warten, sondern muss mit dem arbeiten, was verfügbar ist. Da wäre auch in den Ministerien mehr Koordination und Handlungswillen gefordert.“

Währenddessen blickt Mélanie B. wohl etwas gelassener in die Zukunft als so manch anderer ihrer Generation. „Ich bin mir bewusst, dass ich Glück hatte und dass andere nicht so privilegiert sind. Vor allem, wenn sie gerade erst in Luxemburg ankommen.“ Auf die zukünftige Nachbarschaft mit ihren Brüdern angesprochen, zeichnet sie indes ein ähnlich nüchternes Bild: „Natürlich überwiegt die Vorfreude, aber gleichzeitig wird es auch eine große Umstellung für uns, auf Dauer so nah nebeneinander zu wohnen.“


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