Die Abgeordneten stellen so viele parlamentarische Anfragen wie nie zuvor. Auf den ersten Blick ist es ein Indiz für ein neues Selbstbewusstsein des Parlaments. Zwischen den Parteien gibt es jedoch klare Unterschiede. Eine wirksame Kontrolle der Regierung hält sich zudem in Grenzen.
Als Lydie Polfer (DP) im Oktober 2018 zum siebten Mal Abgeordnete wurde, konnte sie bereits auf fast 40 Jahre in der Politik zurückblicken. Kurz zuvor hatte sie erneut den Posten der Bürgermeisterin der Stadt Luxemburg übernommen. Zusammengerechnet ergibt das eine Arbeitswoche von 60 Stunden. Im Gespräch mit Reporter.lu sagte die Abgeordnete, es sei eine andere Art zu arbeiten und man könne wegen des Arbeitsaufwandes natürlich nicht an allen Sitzungen teilnehmen.
Der Einfluss dieser doppelten Belastung zeichnet sich in der Tat in der parlamentarischen Arbeit der Abgeordneten ab. Seit Beginn der Legislaturperiode ergriff sie genau zehn Mal während einer Plenarsitzung das Wort, einmal reichte sie eine Motion ein, parlamentarische Anfragen stellte sie keine. Inwiefern sie sich in die Ausschussarbeit einbringt, ist hingegen unklar. Die Ausschusssitzungen sind in der Regel nicht öffentlich und auch die Sitzungsprotokolle geben keine klare Auskunft über die Häufigkeit der Teilnahme der Parlamentarier.
Auch Frank Colabianchi (DP) hat seit seinem Mandatsantritt erst acht Mal im Parlament das Wort ergriffen und genau eine parlamentarische Anfrage gestellt. Der Bürgermeister von Bartringen erkundigte sich nach der Fertigstellung des Fahrradwegs, der durch seine Gemeinde führen soll. Zum Vergleich: Der Vorsitzende der liberalen Fraktion, Gilles Baum, stand mehr als 80 Mal vor dem Rednerpult im Parlament. Doch die liberalen „Députés-Maires“ sind keine Ausnahme. Auch in den anderen Parteien ist die Beteiligung vieler Bürgermeister an der parlamentarischen Arbeit gering.
Doppelmandat als Hindernis
Dass manche kommunalen Mandatsträger ihrem Abgeordnetenmandat nur bedingt gerecht werden können, ist im politischen Betrieb ein offenes Geheimnis. Ihre Kompetenzen bringen sie vor allem im Innenausschuss ein, um Gesetze zur Kommunalpolitik zu beeinflussen, so die Erklärung vieler Betroffenen.
Unter ihnen ist auch Emile Eicher (CSV), der sich in dieser Legislaturperiode nur drei Mal in einer öffentlichen Sitzung zu Wort meldete und knapp elf parlamentarische Anfragen stellte. Felix Eischen (CSV), Bürgermeister von Kehlen, stellte knapp 14 Anfragen und reichte eine Motion ein. Der Abgeordnete erlitt allerdings im vergangenen September einen Burn-out und zog sich deshalb für mehrere Monate aus der aktiven Politik zurück.
Es gibt Abgeordnete, die stellen Fragen, und es gibt die, die auch nach Antworten suchen.“Mars Di Bartolomeo, LSAP-Abgeordneter
Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Georges Mischo (CSV), Dan Biancalana (LSAP) und Marc Lies (CSV) fallen alle durch die hohe Anzahl von schriftlichen Anfragen an die Regierung auf. Dieses bewährte Mittel der parlamentarischen Arbeit ist jedoch nicht zwingend repräsentativ für die tatsächlich geleistete Arbeit. Michel Wolter (CSV), Aly Kaes (CSV) oder Claude Haagen (LSAP) stellen etwa kaum Anfragen an die Regierung. Die Bürgermeister von Käerjeng, Tandel und Diekirch stehen dafür umso öfter am Rednerpult des Parlaments.
Auch Guy Arendt (DP), Tess Burton (LSAP), Chantal Gary und Semiray Ahmedova (beide Déi Gréng) sind als Abgeordnete der Regierungsparteien öfters Berichterstatter von Gesetzesprojekten, wodurch sie auch mehr Redezeit haben. Parlamentarische Anfragen stellen sie dagegen kaum. Die beiden Parlamentarierinnen der Grünen sind allerdings auch erst seit Ende 2019 Mitglied in der Abgeordnetenkammer.
Doch abgesehen von der jeweiligen Nutzung von Anfragen durch Abgeordnete gibt es auch grundlegende Unterschiede zwischen den Parteien. Dies betrifft auch die restlichen Mittel, wie etwa Motionen, Resolutionen und Gesetzesvorschläge, die den Parlamentariern für ihre Arbeit zur Verfügung stehen.
Eine Inflation von Anfragen
Der Sinn einer Anfrage besteht vor allem darin, Informationen zu erhalten, die für die Ausübung der Kontrollfunktion des Parlaments benötigt werden. „Da es noch keinen wissenschaftlichen Dienst im Parlament gibt, müssen wir meist erst über diesen Weg bestimmte Daten anfragen“, sagt Sven Clement im Gespräch mit Reporter.lu. Es sei der erste Schritt, der es erlauben würde, weiterführende Vorschläge auszuarbeiten, so der Abgeordnete der Piraten.
Besonders seit dem Beginn der Pandemie ist dieses Mittel umso wichtiger geworden. Von den 1.575 Anfragen im parlamentarischen Jahr 2019/2020 nahmen 862 Bezug auf die Coronavirus-Pandemie. Neben der Informationsanfrage könne man die Regierung damit aber auch dazu zwingen, in heiklen Dossiers Position zu beziehen, erklärt Sven Clement.
Doch das erklärt nur zum Teil den rasanten Anstieg an parlamentarischen Anfragen. „Natürlich ist es auch ein Mittel, um auf Missstände aufmerksam zu machen und somit etwas Druck auf die Regierung auszuüben“, sagt Martine Hansen (CSV). Die Piraten-Partei und die CSV sind denn auch für den Großteil des Zuwachses an Anfragen verantwortlich. Die größte Oppositionspartei hat in dieser Legislaturperiode bereits 1.300 mündliche und schriftliche Anfragen gestellt. Bei den Piraten sind es mit 770 Anfragen etwas mehr als die ADR-Abgeordneten eingebracht haben. Die ADR hat jedoch doppelt so viele Mitglieder im Parlament.
Der erfahrene Parlamentarier Mars di Bartolomeo (LSAP) erkennt allerdings auch einen inflationären Anstieg bei Anfragen, die nicht zwingend mit einer größeren Wissbegierde der Abgeordneten zu tun hätten. „Es gibt Abgeordnete, die stellen Fragen, und es gibt die, die auch nach Antworten suchen“, sagt der frühere Parlamentspräsident im Gespräch mit Reporter.lu. Die Anfragen dienten immer öfter der öffentlichen Profilierung, da diese auch von den Medien aufgegriffen würden, so Mars di Bartolomeo.
Der mediale Aspekt ist aber nicht das einzige Merkmal. Nicht zuletzt geht es den Abgeordneten auch um den Kern ihres Mandats – die Kontrolle der Regierungsmacht. Es sind denn auch vor allem die Oppositionsparteien, die viele Anfragen, Motionen, Resolutionen und Interpellationen einreichen. Martine Hansen sieht hier vor allem die Koalitionsparteien in der Bringschuld: „Wir brauchen eine richtige Diskussionskultur. Es darf nicht die Aufgabe der Abgeordneten der Mehrheitsparteien sein, die Gesetzesprojekte der Regierung schnellstmöglich durchzuwinken“, so die Fraktionsvorsitzende der CSV.
„Mannschaft stärken und schützen“
Dabei sprechen ausgerechnet die Abgeordneten der Regierungsparteien von einer zunehmenden Stärkung des Parlaments. „Wenn es darum geht, konstruktive Verbesserungsvorschläge zu machen, können wir diese natürlich gerne gemeinsam mit der Opposition ausarbeiten“, sagt Mars di Bartolomeo (LSAP). Doch genau bei diesem Punkt sieht Martine Hansen das Problem. Ein Vorschlag, der nur von der Opposition ausgearbeitet wurde, habe kaum Chancen angenommen zu werden. „Wir fordern eigentlich nur, dass man mit uns gleich umgeht, wie wir mit ihnen. Wir stimmen ja auch für Vorschläge der Mehrheitsparteien, wenn wir diese für gut befinden“, so die CSV-Fraktionschefin.
Die klassische Rollenverteilung im Parlament lässt sich auch leicht in den Anfragen ablesen. Die Anfragen der DP-, LSAP- oder Grünen-Parlamentariern sind in der Regel weniger kritisch und behandeln oft auch Themen abseits der politischen Aktualität. Simone Beissel (DP) hat dagegen eine durchaus bemerkenswerte Definition der Rolle der Mehrheitsvertreter. „Wir haben eine Opposition, die mit vollem Einsatz ständig die nötigen Fragen stellt und die Kontrollfunktion ausführt. Wir versuchen dann unsere Mannschaft zu stärken und zu schützen“, sagte die Abgeordnete vor wenigen Monaten bei „Radio 100,7“. Mit „unserer Mannschaft“ meinte sie die Regierung.
Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in der parlamentarischen Arbeit. Die Regierungsparteien stellen pro Abgeordneten am wenigsten Anfragen, Motionen oder Resolutionen. Wie es aus parlamentarischen Kreisen immer wieder heißt, würden die Anfragen von Politikern der Regierungsparteien zum Teil auch genutzt, um einem Minister die Möglichkeit zu geben, für ein bestimmtes Projekt zu werben.
„Minister haben ausreichend Möglichkeiten, das zu tun, dazu brauchen sie uns nicht“, sagt dagegen Mars di Bartolomeo. Jedoch gibt er zu, dass dies manchmal trotzdem vorkomme, „es ist aber nicht die Regel.“ Dafür sind Abgeordnete von Regierungsparteien als Vorsitzende der Ausschüsse stärker in die Ausarbeitung von Gesetzen eingebunden. Die geringe öffentliche oder mediale Aktivität eines Abgeordneten bedeute demnach nicht, dass sie sich nicht in die parlamentarische Arbeit einbringen, so der mehrfache Berichterstatter der Covid-19-Gesetze.
Hürden der konstruktiven Opposition
„Es hängt allerdings vom jeweiligen Ausschussvorsitzenden ab, wie viel man auf die Vorschläge der Opposition eingeht“, sagt Sven Clement. Wenn die Regierung nicht vorhabe, Änderungen anzunehmen, sei es am jeweiligen Vorsitzenden, das Gesetz schnellstmöglich zu verabschieden, schildert der Piraten-Abgeordnete seine Erfahrung.
Demnach ist der von Regierungsseite immer wieder hörbare Ruf nach einer konstruktiven Zusammenarbeit durch die Opposition oft ein scheinheiliges Manöver. In der Praxis werden die meisten Initiativen der Oppositionsparteien abgeschmettert. Wenn allerdings parteiübergreifend an Texten gearbeitet wird, ist dies für die Öffentlichkeit oft nicht ersichtlich, da die Sitzungen der parlamentarischen Ausschüsse nicht öffentlich sind.
Die Aufgabe der Abgeordneten der Mehrheitsparteien ist nicht, die Gesetzesprojekte der Regierung schnellstmöglich durchzuwinken.“Martine Hansen, CSV-Fraktionsvorsitzende
Auch aus diesem Grund setzen Oppositionspolitiker vermehrt auf Motionen. Es handelt sich dabei um Aufforderungen an die Regierung, in einem bestimmten Bereich zu handeln. Die CSV hat in dieser Legislaturperiode bis jetzt 182 Motionen eingereicht, alle andere Parteien haben zusammen nur vier Motionen mehr im Parlament vorgelegt. Immerhin 43 der Motionen der CSV nahm das Parlament an. Auch bei den anderen Oppositionsparteien ist die Erfolgsquote vergleichbar.
Eigene Gesetzesvorschläge sind allerdings selten. In dieser Legislaturperiode reichten die Piraten neun, die ADR vier, die Linke drei und die CSV 25 eigene Gesetzesvorschläge ein. Der Aufwand, neue Vorschläge auszuarbeiten, ist dabei enorm. „Wir dürfen nicht daran denken, wie viel Arbeit das bedeutet und wie selten die Texte verabschiedet werden. Sonst machen wir als Oppositionsparteien gar keine Vorschläge mehr“, sagt Martine Hansen.
Auch aus diesem Grund bleiben die Anfragen das beliebteste Mittel. Die Oppositionspolitiker können sich wenigstens sicher sein, eine Antwort zu erhalten. Dies ist bereits mehr als bei manchen Gesetzesvorschlägen, die gar nicht erst diskutiert werden. Das Ergebnis in der Sache ist jedoch oftmals das gleiche.
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