Die Pandemie stellt die Luxemburger Demokratie auf die Probe. Das Personal der Institutionen arbeitet seit Monaten an der Grenze der Belastbarkeit. Im Fall des Parlaments und des Staatsrats wird dabei deutlich: Der Parlamentarismus ist nicht erst seit dieser Krise überfordert.

Vor gut einer Woche war es ein kleiner Punkt auf der Tagesordnung eines informellen Gremiums im Parlament: das Wohlbefinden des Personals. Der Arbeitsaufwand der vergangenen Monate geht offenbar nicht spurlos an den Angestellten der Abgeordnetenkammer vorbei. Entsprechende Klagen von einzelnen Mitarbeitern wurden auch an die Abgeordneten herangetragen. Die internen Diskussionen dazu sind aber nur ein Indiz dafür, dass das Parlament seiner Kontrollfunktion seit Beginn der Krise kaum noch gerecht werden kann.

„Das Personal war sich von Anfang an bewusst, dass es nicht nur um die Gesundheit, sondern auch um die Demokratie geht“, sagt Laurent Scheeck im Gespräch mit Reporter.lu. Der Arbeitsaufwand zur parlamentarischen Bewältigung der Pandemie sei enorm, erzählt der Generalsekretär der Abgeordnetenkammer. „Am Anfang hatten wir noch einen Adrenalinschub, mittlerweile ist die Müdigkeit jedoch bei jedem zu spüren.“

Hohe Belastung wird zur Regel

Vor allem im vergangenen Juni sei die Belastung stark angestiegen. Mit dem Ende des „Etat de crise“ mussten die verschiedenen Verordnungen im Eiltempo als Gesetz verabschiedet werden.  „Manchmal kriegt man keine Luft zum Durchatmen mehr“, sagt Mars di Bartolomeo im Gespräch mit Reporter.lu. Als Vorsitzender des Gesundheitsausschusses war der LSAP-Politiker bereits neun Mal Berichterstatter einer Novelle der sogenannten Covid-Gesetzgebung.

Doch nicht nur für die Abgeordneten bleibt die Pandemiebewältigung eine große Herausforderung. So wird die hohe Belastung des vergangenen Jahres allmählich zur Regel. Homeoffice, Kinderbetreuung und Videokonferenzen machen die Arbeit der Verwaltung im Alltag nicht leichter.

Früher wurde immer gesagt: Demokratie braucht Zeit. Zurzeit sind wir allerdings mit einem TGV-Tempo unterwegs, ohne die Schienen dafür gelegt zu haben.“Laurent Scheeck, Generalsekretär des Parlaments

Bei aller Arbeitslast ist die Belegschaft aber auch stolz darauf, dass der parlamentarische Betrieb aufrecht erhalten werden konnte. So lässt sich im Gespräch mit Mitarbeitern des Parlaments stets ein gewisser Idealismus heraushören, wonach sie nicht nur ihren Job machen, sondern letztlich die Funktionsfähigkeit der Luxemburger Demokratie sicherstellen.

Verzögerungen werden größer

Mit dem Fortschreiten der Pandemie zeigt sich jedoch immer deutlicher: Eigentlich ist Luxemburgs Parlament gegen solche Krisensituationen nicht gewappnet. „Früher wurde immer gesagt: Demokratie braucht Zeit. Zurzeit sind wir allerdings mit einem TGV-Tempo unterwegs, ohne die Schienen dafür gelegt zu haben“, sagt Laurent Scheeck.

Damit meint der Chef der Parlamentsverwaltung den chronischen Personalmangel seiner Institution. Lediglich 19 Referenten sind für insgesamt 24 Ausschüsse zuständig, Unterausschüsse nicht inbegriffen. Bis vor wenigen Wochen arbeitete die Sekretärin des Gesundheitsausschusses zusätzlich noch für den Landwirtschaftsausschuss. Um die Mitarbeiterin zu entlasten, sprang mehrmals der Leiter der Ausschussabteilung ein.

Auch knapp ein Jahr nach dem Beginn der Pandemie arbeiten viele der Mitarbeiter der Parlamentsverwaltung im Homeoffice. (Foto: Eric Engel)

Die Folge lässt sich leicht veranschaulichen: Schon in normalen Zeiten hinkt die Verwaltung in ihrer Arbeit oft genug dem parlamentarischen Geschehen hinterher. Bis das Protokoll einer Ausschusssitzung auf der Webseite der „Chamber“ veröffentlicht wird, können schon einmal mehrere Monate vergehen.

In dieser Krise spitzt sich die Lage jedoch zu. Wiederholt kam es vor, dass Ausschussprotokolle erst publik wurden, nachdem ein Gesetz bereits verabschiedet worden war. Damit ist die Nachvollziehbarkeit der Arbeit in den Ausschüssen für die Öffentlichkeit nicht mehr gegeben – ein Defizit, das den Abgeordneten und den Mitarbeitern natürlich bewusst ist.

Chronisch unterbesetzte Verwaltung

„Die parlamentarische Arbeit verläuft in Wellen, vor den Winter- und Sommerferien müssen oft mehrere Texte unter hohem Zeitdruck verabschiedet werden. Die Verwaltung nutzt die anschließenden Ferien, um mögliche Rückstände aufzuholen“, beschreibt Mars di Bartolomeo den üblichen Ablauf der Arbeit im Hintergrund. In normalen Zeiten wäre die Arbeit also durchaus zu stemmen, so der ehemalige Parlamentspräsident. Jedoch führt diese Vorgehensweise notgedrungen immer wieder zu Verzögerungen.

Obwohl die Verwaltung im letzten Jahrzehnt vergrößert wurde, bleibt sie selbst unter Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße im Vergleich zu anderen Parlamenten zu klein.“Philippe Poirier, Politologe an der Uni Luxemburg

Dass es auch anders geht, zeigen die Nachbarstaaten. In Belgien oder Frankreich werden die Berichte des Ausschusses innerhalb weniger Tage nach der Sitzung veröffentlicht. Währenddessen veröffentlicht der Deutsche Bundestag innerhalb von einer Woche vorläufige Protokolle von Plenarsitzungen und spätestens nach einem Monat Berichte von öffentlichen Ausschusssitzungen.

„Obwohl die Verwaltung im letzten Jahrzehnt vergrößert wurde, bleibt sie selbst unter Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße im Vergleich zu anderen Parlamenten zu klein“, sagt der Politologe Philippe Poirier im Gespräch mit Reporter.lu.

Zum Vergleich: Alleine die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags beschäftigen mit rund 100 Mitarbeitern mehr Personal als die gesamte Verwaltung des Luxemburger Parlaments. Zum Vergleich in ähnlicher Größenordnung: Mit seinen 51 Abgeordneten ist der saarländische Landtag geringfügig kleiner als das luxemburgische Parlament. Die Verwaltung ist jedoch etwa gleich groß. In Luxemburg zählt sie 90, im Saarland insgesamt 85 Mitarbeiter. Allerdings ist der Arbeitsumfang eines Regionalparlaments nicht mit einem nationalen Parlament vergleichbar.

Staatsrat offensichtlich überfordert

Lange wurde dies allerdings nicht als Problem anerkannt. „In mehrerer Hinsicht dominiert das Prinzip: Es war schon immer so, also ist es auch gut“, sagt ein Verwaltungsmitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden will. Erst durch die Krise sei für jeden offensichtlich geworden, dass die Situation eigentlich nicht länger tragbar sei. Jedoch ist das Parlament nicht die einzige Institution, auf die diese Einschätzung zutrifft.

Der Staatsrat ist nicht in der Lage, mit der nötigen Sorgfalt und Ausführlichkeit alle rechtlichen Auswirkungen der Maßnahmen zu bewerten.“Gutachten des Staatsrats zur Covid-Gesetzgebung

Im Staatsrat wurde im Frühjahr ein spezieller Covid-Ausschuss gegründet. „Einer unserer Sekretäre ist nun zusätzlich für diesen Sonderausschuss zuständig“, erklärt die Präsidentin des Staatsrats, Agnès Durdu im Gespräch mit Reporter.lu. Dabei wurde auch die Verwaltung der hohen Körperschaft personell kontinuierlich aufgestockt. Innerhalb von acht Jahren hat sich das Personal verdoppelt. Heute beschäftigt die Verwaltung des Staatsrats insgesamt 25 Mitarbeiter.

Trotz erheblicher Aufstockung des Personals stößt auch der „Conseil d’Etat“ in der gesetzgeberischen Bewältigung der Corona-Krise an die Belastungsgrenze. (Foto: Eric Engel)

Dennoch reicht die zusätzliche Unterstützung in der Krise nicht aus. „Der Staatsrat ist nicht in der Lage, mit der nötigen Sorgfalt und Ausführlichkeit alle rechtlichen Auswirkungen der Maßnahmen zu bewerten“, schreibt das beratende Gremium in seinem letzten Gutachten über das Covid-Gesetz.

Es ist im Grunde ein Offenbarungseid des parlamentarischen Systems. Zudem ist es nicht das erste Mal, dass die hohe Körperschaft den Zeitmangel anprangert. „Normalerweise können wir uns auf die Gutachten der verschiedenen Arbeitskammern oder auch der Datenschutzkommission berufen. Doch dafür reicht die Zeit nicht mehr aus“, erklärt die Präsidentin des Staatsrates. Auch sei es nicht hilfreich, dass die meisten Mitglieder des Staatsrates ihr Mandat nebenberuflich ausüben, so Agnès Durdu. Auch dies ist ein Problem, das die Institution mit dem Parlament teilt.

„Super-rationalisierter Parlamentarismus“

Für Philippe Poirier trägt das dazu bei, dass die Parlamentarier ein falsches Selbstverständnis entwickelt haben, das auch durch eine personelle Aufstockung nicht so einfach behoben werden könne. Das luxemburgische System sei ein „super-rationalisierter Parlamentarismus“, meint der Politikwissenschaftler. Demnach bestimme die Regierung die parlamentarische Tagesordnung, schreibe die Gesetze und die Abgeordneten der Regierungsparteien seien vor allem eines: Mehrheitsbeschaffer.

„Die Regierung hat das Parlament nie dazu gezwungen, ihre eigene Macht einzuschränken. Das Parlament hat den Etat de crise und den darauffolgenden Arbeitsrhythmus selbst hingenommen“, erklärt Philippe Poirier. Das heiße allerdings nicht, dass die Abgeordneten sich zurückgelehnt hätten, im Gegenteil. „Die parlamentarische Arbeit ist explodiert. Noch nie wurden so viele parlamentarische Anfragen gestellt und Informationen eingefordert“, sagt Philippe Poirier. Zwar konnten die Abgeordneten ihrer Kontrollfunktion durch den „Etat de Crise“ und den jetzigen Arbeitsrhythmus nicht gerecht werden, aber dafür seien sie umso informierter, so der Politologe.

Die Pandemie führte nicht nur zu einer deutlichen Mehrbelastung der Verwaltungen, sondern legte auch strukturelle Defizite des Luxemburger Parlamentarismus offen. (Foto: Eric Engel)

Die strukturellen Probleme, wie etwa Zeit- und Personalmangel, gekoppelt mit dem Teilzeitmandat und dem mangelnden Selbstbewusstsein der Abgeordneten führten laut Philippe Poirier dazu, dass die Volksvertreter gar nicht in der Lage seien, Alternativen zu den Regierungsvorschlägen auszuarbeiten. Eine Diskussion über das Statut des Abgeordneten sei deshalb angebracht, so der Politologe. Die Debatte über die Abschaffung der Doppelmandate läuft allerdings seit Jahren ohne Fortschritte.

Parlament will sich professionalisieren

Bis zur Lösung des strukturellen Defizits will die Abgeordnetenkammer aber zumindest den Personalmangel in Angriff nehmen. Vier weitere Ausschusssekretäre sollen demnächst eingestellt und die Ausschussabteilung soll umstrukturiert werden. Ein Pool von Mitarbeitern soll demnach für mehrere Ausschüsse zuständig sein und sich somit je nach Arbeitsumfang gegenseitig aushelfen können. Zusätzlich will der Generalsekretär zwei weitere Abteilungen schaffen. Dazu gehört ein wissenschaftlicher Dienst, der die Parlamentarier fachlich beraten soll. Die vorerst drei Doktorandenstellen der Abteilung wurden bereits ausgeschrieben.

Die Perfektion ist nicht für Menschen. Wenn uns wirklich etwas entgehen sollte, können die Gerichte es immer noch richten.“Agnès Durdu, Präsidentin des Staatsrats

Zudem forderte Laurent Scheeck vor einem Jahr in seinem Bewerbungsschreiben für den Posten des Generalsekretärs die Schaffung einer Legistik-Abteilung, die sich mit der formalen Gestaltung und Sprache von Gesetzentwürfen beschäftigen soll. Es ist eine Disziplin, die bisher exklusiv vom Staatsrat ausgeübt wird. Allerdings handelt es sich zumindest bei diesem Projekt noch um Zukunftsmusik. Der wissenschaftliche Dienst wurde noch unter Laurent Scheecks Vorgänger, Claude Frieseisen, ausgearbeitet und soll erst in den nächsten Monaten funktionsfähig werden. Bis dahin wird sich die Arbeit der Verwaltungen und der Abgeordneten wohl kaum ändern.

Für die Betroffenen sei das aber nicht zwingend ein Problem. Es bleibe hart, doch „wir schaffen das“, lautet das Credo der Mitarbeiter. Im Staatsrat sieht man es gelassener. „Die Perfektion ist nicht für Menschen. Wenn uns wirklich etwas entgehen sollte, können die Gerichte es immer noch richten“, sagt Agnès Durdu.


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