Der Premier bringt in einem Interview einen neuen „Etat de crise“ ins Spiel und droht damit offen mit der Entmachtung des Parlaments. Dabei zeigt sich gerade in dieser Phase der Pandemie, wie wichtig die parlamentarische Demokratie und eine wirksame Kontrolle der Regierung ist. Eine Analyse.

Wenn das Parlament die Vorschläge der Regierung nicht zügig umsetze, dann „müssen wir über einen Etat de crise diskutieren“, sagte Xavier Bettel (DP) am Wochenende im Interview mit „Radio 100,7“. Hintergrund dieser Aussage ist der Plan der Regierung, am Mittwoch womöglich neue Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie zu beschließen. Das Parlament und der Staatsrat hätten zwar in den vergangenen Wochen bewiesen, dass sie innerhalb von zwei oder drei Tagen ein Gesetz verabschieden können, erklärte der Premier. Sollte das aber nicht mehr der Fall sein, dann könnte wieder ein verfassungsmäßiger Ausnahmezustand angestrebt werden.

Die Aussage des Regierungschefs ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst kann ein „Etat de crise“ laut Artikel 32(4) der Luxemburger Verfassung maximal drei Monate dauern. Diese Zeitspanne ist mit der ersten Phase der Pandemie von Mitte März bis Mitte Juni bereits abgelaufen. Verfassungsexperten sind der Auffassung, dass man laut dem Grundgesetz nur einen „Etat de crise“ für die gleiche Krise verhängen kann.

Die Regierung kann den Notstand auch nicht einfach dekretieren, wenn ihr danach ist. Das Parlament müsste laut der Verfassung außerstande sein, in angemessener Zeit zu handeln. Ein politischer Ausnahmezustand, der über zehn Tage hinausgeht, muss zudem mit Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossen werden. Die Koalition ist in diesem Punkt also auf die Opposition angewiesen.

Bedenkliches Demokratieverständnis

Problematisch ist die Aussage von Xavier Bettel aber noch aus einem weiteren Grund. Denn sie lässt tief in das Demokratieverständnis des Premierministers blicken. Parlament und Staatsrat müssen das, worauf sich die Regierung geeinigt hat, schnell umsetzen, meint der Premier. Ohne Übertreibung lässt sich diese Auffassung als latent antidemokratisches Denken bezeichnen. Demokratie heißt nämlich nicht, dass der Premier entscheidet und sich alle anderen danach zu richten haben. Weder der Staatsrat noch das Parlament als einzige unmittelbar vom Volk legitimierte Institution, sind dazu da, den Willen der Exekutive abzusegnen und nur noch demokratisch zu legitimieren.

Das Argument, wonach die parlamentarische Demokratie einer effizienten Pandemiebewältigung im Weg steht, wurde mehrmals empirisch widerlegt.“

In der Praxis sind die Mehrheiten im Parlament natürlich bis zu einem gewissen Grad der verlängerte Arm der Regierung. Nur selten stellen sich die Abgeordneten einer parlamentarischen Mehrheit dem Willen der Exekutive in den Weg. Doch letztlich haben sie laut Grundgesetz die Verantwortung und das freie Mandat, die ansonsten durch nichts wirksam eingeschränkte Ausübung der Macht durch die Regierung zu kontrollieren. „La Chambre des Députés représente le pays. Les députés votent sans en référer à leurs commettants et ne peuvent avoir en vue que les intérêts généraux du Grand-Duché“, heißt es hierzu in der Luxemburger Verfassung.

Die Allmacht der Exekutive ist vorbei

Nun lässt sich nicht abstreiten, dass sich das Land seit März dieses Jahres in einer außergewöhnlichen Lage befindet. Um schnell auf die Entwicklung der Pandemie reagieren zu können, kommt der Regierung eine noch wichtigere Rolle zu als ohnehin schon. Nach dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie stellte auch nahezu niemand in Frage, dass in der damals allgegenwärtigen Unsicherheit die parlamentarisch-demokratischen Standards per „Etat de crise“ vorübergehend außer Kraft gesetzt werden sollten. Die Abgeordnetenkammer bevollmächtigte die Regierung damals einstimmig, während drei Monaten per Notverordnungen zu regieren.

Doch der „Etat de crise“ und damit die Allmacht der Exekutive ist bereits seit mehreren Monaten Geschichte. Alle Institutionen haben sich an die neue Situation angepasst. Mittlerweile bewiesen Parlament und Staatsrat mehrmals, dass sie auch im normalen Gesetzgebungsmodus zu schnellem Handeln fähig sind. Mehrere Reformen der sogenannten Covid-Gesetze wurden nach regulären Gutachten und Debatten jeweils innerhalb weniger Tage verabschiedet. Das Argument, wonach die parlamentarische Demokratie einer effizienten Pandemiebewältigung im Weg steht, wurde also mehrmals empirisch widerlegt.

Dagegen erhärtet sich nun der Eindruck, wonach die Regierung dem Konzept des politischen Ausnahmezustandes nachtrauert. Die Minister von DP, LSAP und Déi Gréng akzeptieren zwar die parlamentarischen Spielregeln, weil ihnen letztlich nichts anderes übrig bleibt. Doch die Protagonisten der Koalition unterschätzen mittlerweile wie fundamental wichtig es ist, ihre Politik und mögliche neue Maßnahmen in dieser Pandemie immer wieder, möglichst konkret und mit stichhaltigen Argumenten zu begründen.

Regierung verschleiert eigene Verantwortung

Auch in der vergangenen Woche verabschiedete das Parlament die von der Regierung vorgeschlagenen Anpassungen im Schnelldurchgang. Am Montag wurde das neue Gesetz zur nächtlichen Ausgangssperre in die Abgeordnetenkammer eingebracht, erst am Dienstag konnte sich der Staatsrat mit dem Text befassen, am Donnerstag wurde die Reform nach einer Debatte im Plenum beschlossen. Wenn man weiß, dass die Institutionen im Normalfall für die Beratung und Verabschiedung vergleichbarer Gesetzvorschläge mehrere Wochen brauchen, sind drei oder vier Tage eine sehr kurze Zeit. So kurz, dass man durchaus in Frage stellen kann, ob diese Frist für eine angemessene Überprüfung der durchaus komplexen legislativen Materie ausreicht.

Nimmt man den Premier beim Wort, dann zündelt er gerade am Fundament der Luxemburger Demokratie.“

Als wäre die Lage nicht schon angespannt genug, erhöht der Premier nun den Druck auf das Parlament, indem er für den Fall von neuen Restriktionen mit einem weiteren „Etat de crise“ droht. Dabei verschweigt Xavier Bettel freilich, dass bei der rezenten Reform nicht nur das Parlament oder der Staatsrat für eine Verzögerung verantwortlich waren, sondern die Regierung selbst mindestens genauso. Erst am vorletzten Freitag kündigte der Premier an der Seite von Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) die neuen Maßnahmen an. Der entsprechende Gesetzestext wurde jedoch erst über das Wochenende ausgearbeitet und am folgenden Montag im Kabinett gebilligt.

Demokratie, Debattenkultur und Gemeinwohl

Im Rückblick und angesichts der vorliegenden epidemiologischen Daten drängt sich zudem die Frage auf, ob die Regierung nicht bereits früher hätte handeln können. Man habe erst reagiert, als die Zahlen „im roten Bereich“ lagen, räumte der Premier im gleichen Interview mit „Radio 100,7“ am Samstag ein. Das heißt letztlich: Hätte man diese Verschlechterung der Lage antizipiert und die Beamtenschaft früher auf Anpassungen vorbereitet, hätte die Regierung schneller handeln können. Hätte man zumindest verschiedene Reformkonzepte bereits in der Schublade gehabt, müsste man jetzt die Verantwortung für eventuell verlorene Zeit nicht dem parlamentarischen System in die Schuhe schieben.

Anstatt in einer andauernden Krise den Zusammenhalt aller politischen Kräfte zu stärken, setzt der Premier auf Spaltung und die Förderung der eigenen politischen Agenda.“

Xavier Bettels Drohung mit einem neuen „Etat de crise“ erscheint somit nicht nur als demokratisch fragwürdig, sondern auch taktisch begründet. Zudem ist es nicht das erste Mal, dass der Premier den interinstitutionellen Frieden gefährdet. Schon im Sommer legte der Regierungschef dem Staatsrat nahe, einen von der Regierung unterbreiteten Vorschlag zur Pandemiebekämpfung schnellstmöglich durchzuwinken. Jetzt versucht Bettel in der Öffentlichkeit vollends den Eindruck zu erwecken, als ob die parlamentarische Demokratie einer wirksamen Krisenbewältigung schaden würde. Nimmt man den Premier beim Wort, dann zündelt er gerade am Fundament der Luxemburger Demokratie.

Dabei zeigen die vergangenen Wochen, dass das Parlament auch, ja besonders in einer Pandemie ohne absehbares Ende eine wichtige Rolle spielt. Die Volksvertreter sind nicht nur dazu da, den Entscheidungen der Regierung Legitimität zu verleihen. Sie sind zum großen Teil die Garanten einer politischen Debatte. Die Bürger haben ein Recht darauf, dass in dieser Debatte nicht nur die Regierungssicht vorkommt, sondern auch eine kontroverse Diskussion über den richtigen Weg aus der Pandemie stattfindet.

Die Parlamentarier sind zudem – wie auch die Medien – dazu verpflichtet, die Handlungen der Exekutive kritisch zu überprüfen und somit eventuelle Fehler oder Versäumnisse in einer öffentlichen Debatte überhaupt sichtbar zu machen. Ein prinzipielles Missverständnis besteht dabei darin, dass eine solche kritische Debattenkultur immer zu Lasten der Regierung ausgehen muss. Im Gegenteil liegen konstruktive Kritik sowie möglichst hochwertige, wirkungsvolle und in der gesamten Bevölkerung anerkannte Gesetze letztlich auch im Interesse der Regierenden.

Dem Parlament fehlt es an Selbstbewusstsein

Gleichzeitig deutet das problematische Demokratieverständnis des Premiers aber auf ein grundlegendes Defizit hin. Dass die Abgeordneten die Regierung nicht ausreichend kontrollieren, liegt nämlich auch an einer chronischen Schwäche des parlamentarischen Systems in Luxemburg. Dass die allermeisten Gesetze in den Ministerien geschrieben werden und dem Parlament eine vergleichbare Personaldecke zur Durchdringung der Materie fehlt, ist dabei noch nicht einmal das größte Problem. Gerade in den vergangenen Monaten zeigte sich mehrmals, dass Unstimmigkeiten in den Gesetzestexten, die den Autoren hätten auffallen können, erst bei den Beratungen im Parlament überhaupt thematisiert wurden.

Spätestens jetzt dürfte klar sein, dass nicht die parlamentarisch-demokratische Normalität der Bewältigung der Krise im Weg steht, sondern eine immer wieder überforderte Regierung.“

Es geht vielmehr um ein mangelndes (demokratisches) Selbstbewusstsein der Volksvertreter. Viele Koalitionspolitiker trauen sich nicht einmal hinter verschlossenen Türen der Regierung zu widersprechen. Manche Abgeordnete verschmelzen regelrecht mit der Regierungsmeinung, was dazu führt, dass das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltentrennung allmählich aufgeweicht wird. Auch die Opposition verliert sich oft genug in Schaukämpfen anstatt sich auf die harte Kontrolle der Exekutive auf der Sachebene zu konzentrieren. In diesem Sinn hat eine Regierung natürlich leichtes Spiel, um auch ohne „Etat de crise“ durchzuregieren und im Zweifel dem Parlament den schwarzen Peter zuzuschieben.

Und doch bleibt das Demokratieverständnis von Xavier Bettel bemerkenswert. Die Worte des Regierungschefs betonen und vertiefen nicht nur das grundsätzliche Parlamentarismus-Defizit. Sie beschwören eine völlig unnötige, potenziell schädliche institutionelle Auseinandersetzung herauf. Anstatt in einer andauernden Krise den Zusammenhalt aller politischen Kräfte zu stärken, setzt der Premier auf Spaltung und die Förderung der eigenen politischen Agenda.

Wie viel Demokratie verträgt eine Pandemie? Spätestens jetzt dürfte klar sein, dass nicht die Gewaltentrennung oder die parlamentarisch-demokratische Normalität der Bewältigung der Krise im Weg steht, sondern eine immer wieder überforderte Regierung, die wertvolle Zeit verliert und dazu noch unnötige Nebenkrisenschauplätze eröffnet. Spätestens jetzt wird offensichtlich, dass sich nicht weniger, sondern mehr (parlamentarische) Demokratie aufdrängt.