Luxemburg befindet sich im Ausnahmezustand – jetzt auch ganz offiziell. Um die Coronavirus-Pandemie zu bewältigen, hat die Regierung den laut der Verfassung vorgesehenen „Etat de crise“ ausgerufen. Ein drastischer Schritt, dessen praktische Wirkung begrenzt ist.
Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, heißt das Sprichwort. In Zeiten der Coronavirus-Krise wird es zunehmend zur politischen Realität. In Etappen brachte die Regierung seit vergangener Woche mehrere Maßnahmen auf den Weg, die eine weitere Ausbreitung der Pandemie in Luxemburg zumindest verzögern sollen. Mit dem internationalen Fortschreiten des Virus wurde die Vorgehensweise immer drastischer.
Am Dienstag teilte Premierminister Xavier Bettel (DP) im Parlament mit, dass die Regierung den Ausnahmezustand („Etat de crise“) ausrufen will. Laut Artikel 32(4) der luxemburgischen Verfassung kann die Exekutive diesen Schritt im Fall einer internationalen Krise oder der Gefährdung der Bevölkerung bzw. der öffentlichen Sicherheit einleiten. Der Premier begründete diese Entscheidung mit der außergewöhnlichen sanitären Krise des Coronavirus – einer Situation, wie sie das Land noch nie gekannt habe.
Mit diesem Schritt gibt sich die Regierung die Möglichkeit, in allen Bereichen Verordnungen zu erlassen, die auch geltenden Gesetzen zuwiderlaufen können. Konkret heißt das: Die Regierung kann fortan ohne Zustimmung des Parlaments Akte mit Gesetzesrang verabschieden. Dringende Maßnahmen zur Beilegung der aktuellen Krise können so schneller umgesetzt werden als über den ordentlichen Weg der Gesetzgebung.
Ein Zustand mit beschränkter Wirkungskraft
Allerdings gibt es eine wichtige Einschränkung, wie der Verfassungsrechtsexperte Luc Heuschling im Interview mit REPORTER betont: Die Verordnungen der Regierung müssen laut der Verfassung notwendig, angemessen und verhältnismäßig sowie mit dem Grundgesetz und internationalen Verträgen vereinbar sein. Das sei keine Floskel, sondern könnte im Zweifelsfall die Gerichte beschäftigen. Zudem ist der Ausnahmezustand zeitlich begrenzt: Zunächst auf zehn Tage. Danach kann die Abgeordnetenkammer die Phase des „Etat de crise“ verlängern, maximal um drei Monate.
Die Regierung will sich hier rechtlich lieber etwas besser absichern.“Alex Bodry, Ex-Präsident der Verfassungskommission
Die Parteien haben sich bereits darauf verständigt, dass man diesen Weg der maximalen Dauer des Krisenzustands beschreiten will. Demnach muss das Parlament nach zehn Tagen nochmals tagen, um die Verlängerung des Ausnahmezustands mit einer Zweidrittelmehrheit zu beschließen. „Wir stehen hinter der Entscheidung der Regierung, den Krisenzustand auszurufen“, sagt Oppositionsführerin Martine Hansen auf Nachfrage von REPORTER. Die Exekutive müsse zur Not schnell und effizient handeln, um die Coronavirus-Krise zu bewältigen, so die CSV-Fraktionschefin.
Rein rechtlich ist die Vorgehensweise der Regierung zulässig, sagt Luc Heuschling. Die internationale Coronavirus-Krise und die möglichen Folgen für Luxemburg würden unter den Notstandsartikel der Verfassung fallen. Allerdings stelle sich die Frage, ob dieser Artikel in einer wirklich akuten Krise überhaupt weiterhelfen kann, so der Verfassungsrechtler. „Wenn Cattenom explodiert, hilft uns der rechtliche Ausnahmezustand auch nicht weiter“, so Heuschling. Und auch bei einer Eskalation der sanitären Lage der Covid-19-Pandemie, in der eine gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung nicht mehr garantiert sei, würde die rechtliche Flexibilität des „Etat de crise“ allein die Lage nicht unbedingt verbessern.
Mehr Rechtssicherheit als oberste Maxime
Laut Alex Bodry, dem ehemaligen Präsidenten der Verfassungskommission im Parlament, liegt der eigentliche Grund für den Schritt der Regierung aber ohnehin woanders. „Es geht um Handlungsfähigkeit und Rechtssicherheit“, so der frühere LSAP-Abgeordnete. Letzteres sei aktuell wohl die wichtigste Motivation für diesen außergewöhnlichen Schritt, meint Bodry im Gespräch mit REPORTER. Denn die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie würden juristisch auf wackligen Füßen stehen.
Konkret: Die ministerielle Verordnung, die die Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) am Montag verabschiedete, beinhaltet eine Reihe von mitunter weitreichenden Maßnahmen. Darunter ausdrücklich Verbote für Unternehmen und Einschränkungen der Handlungsfreiheit für die Bürger. Die Verordnung bezieht sich auf ein Gesetz aus dem Jahre 1885, dessen Gültigkeit für eine Krise 130 Jahre später als umstritten gelten kann. „Die Regierung will sich hier rechtlich lieber besser absichern“, so Alex Bodry.

Demnach sieht Bodry es auch als wahrscheinlich an, dass die Regierung als einen der ersten Schritte im „Etat de crise“, die gleichen Maßnahmen vom Montag noch einmal per Verordnung beschließt und präzisiert. Damit hätte man zum einen mehr Rechtssicherheit. Zum anderen könnte man aber weitere Maßnahmen ohne Verweis auf die veraltete Gesetzeslage zügig verabschieden, so die Einschätzung von Alex Bodry, der übrigens 2017 Berichterstatter der Reform des Verfassungsartikels 32(4) war.
Laut Martine Hansen sei sie gemeinsam mit den Fraktionschefs der anderen Parteien am Dienstagvormittag vom Premier über die Absicht der Regierung informiert worden. Erste Verordnungen, die das Kabinett im „Etat de crise“ als notwendig ansieht, habe man jedoch noch nicht besprochen. Sie könne sich vorstellen, dass es sich um eine mögliche Verschärfung der Ausgangssperre oder schnelle, unbürokratische Beihilfen für Unternehmen handelt, so die CSV-Fraktionsvorsitzende. Laut Staatsminister Xavier Bettel will man das Parlament in Kenntnis setzen, sobald die Regierung eine Notverordnung plant.
Verfassung kennt mehr Krisen als früher
Die besagte Verfassungsreform wurde im Juli 2017 vom Parlament beschlossen. Der Hintergrund war damals die Terrorgefahr angesichts wiederholter Anschläge von islamistischen Terroristen in Luxemburgs Nachbarstaaten. Bis zur Reform sah die Verfassung einen Ausnahmezustand ausdrücklich nur für internationale Krisen vor. Das beschränkte sich nicht nur auf den Fall eines Krieges. Während der Finanzkrise wurde dieser Notstandsartikel etwa genutzt, um der Rettung der „Dexia“-Bank eine Rechtsgrundlage zu verschaffen.
Es ist ein absolut außergewöhnliches Instrument. Ein Instrument, das für Fälle wie diesen vorgesehen ist.“Premierminister Xavier Bettel
2017 waren sich die Abgeordneten also bewusst, dass der Anwendungsbereich des neuen Verfassungsartikels noch breiter werden könnte. „Ich denke da konkret an schlimme Naturkatastrophen“, sagte etwa der Abgeordnete Léon Gloden (CSV) während der Debatte im Parlament. Von Gefahren für das Gesundheitswesen war jedoch nicht die Rede. Vielmehr änderte das Parlament die Wortwahl des Artikels von einer Gefahr für die „öffentliche Ordnung“ in „öffentliche Sicherheit“. Laut Gloden, weil „je nach Interpretation, auch die öffentliche Ruhe, Hygiene und Sicherheit“ unter den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ fallen könnten.
Der Staatsrat stimmte dieser Einschätzung zu. Zu „Gefahren für die öffentliche Ordnung“ zählte er unter anderem auch sanitäre Probleme, industrielle Unfälle oder Versorgungsengpässe. In einem Zusatzgutachten merkte der Staatsrat ebenso an, dass durch die Begriffsänderung eine mögliche Gefahr nicht mehr ausreiche – sie müsse sich bereits verwirklicht haben. Die Regierung und die meisten Abgeordneten gehen heute also davon aus, dass sich durch die Covid-19-Pandemie die Gefahr bereits zur wahrhaftigen Krise entwickelt hat.
Parlament behält seine Kontrollfunktion
Ein wichtiger Punkt der damaligen Debatten war die Frage der parlamentarischen Kontrolle. Und auch am Dienstag betonten die Redner der Opposition, dass man der Regierung durch die Anerkennung des „Etat de crise“ keinen Freifahrtschein ausstellen werde. Durch die Ausrufung des Ausnahmezustands wird das Parlament denn auch nicht entmachtet. Die Volksvertreter ermächtigen die Regierung zwar dazu, schnelle Maßnahmen zur Beilegung der Krise zu treffen. Doch die Abgeordneten bleiben selbst im Prinzip voll handlungsfähig.
Man kann den Ausnahmezustand nur einmal für die gleiche Krise verhängen.“Alex Bodry, Ex-Präsident der Verfassungskommission
Konkret heißt das, dass das Parlament zur Not Verordnungen der Regierung per Gesetz für nichtig erklären kann. „Die Abgeordnetenkammer verliert keine ihrer souveränen Kompetenzen“, drückt es Alex Bodry aus. Die Parlamentarier könnten zu jedem Moment zusammenkommen, um ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive, mit allen üblichen Mitteln des Parlamentarismus gerecht zu werden. Zudem sehe die Verfassung vor, dass alle Verordnungen, die die Regierung im „Etat de crise“ verabschiedet, nach dem Ende des Ausnahmezustands ihre Gültigkeit verlieren.
Theoretisch und mit historischem Blick ins Ausland bestehe zwar die Gefahr, dass eine Regierung durch den Ausnahmezustand die Demokratie aushebelt, gibt Luc Heuschling zu bedenken. In der Praxis seien der Macht der Exekutive aber durch das Parlament und nicht zuletzt durch die Gerichte des Landes Grenzen gesetzt. Alle staatlichen Institutionen stünden zudem in der Verantwortung, dass der Ausnahmezustand tatsächlich die Ausnahme, ein „régime d’exception“, in der Funktionsweise des demokratischen Rechtsstaats bleibt.
Apropos Institutionen: Laut dem Verfassungstext ist es eigentlich nicht die Regierung, sondern der Großherzog, der den Ausnahmezustand ausruft und die Verordnungen verabschiedet. Die Regierung, der Premier oder das Kabinett werden in Artikel 32(4) mit keinem Wort erwähnt. Es handele sich um eine der vielen „Zweideutigkeiten“ in Luxemburgs Grundgesetz, kommentiert Luc Heuschling. In der Verfassungswirklichkeit ist die Lage aber klar: Die Rolle der Exekutive wird im Fall des „Etat de crise“ allein durch die Regierung ausgeübt.
Auf eine Krise kann die nächste Krise folgen
Damit die Abgeordneten wiederum ihre Kontrollfunktion der Exekutive ausüben können, müssen sie natürlich rein physisch dazu in der Lage sein. Sollte sich die Krise derartig zuspitzen, dass Parlamentarier selbst krank werden oder sich in Quarantäne befinden, muss zumindest eine Minimalvoraussetzung erfüllt sein: Mehr als die Hälfte der Volksvertreter, also mindestens 31, müssen anwesend sein, damit das Parlament beschlussfähig ist.
Dass dies in den kommenden Wochen nicht der Fall sein könnte, gilt als höchst unwahrscheinlich. Dass sich die Covid-19-Pandemie aber bereits auf die parlamentarische Praxis auswirkt, zeigten die Bilder vom Dienstag. In drei unterschiedlichen Räumen, unter Berücksichtigung der in diesen Zeiten gegebenen „sozialen Distanz“, verfolgten die Abgeordneten die Debatte zum Coronavirus.
Was passiert, wenn die drei Monate des Ausnahmezustands vorbei sind? Eine Verlängerung dieses Regimes über die maximale Dauer hinaus sei nicht erlaubt, sagen sowohl Bodry als auch Heuschling. Mit der Einschränkung: „Man kann den Ausnahmezustand nur einmal für die gleiche Krise verhängen“, so Alex Bodry. Sollte die Coronavirus-Krise also länger als bis Ende Juni dauern, müsste der Staat ohne Notverordnungen auskommen.
Im Fall des Falles, dass sich die Pandemie auch dann noch weiterverbreitet und die Politik einen „Etat de crise“ für notwendig erachtet, müsste sie sich „eine neue Krisenbeschreibung“ ausdenken, so Luc Heuschling. Wie in der Finanzkrise könnten etwa die absehbaren wirtschaftlichen Langzeitfolgen theoretisch als Grund zur Ausrufung einer neuen Periode des Ausnahmezustands herhalten.
Die großherzogliche Verordnung zur formalen Ausrufung des Ausnahmezustands wurde am Mittwoch (18. März) vom Kabinett gebilligt und trat somit gemeinsam mit einer Reihe von Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie in Kraft.