Vor einem Jahr waren sich alle Parteien ausnahmsweise einig: Die Ausschusssitzungen des Parlaments sollten in Zukunft live im Internet übertragen werden. Schnell begann der parteiübergreifende Konsens allerdings zu bröckeln. Die Koalitionsparteien spielen auf Zeit.

„Das war die dümmste Entscheidung, die das Parlament je getroffen hat“, sagt Gast Gibéryen im Gespräch mit Reporter.lu. Die Einschätzung des früheren Parlamentariers lässt aufhorchen. Denn es geht nicht etwa um skandalösen Sozialabbau oder eine krasse Fehlinvestition. Der langjährige Abgeordnete meint damit den Willen der Volksvertreter, Ausschusssitzungen künftig öffentlich zu machen.

Vor über einem Jahr, während der damaligen Debatte über die „Lage der Nation“, hatten sich dazu alle im Parlament vertretenen Parteien verpflichtet. Das Ganze ging damals „ruckizucki“, erinnert sich Gast Gibéryen. Wirklich Zeit, sich mit den Konsequenzen einer solchen Entscheidung auseinanderzusetzen, wurde den Abgeordneten nicht zugestanden, sagt er. Als ADR habe man sich vorher nicht tiefergehend mit der Frage auseinandergesetzt und der Entschließung wie alle anderen Parteien zugestimmt.

Für das Parlament wäre es ein Paradigmenwechsel, denn die eigentliche Arbeit findet in den Ausschüssen statt. Hinter verschlossenen Türen setzen die Abgeordneten sich inhaltlich mit den Gesetzesvorschlägen der Regierung auseinander, formulieren Änderungsanträge und suchen Kompromisse. Die anschließende Debatte im Parlament dient meistens nur noch der politischen Profilierung der Redner, und natürlich der Abstimmung.

Mehr Transparenz, mehr politisches Interesse

Durch den Schritt zur Öffentlichkeit der Ausschussarbeit würde sich auch die Arbeit der Journalisten verbessern. Zurzeit muss die Presse den Parlamentariern hinterherlaufen oder -telefonieren, oft auch in der Lobby des Parlaments ausharren, um nach einer Sitzung grundlegende Informationen über die parlamentarische Arbeit zu erhalten. Eine Live-Übertragung der Sitzungen im Internet könnte aber auch für die gesamte Öffentlichkeit ein Mehr an Transparenz und Nachvollziehbarkeit des politischen Prozesses bedeuten.

Wenn die Regierungsparteien es wollen würden, dann wären die Sitzungen bereits heute öffentlich.“Martine Hansen, CSV-Fraktionsvorsitzende

Es ist allerdings eher einem Zufall geschuldet, dass das Parlament mit der bisherigen Praxis aufräumen will. Die Frage der Öffentlichkeit von Kommissionssitzungen stellte sich im Parlament bis vor einem Jahr nicht wirklich. Zwar äußerten LSAP und Déi Gréng in ihren Wahlprogrammen den Wunsch, dass die Ausschüsse „prinzipiell öffentlich“ tagen sollen. Doch im Koalitionsabkommen wurde die Forderung nicht weiter erwähnt.

Die CSV witterte darin eine Chance, um politisch zu punkten. Eine größere Transparenz könnte dabei nicht nur das Interesse an der Politik fördern, sondern wäre auch für die Abgeordneten, die keine Mitglieder des Ausschusses sind, oder die Fraktionsmitarbeiter von Vorteil. Denn vor allem die Oppositionsparteien erhalten ebenfalls nur eine grobe Zusammenfassung des Gesagten, die auf der Webseite des Parlaments veröffentlicht wird. Und das oft ohne den Namen der Redner zu kennen und oft auch mit Wochen oder gar Monaten Verzug.

Vom politischen Geplänkel zum breiten Konsens

Während der besagten Debatte im Oktober 2019 kritisierte Martine Hansen die fehlende Transparenz der Regierungsparteien. „Wir haben diese Woche dreimal nach einem wortwörtlichen Protokoll einer Ausschusssitzung gefragt. Dreimal haben die Mehrheitsparteien dagegen gestimmt“, so die CSV-Fraktionschefin in ihrer Rede im Plenum. „Im Sinne der Transparenz reichen wir deshalb als CSV-Fraktion eine Resolution ein, in der wir fordern, dass alle Ausschusssitzungen öffentlich werden“, sagte Martine Hansen.

Eigentlich wollte sie eine Abstimmung erzwingen, denn da „hätte niemand gewagt, sich zu verweigern“, erklärt die Fraktionsvorsitzende der CSV heute im Gespräch mit Reporter.lu. Es kam allerdings anders. Die Abgeordneten der Regierungsparteien zweifelten an der technischen Machbarkeit jener Maßnahme, die sie prinzipiell nicht ablehnten. Ihre Bitte: Die Resolution soll im Vorstandsausschuss des Parlaments diskutiert und entsprechend angepasst werden. Nachdem keine Partei sich prinzipiell gegen die Forderung stellte, stimmte die CSV-Fraktion widerwillig zu. „Danach sind wir in den Arbeiten aber kaum vorangekommen“, sagt Martine Hansen.

Mehrheitsparteien wollen nichts überstürzen

Für die Oppositionspolitikerin liegt der Grund für den schleppenden Fortschritt auf der Hand: „Wenn die Regierungsparteien es wollen würden, dann wären die Sitzungen bereits heute öffentlich.“ Und in der Tat: Es gebe in ihren Reihen manche Abgeordnete, die mehr oder weniger begeistert von der Idee seien, erklären sowohl Gilles Baum (DP) als auch Georges Engel (LSAP) auf Nachfrage von Reporter.lu. Die Entscheidung vom letzten Jahr hätte aber weiterhin ihre Gültigkeit, so die Fraktionsvorsitzenden unisono. Déi Gréng stehen ebenso weiterhin hinter ihrer Forderung aus dem Wahlprogramm, erklärt die Abgeordnete und Co-Vorsitzende der Grünen, Djuna Bernard.

Bisher werden im Parlament nur die Plenarsitzungen und die öffentlichen Debatten im Petitionsausschuss live übertragen und digital archiviert – das könnte sich aber bald ändern. (Foto: Chambre des Députés)

Aus Koalitionskreisen heißt es jedoch, dass vor allem die Liberalen und die Sozialisten das Projekt ausbremsen würden. „Das waren längere Diskussionen bei uns. Aber soweit ich weiß, stellt niemand die Entscheidung grundsätzlich infrage“, schätzt der frühere LSAP-Fraktionschef und heutige Vertreter seiner Partei im Staatsrat, Alex Bodry, die Lage ein.

Dennoch schritten die Arbeiten nur langsam voran. Seit Februar gibt es keinerlei Fortschritt. Erst kürzlich, am 23. Oktober, hat der Parlamentsvorstand den Ausschuss der parlamentarischen Geschäftsordnung („Commission du Règlement“) beauftragt, einen Vorschlag für die Umsetzung der Resolution aus dem vergangenen Jahr auszuarbeiten. Danach führe man die Arbeiten erneut im Vorstand weiter, erklärt Djuna Bernard im Gespräch mit Reporter.lu.

Verwaltung sieht keine technischen Hürden

Es ist also ein langwieriger Prozess, der den weiterhin bestehenden Bedenken der Abgeordneten Rechnung tragen soll. Sowohl die Technik als auch die politischen Konsequenzen sorgen bei manchen Volksvertretern für Kopfzerbrechen. Vor einem Jahr befürchteten sie vor allem, dass mehrere gleichzeitig tagende Sitzungen nicht parallel übertragen werden könnten. Dies war auch der einzige Punkt, der bereits im Vorstand diskutiert wurde, erinnert sich Alex Bodry. Offenbar jedoch ohne größeren Fortschritt.

„Es bleibt technisch schwierig, die Redner während einer Sitzung zu identifizieren“, sagt zudem Bodrys Nachfolger Georges Engel. Der Plenarsaal sei mit ausreichend Kameras ausgestattet, die dazu dienen, schnell auf den jeweiligen Redner umzuschalten und den Namen einzublenden. Zurzeit seien die Tagungsräume der Ausschüsse nicht mit der entsprechenden Technik ausgestattet.

Die technischen Einwände könnte die Verwaltung allerdings schnell überwinden. „Wenn die Politik die Entscheidung trifft, die Sitzungen öffentlich zu machen, dann setzt die Verwaltung das um. Wenn das heute entschieden wird, kann das vielerorts bereits morgen umgesetzt werden“, sagte der Generalsekretär der Abgeordnetenkammer, Laurent Scheeck, kürzlich in einem Interview mit „Radio 100,7“. In den kommenden Monaten müsste dies dann „fine-getuned“ werden, so der leitende Beamte des Parlaments.

Von „Filibustering“ bis zu Scheindebatten

Laut Gilles Baum sei das zögerliche Handeln vor allem auf die Corona-Krise zurückzuführen. Aktuell werden viele Ausschusssitzungen per Videokonferenz durchgeführt. „Ich sehe das als problematisch an, wenn jeder sich dann dazu schalten könnte“, sagt der Fraktionschef der Liberalen. „Wenn die Krise einmal vorbei ist, kann das jedoch schnell umgesetzt werden“, schätzt der DP-Politiker. Dennoch würden sich weitere reglementarische Fragen stellen.

Ich glaube nicht, dass die Öffentlichkeit für alle Ausschüsse und alle Sitzungen geeignet wäre.“Georges Engel, Fraktionschef der LSAP

„Was tun wir, wenn jemand ununterbrochen stundenlang redet?“, fragt etwa der LSAP-Fraktionsvorsitzende Georges Engel. Die geltende Geschäftsordnung sehe keine Begrenzungen der Redezeiten für Ausschusssitzungen vor. Demnach wäre ein sogenanntes „Filibustering“ während einer Liveübertragung , also eine mutwillige Verzögerung des politischen Prozesses möglich. Die parlamentarische Geschäftsordnung müsste in diesem Punkt also noch angepasst werden.

Gleiches gilt für die Kriterien, die es erlauben würden, eine Sitzung hinter verschlossenen Türen abzuhalten. „Ich glaube nicht, dass die Öffentlichkeit für alle Ausschüsse und alle Sitzungen geeignet wäre“, sagt Georges Engel. Tatsächlich stellt kein Abgeordneter ein mögliches „huis clos“ infrage. Bereits während der Debatte Ende 2019 äußerten mehrere Parlamentarier den Wunsch, Übertragungen zu unterbrechen, wenn etwa Beamte in den Sitzungen anwesend sind und in Vertraulichkeit sprechen wollen. Eine mögliche Ausnahme wird wohl auch für den parlamentarischen Kontrollausschuss des Geheimdienstes gelten, in dem die Mitglieder bereits jetzt strengen Regeln der Geheimhaltung unterworfen sind.

Transparenz vs. politische Kompromissfähigkeit

Doch es geht noch um einiges mehr. „In einem Ausschuss bemüht man sich, einen Konsens zu finden, die Parteizugehörigkeit ist zweitrangig“, sagt Gast Gibéryen. Politische Reden seien in den Ausschüssen öfters unterbunden worden. Die Devise: „Man solle sich das für die Plenarsitzung aufsparen“, so der frühere Abgeordnete. Genau diese überparteiliche Arbeit drohe bei einer Live-Übertragung verloren zu gehen, fürchtet der ADR-Politiker, der Mitte Oktober sein Parlamentsmandat an Fred Keup abgab.

„Das war die dümmste Entscheidung, die das Parlament je getroffen hat“: Der langjährige ADR-Abgeordnete ist aus diversen Gründen kein Fan einer transparenten Ausschussarbeit. (Foto: Matic Zorman)

Zudem gibt es unter den Abgeordneten Zweifel, die nur selten öffentlich geäußert werden. „Manchmal erlebt man, dass ein Abgeordneter nichts in der Sitzung sagt, aber dann nach der Sitzung den Journalisten erzählt, was man alles gesagt habe“, sagte der damalige DP-Fraktionschef Eugène Berger während der Debatte im Oktober 2019. Deshalb fände er es gut, „wenn die Leute wirklich sehen können, wie jeder Einzelne arbeitet“, so der im Januar dieses Jahres verstorbene DP-Politiker.

Auch Alex Bodry fürchtet, dass dies für manche Abgeordnete zum Problem werden könnte. „Die Stellungnahmen vor der Presse wären ja dann überflüssig“, so das Mitglied des Staatsrats. Er schätzt, dass unter anderem aus diesem Grund die Begeisterung von Anfang an nicht bei jedem sehr groß war. Hinter vorgehaltener Hand sagen zudem manche Parlamentarier, dass nicht alle ihre Kollegen stets vorbereitet seien oder aktiv an den Sitzungen teilnehmen würden. Eine Live-Übertragung im Internet würde diese Praxis der Öffentlichkeit offenbaren.

Oppositionsparteien wollen nicht locker lassen

Allzu großen Tatendrang verspüren die Vertreter der großen Parteien auf jeden Fall nicht. Gilles Baum stellt dabei selbst den tatsächlichen Nutzen von öffentlichen Ausschusssitzungen infrage. „Es muss sich noch zeigen, ob das Interesse an Politik dadurch größer wird“, so der DP-Fraktionschef. Wenn man das aber will, müssten die Live-Übertragungen ohne größere Schwierigkeiten sofort auf der Webseite des Parlaments auffindbar sein. „Das darf nicht mehr als zwei Klicks erfordern“, so Gilles Baum. Mit dem aktuellen Webauftritt sei das allerdings kaum möglich, schätzt nicht nur der DP-Parlamentarier. Erst nach dem Relaunch des Internet-Auftritts „chd.lu“, der seit geraumer Zeit geplant ist, könne das Parlament transparenter arbeiten.

Die Opposition will dennoch weiterhin versuchen, Druck aufzubauen. Marc Baum (Déi Lénk) schlägt etwa vor, zuerst eine Testphase in verschiedenen Ausschüssen einzuleiten. „Danach können wir überprüfen, ob an den Bedenken wirklich etwas dran ist“, so der Abgeordnete. Er hält dies jedoch für unwahrscheinlich. Gegen das ultimative Argument der Skeptiker setzt Marc Baum die Erfahrung in einem anderen Ausschuss. „In der Petitionskommission arbeiten wir auch überparteilich, obwohl die Sitzungen bereits heute übertragen werden.“

Währenddessen will Martine Hansen den Druck auf die Koalitionsparteien erhöhen und den Punkt erneut auf die Tagesordnung des Parlamentsvorstandes bringen. Sollte sich dann wieder nichts tun, erwägt sie eine erneute Abstimmung im Plenum. „Dann wissen wir wenigstens, wo wir stehen“, so die Fraktionsvorsitzende der CSV.