Die US-Bank Merrill Lynch startete 2005 ein großes Steuervermeidungsprojekt: Ihre Kunden „sparten“ bis zu 50 Millionen US-Dollar an Steuern auf Dividenden – pro Jahr. Eine zentrale Rolle spielte ein Luxemburger Fonds der Bank. Doch das war nur der Anfang der Geschichte.
Die Werbung klang gut: „dividend enhancement“, also mehr Gewinn pro Aktie. Der Haken: Das „enhancement“ zahlte der amerikanische Staat. Doch das störte die Banker bei Merrill Lynch nicht, im Gegenteil. Sie konnten allerdings 2005 nicht ahnen, dass Details über ihr „Project Gemini“ drei Jahre später öffentlich in einer Anhörung diskutiert würden.
Dass US-Banken diese Form der Steuervermeidung betrieben, hatte den US-Senator Carl Levin auf den Plan gerufen. Ironischerweise fand die Anhörung über den massiven Missbrauch des Steuersystems am 11. September 2008 statt – vier Tage vor der Pleite von Lehman Brothers und der beginnenden Kernschmelze des Finanzsystems.
Die Vorgeschichte des Cum-Ex-Raubzugs
Der Bericht des US-Senats erlaubt einen einmaligen Blick in das System von dubiosen Aktiendeals, die damals einen Millionenschaden anrichteten. Doch die Folge der Geschichte ist noch interessanter: Merrill Lynch war einer der „Infektionsherde“, aus dem sich diese Deals zum Cum-Ex-Skandal entwickelten – mit einem Schaden in Milliardenhöhe.
Denn die Untersuchung von Carl Levin machte die US-Banker nervös. „Sie haben sich sofort aus den USA zurückgezogen und einfach das Geschäft in anderen Märkten verdoppelt, vor allem in Europa“, erzählte ein Whistleblower der Wochenzeitung „Die Zeit“ und dem „ARD Panorama“.
Doch das war erst der Anfang: Mehrere zentrale Figuren des Cum-Ex-Skandals lernten bei Merrill Lynch, wie Staaten um Quellensteuer betrogen werden können. Dazu zählen etwa der Neuseeländer Paul Mora und der Brite Martin S., die mindestens in einem Fall mutmaßlichen Steuerbetrug über Luxemburg laufen ließen. Ein weiterer Ex-Mitarbeiter von Merrill Lynch ist der Brite Graham H. Er tauchte später als Geschäftsführer bei Sanjay Shahs Gesellschaften auf, die dazu gedient haben sollen, den Luxemburger Staat um zehn Millionen Euro zu betrügen.
Luxemburger Sicavs im Zentrum
Doch nicht nur bei den späteren Cum-Ex-Transaktionen liefen viele Fäden in Luxemburg zusammen. Eine zentrale Rolle im „Project Gemini“ spielte ein Luxemburger Investmentfonds: Merrill Lynch International Investment Fund Sicav (MLIIF). Das Anlagevermögen des Fonds lag 2005 bei beachtlichen 40 Milliarden US-Dollar.
Laut dem Bericht des US-Senats ging es in der ersten Phase von „Project Gemini“ darum, dass der Fonds Steuern auf seinen US-Aktien vermeiden sollte. In einer zweiten Phase bot Merrill Lynch dieses Steuersparmodell anderen Finanzakteuren an. Die Banker wollten Pensionsfonds aber auch ausdrücklich andere Luxemburger Sicav-Fonds als Kunden gewinnen.
Der große Bestand des Luxemburger Fonds diente dabei als Ressource, um Aktien zu verleihen. Das Vorgehen beruhte darauf, dass die Aktien den Besitzer scheinbar rund um den Stichtag wechselten, an dem Unternehmen Dividenden auszahlen. Die Geschäfte liefen vor allem über eine Tochter von Merrill Lynch auf der Kanalinsel Jersey.
2006 verlieh MLIIF Aktien im Wert von 1,8 Milliarden Dollar. Doch nur ein Bruchteil hatte eine Verbindung zu Steuervermeidung. Die US-Bank plante, dass sie 2005 knapp 72 Millionen Dollar an Dividenden vor den Steuern „schützen“ könnte und so für ihre Kunden 21,6 Millionen Dollar zusätzlichen Gewinn auf Kosten des Staates erwirtschafte. Die Banker rechneten mit einem eigenen Gewinn – etwa aus Gebühren – von knapp zehn Millionen Dollar. 2007 sollten es dann 20 Millionen sein. Der US-Senat ging davon aus, dass dem amerikanischen Staat zwischen 20 und 50 Millionen Dollar durch dieses Programm entgingen.
Merrill Lynch war bei Weitem nicht der einzige Akteur. Laut Insidern war die Luxemburger Steuerverwaltung regelmäßig mit Aktientransaktionen befasst, die zum Ziel hatten, Steuern zu vermeiden. Je nach Einschätzung soll die Behörde solche Deals per Ruling genehmigt haben.
Bedenken wurden ignoriert
Den Verantwortlichen von Merrill Lynch war bewusst, dass sie mit diesem Steuervermeidungstrick ein hohes rechtliches Risiko eingingen. Die Kunden der Bank fragten immer wieder nach, ob die Geschäfte tatsächlich rechtens wären.
Für den US-Senat war die Sachlage klar: Es ging bei diesen Geschäften darum, keine Steuern auf Dividenden von US-Unternehmen zu zahlen. Das Ziel lautete, das amerikanische Steuerrecht zu untergraben.
Als ihre Machenschaften ans Licht der Öffentlichkeit kamen, wurden die Merrill-Lynch-Banker zunehmend nervös. Kurz nachdem der US-Senat seine Untersuchung Anfang 2008 begann, stoppte die Großbank die verdächtigen Transaktionen. Wenig später, im Mai 2008, verkaufte Merrill Lynch den Luxemburger Fonds an Blackrock.
Auch der weltgrößte Vermögensverwalter war zu diesem Zeitpunkt bereits in Cum-Ex-Geschäfte involviert: Im November 2018 gab es eine Razzia in den Büros von Blackrock in München. Die Ermittlungen betreffen den Zeitraum 2007 bis 2011 – mehr ist nicht bekannt.
Das war die Periode in der sich die Steuervermeidung in den USA zum Steuerbetrug in Europa wandelte. Doch das interessierte die US-Behörden nicht mehr. Ein Whistleblower meldete sich 2012 bei der US-Börsenaufsicht SEC und schilderte das Problem in allen Details, berichtete „Die Zeit“. Es passierte nichts.
REPORTER recherchiert weiter zu den Verbindungen zwischen der Cum-Ex-Affäre und dem Luxemburger Finanzplatz. Wenn Sie Informationen zu diesen Geschäften haben, erreichen Sie unseren Reporter Laurent Schmit per E-Mail (öffentlicher Schlüssel) oder über den sicheren Messenger Threema (ID: XJ8W8WWK). Alle Hinweise unterliegen dem Quellenschutz.
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