Welche Strategie verfolgt der Westen im andauernden Ukraine-Krieg? Ein Gespräch mit Karen Donfried, Topdiplomatin im US-Außenministerium, über gemeinsame Werte, Luxemburgs Rolle bei den Russland-Sanktionen und die trüben Aussichten auf ein Ende des Krieges.
Interview: Christoph Bumb
Frau Donfried, Sie trafen sich vergangene Woche mit Außenminister Jean Asselborn und weiteren hochrangigen Vertretern in Luxemburg. Worum ging es in diesen bilateralen Gesprächen?
Als „Assistant Secretary of State“ bin ich für eine Region zuständig, der insgesamt 50 Staaten angehören. Ich hoffe, dass ich in meiner Amtszeit alle diese Länder persönlich besuchen kann. (lacht) Ein weiterer Grund ist, dass Luxemburg ein wichtiger Partner ist, mit dem wir auch im Zuge des Ukraine-Konflikts eng zusammenarbeiten. Schon vor dem Kriegsbeginn tauschten wir uns mit der Luxemburger Regierung über mögliche Sanktionen und Exportbeschränkungen aus. Seitdem spielt Luxemburg eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der Ukraine. In den Gesprächen mit meinen Luxemburger Kollegen geht es darum, diese Anstrengungen noch weiter zu verstärken. Wir haben auch über andere Themen gesprochen, aber die meiste Zeit ging es um die Ukraine.
Es ist kein Geheimnis, dass Luxemburg in militärischen Fragen nicht zu den „big players“ gehört. Anders sieht es beim hiesigen Finanzsektor aus. Wie wichtig ist die Rolle des Luxemburger Finanzplatzes bei der Umsetzung der Sanktionen gegen Russland?
Ich will der Frage nicht ausweichen. Doch ich will zunächst betonen, dass auch Luxemburgs militärischer Beitrag wichtig ist. Luxemburgs Regierung hat angekündigt, sein Verteidigungsbudget auf ein Prozent des BIP zu erhöhen. Wir begrüßen das ausdrücklich. Und wir sagen: Weiter so! Es ist ein großer Schritt hin zu dem einen Prozent, lasst uns jetzt gemeinsam daran arbeiten, die zwei Prozent des BIP zu erreichen. Jeder Beitrag macht einen Unterschied. Es geht doch letztlich darum, dass alle Alliierten zusammenfinden und sich hinter den gleichen Prioritäten versammeln. Wir schätzen Luxemburgs Beitrag in diesem Bereich und wir ermuntern unsere Partner, noch mehr zu tun. Das wollte ich betonen.
Gilt das auch bei der Rolle des Finanzplatzes?
In Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik: Da haben Sie Recht, Luxemburg hat einen sehr bedeutenden Finanzsektor. (lacht) Wenn wir also über die Strafmaßnahmen gegen Russland sprechen, dann ist Luxemburgs Rolle entscheidend. Das gilt für die praktische Umsetzung von Sanktionen und für das Einfrieren von Vermögenswerten. Diese Aspekte sind ein außerordentlich wichtiger Teil unserer gemeinsamen Strategie. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Umsetzung aller beschlossenen Sanktionen einen massiven Einfluss auf die Entwicklung in Russland haben wird. Diese Auswirkungen werden mit der Zeit nur noch zunehmen.
Wie Ihnen sicher bekannt ist, hat Luxemburg aber in den vergangenen zwei Jahrzehnten enge Beziehungen zu Russland aufgebaut. Einige russische Oligarchen besitzen Gesellschaften hier, oft aus steuerlichen Gründen. Russische Milliardäre vertreten Luxemburg bis heute als Ehrenkonsuln in der Russischen Föderation. Ist diese politisch geförderte privilegierte Partnerschaft für die US-Regierung ein Grund zur Sorge oder Kritik?
Mein Eindruck ist, dass sich Luxemburgs Verhältnis zu Russland grundlegend gewandelt hat. Das gleiche gilt übrigens für andere europäische Staaten, und auch für die USA. Wir haben im Vorfeld des russischen Angriffskrieges viele geheimdienstliche Informationen mit unseren Partnern geteilt. Dabei gab es sicherlich unterschiedliche Schlussfolgerungen. Nicht alle unsere Partner glaubten daran, dass Wladimir Putin die Invasion der Ukraine in die Tat umsetzen würde. Und damit glaubten manche wohl auch, dass die pragmatischen, gegenseitig vorteilhaften Beziehungen mit Russland – sei es bei der Energieversorgung oder in anderen Fragen – aufrecht erhalten werden können.
Die USA haben absolut null Interesse an einer Verlängerung dieses Krieges.“
Der Kriegsbeginn kam dann für viele wie ein Schock. Und wir sehen auch, dass sich die Beziehungen der allermeisten Länder in Europa gegenüber Russland stark verändert haben. Das gilt für die Sanktionen, aber auch für die über 800 privaten Unternehmen, die Russland seit dem Kriegsbeginn verlassen haben. Nicht zuletzt arbeiten die EU-Staaten daran, sich dauerhaft unabhängig von russischer Energie zu machen. Das sind keine kurzfristigen Entscheidungen. Ich kann Ihnen zwar nicht sagen, wo diese Entwicklung genau enden wird. Doch für mich ist klar, dass Europas, und damit auch Luxemburgs Verhältnis zu Russland ein fundamental anderes ist als vor dem Krieg.

Trotz der Sanktionen dauert der Krieg in der Ukraine seit fünf Monaten an und Russland denkt nicht daran, einzulenken. Sind die Sanktionen wirklich so wirkungsvoll wie Sie sagen?
Zunächst muss ich betonen, dass wir wichtige Lehren aus der Annexion der Krim im Jahre 2014 gezogen haben. Ich glaube, dass Wladimir Putin dachte, dass der Westen dieses Mal ähnlich reagieren werde wie damals. Doch die Reaktion war viel, viel strenger. Zum Beispiel wurden noch nie zuvor Sanktionen gegen die Zentralbank eines Staates der G20 verhängt. Zu ihrer konkreten Frage: Haben wir Beweise, dass diese Strategie wirklich funktioniert? In einem sehr wesentlichen Punkt kann man mit Sicherheit sagen: Die beschlossenen Exportbeschränkungen wirken sich auf Russlands Rüstungsindustrie aus und stellen das Land vor große Probleme bei der Produktion neuer Waffen. Es gibt noch weitere Beispiele, aber dieses ist wohl am aussagekräftigsten, wenn wir über den unmittelbaren Einfluss auf den Krieg in der Ukraine sprechen.
Das Beispiel zeigt aber auch, dass es sich um eine eher langfristige Strategie handelt. Diese Sanktionen werden kaum den kurzfristigen Verlauf der Kämpfe in der Ukraine beeinflussen, oder?
Sicher. Es handelt sich um Maßnahmen, deren Wirkung sich erst mit der Zeit entfalten und verstärken wird.
In manchen Teilen der Welt – man denke an China, Indien, Afrika oder Lateinamerika – ist Russland wegen der Aggression gegen die Ukraine nicht wirklich isoliert. Woran liegt das? Und was sagt das über den möglicherweise schwindenden globalen Einfluss der USA aus?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Man darf zunächst nicht vergessen: Der Krieg ist vor allem und in erster Linie tragisch für die Menschen in der Ukraine. Wir und unsere Verbündeten unterstützen die Ukraine, weil wir solidarisch mit ihr sind und weil wir überzeugt sind, damit das Richtige zu tun. Gleichzeitig hat der Krieg aber enorme Auswirkungen auf die europäische Sicherheitsarchitektur. Und damit wirkt sich der Krieg natürlich auch auf die Stabilität der ganzen Weltordnung aus. China und Russland sind etwa eine strategische Allianz eingegangen. Schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine machten Putin und Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping deutlich, dass diese Partnerschaft keine Grenzen kenne. Wir müssen verstehen, was das bedeutet und wachsam bleiben. Man darf jedoch nicht vergessen, dass bei einem Votum der Vereinten Nationen 141 von 193 UN-Mitgliedstaaten die russische Aggression verurteilten. Nur vier Staaten (Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien, Anmerkung der Redaktion) standen Russland hier zur Seite.
Gleichzeitig enthielten sich aber einige wichtige Länder bei der Abstimmung. Und viele machen weiter munter Geschäfte mit Russland …
Die meisten dieser Staaten zögern oder drücken sich um eine Entscheidung herum. Sie haben zum Teil eine lange Tradition des Handels und ein Interesse an normalen Beziehungen mit Moskau. Wir müssen da realistisch sein und versuchen, die Beweggründe dieser Staaten zu verstehen. Wir wissen aber auch, dass die russische Führung ihren Einfluss in der Welt geltend machen will, etwa dadurch, dass sie Ängste über die Versorgungssicherheit bei Energie oder Nahrungsmitteln schürt.
Wir tun alles in unserer Macht Stehende, damit die Ukraine in die bestmögliche Position gelangt, wenn die Kriegsparteien sich an den Verhandlungstisch setzen.“
Wir dürfen deshalb nicht müde werden, unseren Partnern in der ganzen Welt deutlich zu machen, wer für die Verwerfungen infolge des Krieges verantwortlich ist. Es sind allein Russland und Präsident Putin, die diese Situation heraufbeschworen haben. Und dann will ich auch noch betonen, dass die Werte, die wir in diesem Konflikt verteidigen, keine westlichen Werte, sondern universale Werte sind. Die USA, Luxemburg und viele andere Staaten teilen eine Reihe dieser Werte. Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und das Recht eines Landes, über sich selbst zu bestimmen: All das verteidigen wir in der Ukraine.

Und doch scheint Russland in diesen Tagen, zumindest nach und nach, in seinem Abnutzungskrieg im Süden der Ukraine Fortschritte zu erzielen. Wie besorgt sind Sie von der Perspektive eines sehr langen und noch blutigeren Krieges, an dessen Ende zumindest ein Teilerfolg der russischen Seite stehen könnte?
Es gibt keinen Zweifel, dass der Krieg schon jetzt grausam ist. Die Ukrainer haben nichts getan, um das zu verdienen. Doch dieser Krieg ist auch für Russland sehr kostspielig. Unsere Geheimdienste gehen davon aus, dass mittlerweile über 15.000 russische Soldaten in der Ukraine gefallen sind. Wir haben alle in den vergangenen fünf Monaten gelernt, dass wir die Ukrainer nicht unterschätzen dürfen. Sie wehren sich gegen eine der mächtigsten Armeen der Welt. Als Russland von Norden, Osten und Süden einmarschierte, rechneten die meisten Beobachter damit, dass die Ukraine innerhalb weniger Tage oder Wochen vollständig besetzt sein werde. Stattdessen konnte die ukrainische Armee die Invasoren zurückschlagen.
Auch jetzt, wo sich die Kampfhandlungen im Südosten konzentrieren, meinten viele Experten, dass Russland hier schnell die Oberhand gewinnen werde. Doch die Kämpfe dauern an und die russische Armee bleibt angreifbar. Niemand weiß, wie dieser Krieg enden wird. Ich kann nur sagen, was die Strategie der Biden-Regierung ist: Wir tun alles in unserer Macht Stehende, damit die Ukraine in die bestmögliche Position gelangt, wenn die Kriegsparteien sich an den Verhandlungstisch setzen. Und das wird früher oder später geschehen.
Wie schätzen Sie die Chance für solche Friedensverhandlungen momentan ein?
Zu diesem Zeitpunkt bin ich nicht sehr hoffnungsvoll. Ich will aber mit Nachdruck sagen: Die USA sind sehr bestrebt, eine diplomatische Lösung dieses Konflikts zu finden. Seitdem uns geheimdienstliche Hinweise vorlagen, dass ein Krieg wahrscheinlich wird, haben wir uns dafür eingesetzt, dass es nicht dazu kommt. Ich bin persönlich mehrmals zu Verhandlungen in die Ukraine und nach Russland gereist. Ich war übrigens jene Person, der die Russen die Vertragsentwürfe übergaben, in denen die russischen Forderungen gegenüber den USA und der NATO im Vorfeld des Krieges formuliert wurden.
Wir gingen den diplomatischen Weg. Doch am 24. Februar merkten wir alle, dass Russland eigentlich nicht an einer politischen Lösung interessiert war.“
Wir haben uns diese Positionen sorgfältig durchgelesen. Darin gab es einige Punkte, die nicht akzeptabel waren, aber auch andere Aspekte, über die wir gerne mit der russischen Seite verhandelt hätten. Wir gingen also den diplomatischen Weg. Doch am 24. Februar merkten wir alle, dass Russland eigentlich nicht an einer politischen Lösung interessiert war. Seitdem gab es bekanntlich mehrere Gespräche zwischen Vertretern der ukrainischen und der russischen Regierung. Doch auch hier wurde schnell deutlich, dass Russland nicht ernsthaft an eine friedliche Lösung glaubt. Dabei sollten wir nicht vergessen: Dieser Krieg kann sofort aufhören. Es gibt eine Person, die alles stoppen kann und das ist Präsident Wladimir Putin. Ansonsten kann man aber leider kaum davon ausgehen, dass der Krieg schnell enden wird.

Wenn Sie sagen, dass Ihre Regierung die Ukraine in eine bestmögliche Verhandlungsposition bringen will, hängt das ja auch an Erfolgen, womöglich an Rückgewinnen von Territorium auf dem Schlachtfeld. Das muss man ja fast so verstehen, dass auch die USA ein Interesse daran haben, dass dieser Krieg noch eine Weile andauert …
Die USA haben absolut null Interesse an einer Verlängerung dieses Krieges. Es ist tragisch, zu sehen, was jeden Tag in der Ukraine passiert. Wer mit Menschen spricht, die in der Ukraine leben, die Tag für Tag die Zerstörung und das Morden von Zivilisten miterleben, kann nicht wollen, dass dieser Krieg auch nur einen Tag länger dauert. Wir wollen, dass dieser Krieg sofort aufhört.
Wenn die führenden Demokratien der Welt nicht bereit sind, für ihre Werte einzustehen, dann enden wir in einer Welt, in der wir nicht leben wollen.“
Allerdings ist es auch nicht unsere Entscheidung. Die Ukraine bestimmt, wann sie bereit ist, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Die Ukrainer entscheiden selbst, wann sie die Perspektive auf ein autonomes, lebensfähiges Land haben, das seine Unabhängigkeit auf Dauer verteidigen kann. Unsere Rolle besteht darin, das Land und seine Menschen dabei zu unterstützen. Denn wir alle haben ein Interesse daran, dass die Ukraine sich am Ende durchsetzt und unser aller Werte verteidigt. Wenn die führenden Demokratien nicht bereit sind, für ihre Werte einzustehen, dann enden wir in einer Welt, in der wir nicht leben wollen. Allein deshalb bin ich überzeugt, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.




