Die Experten warnen, die Regierung lockert: Ein kritischer Bericht des Gesundheitsministeriums wird ignoriert und kurzerhand politisch umgedeutet. Die Zahlen, die die Regierung letztlich vorlegt, passen nicht zu ihren Entscheidungen. Eine Analyse zu einer unübersichtlichen Lage.

Die Schlussfolgerung ist unmissverständlich: „Auch wenn sich in Luxemburg bescheidene Anzeichen für eine Verbesserung zeigen, lässt die allgemeine und internationale Lage sicher keine Erleichterung der Maßnahmen zu. Im Gegenteil ist eine Verschärfung der Maßnahmen angebracht, um eine neue, noch bedeutendere Infektionswelle Anfang 2021 zu verhindern.“ Diese Einschätzung zur Lage der Pandemie stammt vom Gesundheitsministerium. Das Dokument, das am 4. Januar verfasst wurde und Reporter.lu vorliegt, wurde dem Parlament am Dienstag übermittelt.

Doch die Regierung hielt sich offensichtlich nicht an die Einschätzung der Beamten, bei denen alle Fäden der Pandemiebekämpfung zusammenlaufen. Die Schulen, der Einzelhandel, Theater, Kinos und Sporteinrichtungen sollen ab nächster Woche wieder öffnen, kündigten Premier Xavier Bettel (DP) und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) am Dienstag an. Nur Restaurants und Cafés sollen weiter geschlossen bleiben. Es bleibt auch bei den Besuchsobergrenzen im privaten Bereich, die Ausgangssperre wird allerdings wieder um zwei Stunden auf den Zeitraum von 23 bis 6 Uhr verkürzt.

Ein Bericht des federführenden Ministeriums, der weitere Verschärfungen fordert, und eine Regierung, die per Gesetz das Gegenteil plant. Das sei kein Widerspruch, sagte Gesundheitsministerin Paulette Lenert am Dienstag vor der Presse: „Das hier ist kein Paket von Lockerungen.“ Die Maßnahmen seien weiterhin streng und „die Erwartungen waren sicher andere“, meinte die Ministerin. Den offensichtlichen Widerspruch zwischen den angekündigten Maßnahmen und dem Lagebericht ihres eigenen Ministeriums konnte Paulette Lenert allerdings auch auf wiederholte Nachfrage nicht entkräften.

Selektiver Umgang mit Daten und Studien

Bereits in den vergangenen Monaten zeigte die Regierung ein ambivalentes Verhältnis zu Zahlen und Studienergebnissen. Die Gesundheitsministerin berief sich öfters auf „neue Studien“, die ihre Strategie stützen würden. Um welche Studien es sich handelt, sagte sie nicht.

Bei der Ankündigung der letzten Covid-19-Novelle vor Weihnachten bezogen sich Paulette Lenert und Xavier Bettel mehrmals auf die Studie „ComCor“ des französischen „Institut Pasteur“. Sie taucht auch in der besagten Analyse des Gesundheitsministeriums vom 4. Januar auf, die der „Santé“-Direktor Jean-Claude Schmit maßgeblich verfasste.

Wir können, Stand heute, noch nicht genau evaluieren, wie sich die Feiertage definitiv auf die Lage auswirken werden.“
Gesundheitsministerin Paulette Lenert

Die Studie erklärt laut den Beamten der „Santé“, dass das Infektionsrisiko vor allem während eines gemeinsamen Essens hoch sei. Xavier Bettel und Paulette Lenert nutzten die Studie jedoch als Begründung für die Ausgangssperre. Die französische Studie zeige, dass die Ausgangssperre sehr wirksam war, sagte Premier Xavier Bettel im Neujahrsinterview mit „RTL“.

Diesen Schluss lässt die Studie allerdings nicht zu. Der wichtigste Grund: Das Institut liefert keine Daten über die Infektionsquellen vor der Ausgangssperre. Das macht einen Vergleich zwischen einer Situation mit und einer ohne Ausgangssperre unmöglich. Außerdem warnen die Autoren der Untersuchung ausdrücklich davor, die Ergebnisse zu verallgemeinern.

„Maßnahmenbündel“ ist entscheidend

Es zeigt die Schwierigkeiten der Regierung bei der Begründung ihrer Politik. „Kein Land hat die perfekte wissenschaftliche Basis“, sagte Paulette Lenert am 24. Dezember im Parlament. Man müsse an allen Schrauben drehen und man könne nicht mit Sicherheit sagen, ob die Maßnahmen ausreichen würden. Xavier Bettel pflichtete der Ministerin in den vergangenen Tagen bei: „Es ist sehr schwer zu sagen, diese Maßnahme hat so stark gegriffen“, so der Premier im RTL-Interview.

„Die Ausgangssperre hat in Luxemburg irgendwie gegriffen“, sagte Paulette Lenert dagegen auf der Pressekonferenz am Dienstag. Dies würde sich zeitversetzt in den Zahlen der Neuinfektionen zeigen. Die Aussage ist anhand von Fakten nur zum Teil nachzuvollziehen. Am 29. Oktober wurde die Ausgangssperre rechtskräftig und rund zwei Wochen später erreichten die Neuinfektionen mit 892 ihren Höchstwert. Bis Mitte Dezember schwankten die Zahlen zwischen 500 bis 600 Neuinfektionen täglich. In diesem Zeitraum beschloss die Regierung jedoch weitere Maßnahmen, wie etwa eine Begrenzung der Besucher pro Haushalt. Dass die Zahlen seit Mitte Dezember fallen, muss also nicht zwingend auf die Ausgangssperre zurückzuführen sein.

Die aktuelle Lage erlaube keine Lockerungen, ganz im Gegenteil: Kurz vor dem Pressebriefing am Dienstag brachte der „Directeur de la Santé“, Jean-Claude Schmit, in einem Bericht eine Verschärfung der geltenden Anti-Corona-Maßnahmen ins Spiel. (Foto: SIP/MSAN)

Diese Ambivalenz deckt sich auch mit Untersuchungen, die mehrere Maßnahmen miteinander vergleichen. Eine Studie der Universität Wien untersuchte etwa die weltweiten Maßnahmen in der ersten Coronavirus-Welle und kommt zum Schluss, dass Ausgangsbeschränkungen nur wenig zum Rückgang der Neuinfektionen beitragen. Andere Maßnahmen, wie das Schließen von Schulen, Geschäften und Restaurants, das Homeoffice oder Reisebeschränkungen seien wesentlich wirkungsvoller.

„Es kommt hier auf das Maßnahmenbündel an“, sagt Studienleiter Peter Klimek auf Nachfrage von Reporter.lu. „Selbst wenn restriktive Ausgangssperren eingeführt werden, helfen die wenig, wenn etwa die begleitenden Maßnahmen zur Risikokommunikation nicht mehr greifen und die Bevölkerung nicht mehr gewillt ist, die Maßnahmen mitzutragen.“ Der Wissenschaftler betont damit auch die zunehmende „Pandemiemüdigkeit“, die im Vergleich zur ersten Welle als Erfolgsfaktor bei einzelnen Restriktionen eine stärkere Rolle spiele.

Wirksamkeit lässt sich kaum nachweisen

Dennoch kann eine Ausgangssperre nicht als völlig wirkungslos gelten. Wissenschaftler des französischen Gesundheitsministeriums analysierten, welchen Einfluss die regionalen Ausgangssperren in Frankreich auf das Infektionsgeschehen hatten. Ab dem 17. Oktober galt in neun Großstädten das strikte „couvre feu“, eine Woche später waren neun weitere Metropolen von der Maßnahme betroffen. Lediglich Bordeaux, Brest, Metz und Nantes blieben bis zu Beginn des nationalen Lockdowns am 30. Oktober von einer Ausgangssperre verschont.

Im Vergleich zeigt sich, dass die Städte mit einer frühzeitig eingeführten Ausgangssperre bereits vor dem Lockdown den Höchstwert an Infektionen erreicht hatten. Zudem beruhigte sich das Infektionsgeschehen dort schneller. Die Ergebnisse seien demnach „ein Zeichen für einen positiven Einfluss der Maßnahmen“, so die Autoren.

Wo wir jetzt mit den Zahlen angekommen sind, liegen wir weiterhin sehr hoch. Das bedeutet ein hohes Risiko eines plötzlichen Anstiegs von heute auf morgen.“
Gesundheitsministerin Paulette Lenert

Inwiefern die fallenden Neuinfektionen der Ausgangssperre zugerechnet werden können, ist jedoch auch in diesen Fällen fraglich. Die zweiwöchigen Schulferien, eine verbesserte Krisenkommunikation oder lokale Maßnahmen, wie etwa Restaurantschließungen, könnten eine wesentliche Rolle gespielt haben, räumen die Wissenschaftler ein. Eine genaue Zuordnung ist demnach kaum möglich. „Aufgrund der regional unterschiedlichen Maßnahmen, ist eine Effizienzbewertung nicht möglich“, schrieb der französische Wissenschaftsrat bereits Ende Oktober.

Allerdings wollen verschiedene Modellrechnungen die Wirksamkeit nachgewiesen haben. Dabei spiele der Beginn der Ausgangssperre eine entscheidende Rolle. Je früher desto größer sei der Effekt. Eine Simulation der TU Berlin zeigt, dass eine Ausgangssperre nach 22 Uhr nur eine schwache Wirkung entfalten kann. Genau dies soll ab kommendem Montag allerdings in Luxemburg wieder die Regel sein.

Regierung greift eigenen Kriterien vor

Die Lage sei weiter angespannt, aber die Tendenz zeige in die richtige Richtung, meinte Premier Xavier Bettel am Dienstag vor der Presse. Im „Exposé des motifs“ der neuen Gesetzesvorlage steht jedoch, dass die Auswirkungen der Maßnahmen vom 26. Dezember noch nicht endgültig bewertet werden könnten. Auch Paulette Lenert betonte, als sie am Dienstag neben dem Premier vor die Presse trat: „Wir können, Stand heute, noch nicht genau evaluieren, wie sich die Feiertage definitiv auf die Lage auswirken werden.“

Im Klartext: Die Regierung wartet jetzt also nicht ab, ob jene Kriterien, die sie beim letzten Covid-Gesetz selbst aufgestellt hatte, letztlich eingehalten werden.

Am Montag hatte die Gesundheitsministerin zudem noch als Ziel genannt, dass die von Ärzten verschriebenen Tests nur zu maximal drei Prozent positiv sein dürften. Doch die tatsächliche Lage ist eine andere: Die Positivitätsrate der Tests „sur ordonnance“ lag seit dem 21. Dezember konstant bei fünf bis sechs Prozent. Also doppelt so hoch wie die Richtzahl, die auch die EU-Seuchenbehörde ECDC empfiehlt.

Am Dienstag verwies Paulette Lenert in einem Nebensatz auf die Gefahr, die eine solch hohe Positivitätsrate birgt. „Wo wir jetzt mit den Zahlen angekommen sind, liegen wir weiterhin sehr hoch. Das bedeutet ein hohes Risiko eines plötzlichen Anstiegs von heute auf morgen“, betonte die Gesundheitsministerin.

„Contact Tracing“ bleibt schwer möglich

Die Regierung missachtet noch ein weiteres Kriterium, das sie selbst formuliert hatte. Noch Mitte Dezember gab sie als Ziel an, dass nach dem neuen Lockdown das „Contact Tracing“ wieder vollumfänglich möglich sein müsse. Laut dem Gesundheitsministerium ist dies erst unterhalb von 120 bis 150 Neuinfektionen pro Tag gegeben. Der Sieben-Tagesschnitt liegt jedoch nach wie vor knapp über dieser Grenze. Allerdings ist der Effekt der Feiertage noch nicht komplett ersichtlich.

Oberhalb von 150 täglichen Neuinfektionen ist die Kontaktverfolgung nicht nur logistisch schwierig, sondern auch ihr Erfolg nimmt ab. Es würden nie alle Kontakte erfasst, erklärte Paulette Lenert am Dienstag. Das Ziel der Regierung müsse sein, die Zahlen „schnellstmöglich“ unter diese Grenze zu bringen. Schon Ende Oktober verlor die Gesundheitsbehörde bei der Kontaktverfolgung die Kontrolle, wie „Santé“-Direktor Jean-Claude Schmit damals im Interview mit Reporter.lu einräumte. Menschen, die dem Virus ausgesetzt waren, wurden ab diesem Zeitpunkt nur per E-Mail kontaktiert. Das Tracing-Team hatte zum Teil mehrere Tage Verzug beim Anrufen positiv getesteter Personen.

Eine wesentliche Entspannung zeigt sich dagegen in den Krankenhäusern. Mit den aktuellen Infektionszahlen könnte die Überlastung des Gesundheitssystems längerfristig verhindert werden, was letztlich für die Regierung ein wichtiger Grund für die jetzt geplanten Lockerungen sein dürfte. Hier geht das Gesundheitsministerium von einer Höchstgrenze von 200 Neuinfektionen pro Tag aus.

Schulöffnung ohne Datengrundlage

Problematischer ist dagegen die Lage in den Schulen. Sie sollen nach dem Willen der Regierung ab kommendem Montag wieder in den Präsenzunterricht schalten. Bis zum 8. Januar sollen alle Schüler und Lehrer durchgetestet werden. Wie viele das Angebot annehmen und wie die Testergebnisse bisher ausgefallen sind, wollte die Gesundheitsministerin nicht sagen. Die Regierung beschloss die Öffnung der Schulen ohne aktuelle Datengrundlage – oder wollte diese nicht öffentlich preisgeben.

Neue Maßnahmen ohne klare Datengrundlage: Die faktenarme Regierungspolitik lässt sich zum Beispiel an der geplanten Wiederöffnung der Schulen veranschaulichen. (Foto: Eric Engel)

Dabei bereiteten die Zahlen vor den Ferien den Experten durchaus Sorgen. Die Infektionen bei Kindern unter 14 Jahren seien im Dezember deutlich angestiegen, heißt es in der Einschätzung der Gesundheitsbehörde vom 4. Januar. In den zwei Wochen vor den Ferien seien in den Schulen jeweils 700 bzw. 800 Infektionen festgestellt worden. Die wöchentlichen Berichte zu den Infektionszahlen zeigten ebenfalls, dass Schüler im Dezember stärker von der Pandemie betroffen waren. Der Anteil der bis 19-Jährigen schwankte zwischen 23 und 24 Prozent – sie machen aber nur knapp 20 Prozent der Bevölkerung aus.

Anekdoten und neue Verwirrungen

Dass nun trotz ausdrücklicher Warnung der eigenen Berater im Gesundheitsministerium weitere Lockerungen beschlossen wurden, ist angesichts all dieser Faktoren kaum erklärbar. Das machte auch der Auftritt von Xavier Bettel und Paulette Lenert auf der Pressekonferenz am Dienstag deutlich. Nachdem sie die Wiederöffnung von Schulen, Geschäften, Theatern, Kinos und Sporteinrichtungen verkündet hatte, sagte die Gesundheitsministerin: Sie verstehe diese Maßnahmen nicht als Lockerungen.

Auch die Begründung der punktuellen Aufhebung der bisherigen Restriktionen fällt dabei eher ins Anekdotische als ins Faktische. Der Grund für die neuen Maßnahmen sei die psychische Belastung der Bevölkerung, betonte Premierminister Xavier Bettel am Dienstag. Während einer Stippvisite in den Krankenhäusern hätten Verantwortliche die Regierung vor den psychologischen Folgen der Pandemie gewarnt. Eine nachvollziehbare Datenlage dafür habe der Krisenstab allerdings nicht, räumte Paulette Lenert später auf Nachfrage ein.

Indes trug ausgerechnet Jean-Claude Schmit am Dienstag weiter zur Verwirrung bei. Während er sich am Montag in der dokumentierten Analyse noch für weitere Verschärfungen im Kampf gegen die Pandemie ausgesprochen hatte, äußerte sich der Direktor der „Santé“ am Dienstagabend ganz anders. „Wir können uns zurzeit erlauben, vielleicht ein wenig aufzulockern“, so Jean-Claude Schmit im Interview mit „Radio 100,7“.

Damit widersprach der Infektiologe aber nicht nur seinem eigenen Bericht vom Vortag, sondern auch der Gesundheitsministerin, die die angekündigten Lockerungen eben nicht als Lockerungen bezeichnen wollte.


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