Ob Lockdown, Lockerungen oder neue Einschränkungen: Der Politik fehlt es offenbar an klaren Daten, um ihre Entscheidungen zu begründen. Bei den jüngsten Maßnahmen werden so ziemlich alle Widersprüche deutlich, die die Regierungspolitik seit Wochen kennzeichnen. Eine Analyse.
Gleich vorweg: Dass sie schlecht vorbereitet gewesen wäre, kann man der Regierung dieses Mal nicht vorwerfen. Denn die neuen Anpassungen am Covid-Gesetz, die an Heiligabend verabschiedet wurden, lagen laut einem Anhang auf Seite 50 des Dokuments mindestens schon am 9. Dezember in der Schublade des Gesundheitsministeriums. Damit lässt sich die Kritik, wonach die Regierungspolitik die Entwicklung der Krise in den vergangenen Wochen zu wenig antizipieren würde, aber nur teilweise entkräften.
Denn auch wenn die Koalition seit Wochen mehrere Szenarien ausgearbeitet hat, hat sie mit der letztlichen Entscheidung trotzdem lange gewartet. Noch am 9. Dezember, also als die jetzigen Verschärfungen intern schon spruchreif waren, wehrten sich Premier Xavier Bettel (DP) und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) öffentlich noch vehement gegen den Eindruck, dass Luxemburg vor einem neuen „harten Lockdown“ stehe. In der folgenden Woche wurden im Parlament dann leichte Anpassungen am „Teil-Lockdown“-Konzept vorgenommen.
Schon damals konnten Bettel und Lenert auf Nachfrage nicht erklären, auf welche Daten sie sich bei ihrer abwartenden Haltung genau beziehen. Und auch jetzt, beim Beschluss zur Schließung von nicht-essenziellen Geschäften und der Verschärfung der Ausgangssperre, stützen sich die Regierenden offenbar auf eine eher diffuse Bewertung der Lage. Die täglichen Neuinfektionen gehen zwar seit rund zwei Wochen zurück. Doch man wolle diese Entwicklung weiter verstärken, heißt die Devise der Regierung.
Abstrakte Lagebewertung
Damit beruft sich die Koalition bei ihrem Handeln letztlich auf die gleiche abstrakte Lagebewertung, die sie schon zur Rechtfertigung des wochenlangen Abwartens anführte. Weder auf der letzten Pressekonferenz vor Weihnachten noch bei der späteren Debatte im Parlament konnten oder wollten Xavier Bettel und Paulette Lenert erklären, auf welche Daten sie sich bei ihren Maßnahmen konkret berufen. Erst auf mehrfache Nachfrage sagte Paulette Lenert beim Pressebriefing am 21. Dezember, dass die Regierung sich an einer Kombination aus Neuinfektionen, Altersstruktur der Infizierten und der Lage in den Krankenhäusern orientiere. Was letztlich den Ausschlag gab, blieb jedoch unklar.
Als Kompensation für ihren Sonderweg beschloss die Regierung eine Ausgangssperre, an deren Wirkung hinter vorgehaltener Hand auch so mancher Koalitionspolitiker oder hoher Beamte zweifelt.“
Dabei wird das „Exposé des motifs“ des an Heiligabend verabschiedeten Gesetzes an mancher Stelle doch etwas deutlicher. Die Coronavirus-Inzidenz bleibe im Vergleich mit den Nachbarländern auf einem „sehr hohen Niveau“, wobei die Nachbarn bereits „sehr strenge Maßnahmen“ getroffen hätten. Die Lage in den Krankenhäusern sei „extrem angespannt“, heißt es weiter. „In fine“ würden die Todeszahlen weiter ansteigen und Luxemburg habe es mit einer „Übersterblichkeit“ zu tun. Die hiesige Sterblichkeitsrate sei mittlerweile höher als in Belgien, Deutschland und Frankreich.
Durch die Einleitung der Novelle des Covid-Gesetzes zieht sich eine durchaus nüchterne Analyse. Im Vergleich zu den Reden des Premiers und der Gesundheitsministerin lässt sich der Ernst der Lage auch prompt erkennen. Die hohe Corona-Sterblichkeit spielte dagegen bei den rezenten Auftritten von Xavier Bettel und Paulette Lenert nur noch eine untergeordnete Rolle. Der Premier erwähnte die Menschen, die durch die andauernde Pandemie ihr Leben verloren, bei der letzten Pressekonferenz vor Weihnachten mit keinem Wort. Dabei wäre dies durchaus einer jener Fakten, die eine Verschärfung der Maßnahmen rechtfertigen könnten.
Politischer Offenbarungseid
Statt der ungeschönten Schilderung der Situation setzen die Krisenmanager offenbar lieber auf ihre bewährten rhetorischen Stilmittel. Dazu gehört nicht zuletzt der ständige Appell an die Eigenverantwortung der Bürger. Doch selbst dieser wiederkehrende Diskurs hat sich in den vergangenen Tagen und Wochen gewandelt. Denn mittlerweile trauen die Regierenden ihren Bürgern offensichtlich nicht mehr allzu viel Verständnis und vernünftiges Handeln zu.

Man habe etwa erwartet, dass sich die Menschen an Weihnachten vielleicht nicht an die Besuchsobergrenzen halten werden, sagte die Gesundheitsministerin auf der besagten Pressekonferenz. Das klingt im ersten Moment wie eine realistische, zumindest nicht ganz abwegige Einschätzung.
Doch ist es auch ein politischer Offenbarungseid. Denn wenn die Regierung schon damit rechnet, dass sich die Bürger nicht an die von der Politik festgelegten Regeln halten, dann kann das letztlich nicht nur an den Bürgern liegen. Vielleicht ist es auch das Timing und die politische Kommunikation der vergangenen Wochen, eventuell auch die handwerklichen Fehler, die von der Opposition und dem Staatsrat regelmäßig offengelegt werden. Ja vielleicht sind es sogar die mitunter widersprüchlichen Regeln selbst, die zur mangelnden Akzeptanz in der Bevölkerung beitragen.
Selektiver Umgang mit Fakten
Gekoppelt mit der faktenarmen Untermauerung der Verbotspolitik wurde der Gestaltungsspielraum der Regierung damit seit geraumer Zeit deutlich kleiner. Dabei scheint sich zumindest die Gesundheitsministerin des Problems durchaus bewusst zu sein. Sie verstehe, dass die Öffentlichkeit gerne „neue Erkenntnisse“ haben würde, welche die einzelnen Maßnahmen rechtfertigen könnten. Letztlich gebe es aber nur langsame Fortschritte in der Forschung zur Wirksamkeit von politischen Maßnahmen in der Pandemie.
Wie auch die jüngste Debatte im Parlament zeigte, gilt dieser Befund insbesondere für die Vorverlegung des Beginns der Ausgangssperre von 23 auf 21 Uhr. Es sei schwierig, den Effekt einzelner Maßnahmen nachzuweisen, sagte die Gesundheitsministerin zur Verteidigung jener Freiheitseinschränkung, die unter den Parteien am umstrittensten ist. Die fragwürdige Argumentation nach dem Motto „Wir wissen es auch nicht, aber wir machen es trotzdem“ dürfte dabei nicht nur den härtesten Kritikern der Regierung aufgefallen sein.
Studien sind besonders in dieser Pandemie stets mit Vorsicht zu genießen. Das gilt vor allem dann, wenn Politiker sie selektiv und ohne die wissenschaftlich gebotene Skepsis zur Rechtfertigung ihrer Politik anführen.“
Dabei versuchte Paulette Lenert ihre Reden durchaus mit neuen Fakten anzureichern. So verwies die Ministerin mehrmals auf Studien, die erste Erkenntnisse über die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen liefern würden. Sowohl vor der Presse als auch in den Diskussionen im parlamentarischen Gesundheitsausschuss zitierte die Ministerin eine Studie des französischen „Institut Pasteur“. Sie wollte damit untermauern, dass die meisten Infektionszahlen auf Versammlungen im Privaten zurückzuführen seien.
In der Tat liefert die Studie gewisse Erkenntnisse zum Ansteckungsort. Allerdings gehört die Wirksamkeit einer Ausgangssperre nicht zu den Befunden der Untersuchung. Zudem warnen die Autoren ausdrücklich in einer fettgedruckten Passage davor, die Ergebnisse ihrer Studie „zum Zweck einer Analyse der gesamten Infektionsbevölkerung zu generalisieren“. Und zu guter Letzt hätte die Regierung eine ähnliche Studie, die auf Befragungen von Infizierten beruht, längst selbst im eigenen Land in Auftrag geben können, wenn es ihr denn um eine bessere Faktenlage zur Begründung der eigenen Politik gehen würde.
Fragwürdige Ausgangssperre
Wie es die Autoren selbst betonen, sind solche Studien aber ohnehin, und besonders in dieser Pandemie, mit Vorsicht zu genießen. Das gilt vor allem dann, wenn Politiker sie selektiv und ohne die wissenschaftlich gebotene Skepsis zur Rechtfertigung ihrer Politik anführen. Denn wie fast immer und zu nahezu jedem Thema gibt es solche und solche Studien. In diesem Fall gibt es jene, die die Politik der Regierung untermauern können oder ihr zumindest nicht widersprechen. Aber es gibt auch die anderen, mit denen man die jüngsten Maßnahmen der Regierung wirksam kritisieren kann.
Ein Beispiel: Eine Studie der Universität Wien, die die weltweiten Maßnahmen in der ersten Coronavirus-Welle untersuchte, kommt etwa zum Schluss, dass Ausgangsbeschränkungen nur wenig zum Rückgang des Infektionsgeschehens beitragen. Eine nächtliche Sperrstunde und Alkoholverbote, wie jüngst in Luxemburg beschlossen, spielen laut den Forschern im Kampf gegen das Virus keine herausragende Rolle.
Auch wenn sich die Wirksamkeit des Krisenmanagements nicht an einer einzelnen Maßnahme bewerten lässt, trägt die möglichst faktenreiche Begründung jeder einzelnen Maßnahme natürlich zum Erfolg der Gesamtstrategie bei.“
Studienleiter Peter Klimek wurde kürzlich im „Deutschlandfunk“ mit der Einschätzung zitiert, wonach er bei zu starken nächtlichen Auflagen die Gefahr sehe, „dass sich Feiern und Zusammenkünfte zunehmend in den privaten Raum verlagern“. In diesem Sinne könnte ein genereller „Couvre-feu“ sogar kontraproduktiv sein. Zudem würden seine Analysen zeigen, so Klimek weiter, „dass Ausgangssperren kaum mehr Effekte bringen, wenn etwa bereits fast alle Geschäfte geschlossen sind“. Es ist dies ein offensichtlicher Widerspruch der aktuellen Luxemburger Krisenpolitik, den auch der Staatsrat in seinem jüngsten Gutachten hervorhob.
Laut der besagten Studie sei dagegen die Schließung von Bildungseinrichtungen „die bei weitem wirksamste Maßnahme“ zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie. Hoch wirksam seien zudem das Schließen von Geschäften und Restaurants, das Homeoffice, Reisebeschränkungen sowie verstärkte Hygienemaßnahmen in Krankenhäusern und anderen systemrelevanten Berufsbereichen.
Entscheidend für die Forscher ist dabei die Verringerung der effektiven Reproduktionszahl. Die Zahl gibt an, wie viele Menschen von einer infizierten Person im Durchschnitt weiter angesteckt werden. In Luxemburg liegt sie heute bei 0,37, vor den Feiertagen lag sie jedoch noch bei 0,88 und davor relativ konstant über eins.
Die Logik des Sonderwegs
Dabei sollte man auch im Umgang mit dieser Studie Vorsicht walten lassen. Auch bei der wissenschaftlichen Wirksamkeitsforschung handelt es sich um einen ersten Entwurf der Durchdringung einer globalen Pandemie ungeahnten Ausmaßes. Doch dieses Beispiel veranschaulicht zumindest, dass es durchaus tiefergehende Fakten gibt, die man als Entscheidungsträger in seine Politik einfließen lassen kann. Und auch die komplexe Deutung mehrerer Studien, also die offensive Thematisierung von faktischen Widersprüchen, sollte man den Bürgern zumuten können.

Im Rückblick zeigt sich, dass Luxemburgs Regierung im Vergleich zum Ausland mit jenen Maßnahmen zögerte, die in der zitierten Studie als am wirksamsten gelten. Die Koalition sprach sich lange gegen Schulschließungen aus, obwohl sie die Studien zur Ansteckungsgefahr in den Bildungseinrichtungen und zur Weiterverbreitung des Virus gekannt haben muss. Sie entschied sich auch gegen eine Schließung von nicht-essenziellen Geschäften und ermöglichte im Gegenteil Händlern und Kunden ein weitgehend normales Vorweihnachtsgeschäft.
Als Kompensation für ihren Sonderweg beschloss die Regierung Ende Oktober eine Ausgangssperre, an deren Wirkung hinter vorgehaltener Hand auch so mancher Koalitionspolitiker oder hoher Beamte zweifelt. Entsprechend schwach ist in diesem Punkt bis heute die Überzeugungsarbeit. Paulette Lenert begründete die Restriktion vergangene Woche damit, dass dank der Maßnahme ja abends weniger Leute unterwegs seien, es also logischerweise weniger Kontakte gebe. Premier Xavier Bettel warb für die längere Ausgangssperre mit dem nicht weiter ausgeführten Hinweis, dass andere Länder zum Teil noch strenger vorgehen würden. Stichhaltigere Begründungen gab es bisher nicht.
Obwohl die Argumente schwach bis inexistent sind, stimmten die Koalitionsparteien an Heiligabend für die Ausweitung des „Couvre-feu“, bei geschlossener Ablehnung durch die Opposition. Die CSV, die den Rest des neuen Gesetzes mittrug, hatte eine separate Abstimmung über die verschärfte Ausgangssperre beantragt.
„Je früher, desto besser“
In einem wichtigen Punkt hatten Xavier Bettel und Paulette Lenert in ihren Reden aber freilich recht: Um die Kurve abzuflachen, kommt es auf die richtige Kombination von Maßnahmen an. Das sehen auch die Forscher der Universität Wien so. Damit ein „cleverer Maßnahmenmix“ Erfolg verspricht, komme allerdings noch ein weiterer Faktor hinzu, der in der Bewältigung dieser Pandemie von Anfang als entscheidend gilt: „je früher, desto besser“.
Timing sei sogar „die halbe Miete“, so ein weiteres Fazit der Studie, die über 6.000 Einzelmaßnahmen in 79 Ländern und Regionen verglichen hat. Mehr noch: „Frühe und freiwillige Interventionen sind wirksamer als solche, die spät und verpflichtend eingeführt werden“, so das internationale und multidisziplinäre Forscherteam. Dabei lässt sich nicht abstreiten, dass Luxemburg in der zweiten Welle alles andere als ein „first mover“ war. Folgt man der Logik der Studie, traf die Regierung mit wochenlanger Verspätung nun Entscheidungen, die zu einem früheren Zeitpunkt selbst in abgeschwächter Form eine stärkere Wirkung hätten entfalten können.
Apropos frühzeitig und freiwillig: An dieser Stelle kommt freilich wieder die Wichtigkeit einer professionellen, proaktiven Krisenkommunikation ins Spiel. Auch wenn sich die Wirksamkeit des Krisenmanagements nicht an einer einzelnen Maßnahme bewerten lässt, trägt die möglichst faktenreiche Begründung jeder einzelnen Maßnahme natürlich zum Erfolg der Gesamtstrategie bei.
Letztlich könnte die Regierung trotz ihrer politischen Versäumnisse und Widersprüche aber am Ende Recht behalten. Schon allein wegen des Effekts der Feiertage und der Schulferien dürfte sich das Infektionsgeschehen in den kommenden Tagen verlangsamen. Und dennoch sind die Widersprüche des blau-rot-grünen Krisenmanagements nicht mehr wegzudiskutieren. Die Regierung könnte jedoch aus den eigenen Versäumnissen lernen und sich einer differenzierteren, stärker auf Fakten basierten Politik verschreiben. Den Erfolgsaussichten der nun begonnenen Impfkampagne gegen das Coronavirus dürfte diese Erkenntnis auch nicht schaden.
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