Die wissenschaftlichen Belege häufen sich, wonach das Coronavirus auch über längere Zeit in der Luft nachweisbar bleibt. Ohne zusätzliche Schutzmaßnahmen erhöht sich dadurch vor allem in Innenräumen die Infektionsgefahr. Besonders in den Schulen könnte das zum Problem werden.
Es ist die siebte von insgesamt acht Empfehlungen des Gesundheitsministeriums an die Lehrer und Schüler: Räume sollen regelmäßig gelüftet werden. Wie genau, wie oft, für welchen Zeitraum? Die Details legte das Ministerium nicht fest. Die Gefahr, dass sich das Coronavirus in Innenräumen ausbreiten kann, soll durch das Lüften verringert werden. Es ist eine Kampfansage gegen winzige Tröpfchen, also schwebende Teilchen in der Luft, durch die man sich mit dem Sars-CoV-2-Virus anstecken kann.
Wie bei anderen Atemwegserkrankungen verbreitet sich das Virus über Tröpfchen von den Schleimhäuten. Ausreichend Abstand und das Tragen von Masken sollen dafür sorgen, dass keine größeren Tröpfchen von einem Infizierten auf einen gesunden Menschen weitergegeben werden können. Gegen die winzigen Tröpfchen können die besagten Maßnahmen aber nur bedingt schützen. Trotz Einhalten des Abstands könne man sich etwa in geschlossenen Büroräumen oder Klassenzimmern anstecken, warnen manche Experten. Denn anders als bei Tropfen, die etwa durch Husten entstehen und die größtenteils binnen kurzer Zeit zu Boden fallen, könnten sogenannte Aerosole mehrere Minuten lang in der Luft schweben und sich unsichtbar ausbreiten.
Unterschätztes Infektionspotenzial
Dass Viren auch für längere Zeit in der Luft schweben können und dabei infektiös bleiben, ist keine neue Erkenntnis. Bereits bei Masern oder Windpocken konnten Übertragungen durch kleinste Tröpfchen nachgewiesen werden. Allerdings bestand lange die Hoffnung, dass dies beim neuartigen Coronavirus nicht der Fall ist.
„Das gleiche Phänomen können wir beobachten, wenn man warm duscht. Scheint die Sonne in das Badezimmer, sieht man kleine Partikel in der Luft schweben, das nennt sich dann Aerosole“, erklärt der Virologe Claude Muller vom „Luxembourg Institute of Health“ im Gespräch mit REPORTER. Ohne Lichtstrahlen wären diese aber kaum sichtbar – die Verbreitung bliebe unbemerkt.
Der längere Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen kann die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als zwei Meter erhöhen.“Robert-Koch-Institut
Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie steht die Frage im Raum, wie häufig Übertragungen per Aerosol stattfinden. Der deutsche Virologe Christian Drosten ging Anfang April noch davon aus, dass dieser „Mechanismus nicht im Vordergrund stehe.“ Denn winzige Tröpfchen würden zwar längere Zeit in der Luft schweben, hätten dafür aber eine geringere Viruslast und würden demnach schneller austrocknen.
Einen Monat später verwies er in seinem Podcast auf neue Studien und schätzte, dass nach seinem Gefühl doch etwa die Hälfte der Infektionen durch Aerosole bedingt seien. Auch das deutsche Robert Koch-Institut geht von Aerosolen neben der Tröpfcheninfektion mittlerweile als einem von zwei Hauptübertragungswegen aus.
Umstrittene Rolle von Aerosolen
Die deutschen Experten sind nicht die einzigen, die rezent vor Aerosol-Übertragungen warnen. Anfang Juli wandten sich 240 Forscher in einem Brief an die Weltgesundheitsorganisation, um auf die mögliche Übertragung von Sars-CoV-2 über die Luft aufmerksam zu machen. Die WHO reagierte lediglich mit einer Klarstellung, dass dies zwar möglich sei, die Übertragung aber primär über größere Tröpfchen stattfinde – sprich, wenn ein Infizierter jemanden anhustet oder eine feuchte Aussprache hat. Laut der Weltgesundheitsorganisation benötige man noch zusätzliche Studien, um die Viruslast in der Luft zu belegen. Doch mehrere Wissenschaftler berichten, dass die Gefahr auch schon bei anderen Viren stets unterschätzt wurde.
In einer neuen Untersuchung wollen US-Forscher bewiesen haben, dass das Virus in einem winzigen Tröpfchen, das über mehrere Minuten in der Luft schwebt und eine größere Distanz zurücklegt, weiterhin eine Zelle befallen kann. Die Frage ist also nicht, ob Infektionen durch winzige Tröpfchen verursacht werden, sondern in welchem Maße.
Zwar werden Cluster in Schulen selten bleiben, aber da es schlicht so viele Schulen gibt, hat das Virus auch viele Gelegenheiten, sich auszubreiten.“
Claude Muller, Virologe
Da es sich bei den Tröpfchengrößen allerdings um ein Spektrum handelt, gibt es keine klare Trennschärfe zwischen reiner Tröpfcheninfektion und einer Übertragung durch Aerosole. In der Regel sprechen Forscher von Tröpfchen, wenn ein Partikel größer als fünf Mikrometer ist – das entspricht höchstens einem Sechstel der Breite eines Haares.
Konkret heißt das etwa: Niest ein Infizierter in einem Fahrstuhl, würde der Großteil der Tröpfchen gleich oder schnell zu Boden fallen. Durch schnelle Verdunstung könnten allerdings einige wenige Tröpfchen noch kleiner werden und zu Aerosolen werden. Diese können auch noch über mehrere Minuten im Fahrstuhl in der Luft schweben, also auch nachdem der Infizierte den Aufzug bereits verlassen hat. Die Grenzen zwischen den Übertragungsweisen sind fließend.
Schule als mögliche Infektionscluster
Die Übertragung durch die Luft würde allerdings bedeuten, dass die Ansteckungsgefahr in geschlossenen Räumen größer ist als bisher angenommen. Anzeichen dafür gibt es bereits. Laut einer Studie aus Japan ist die Wahrscheinlichkeit, sich in Innenräumen anzustecken, fast 19-Mal größer als an der frischen Luft. Nur im Freien verfliegen die Tröpfchen schnell und stellen deshalb kaum ein Risiko dar – ein Grund, warum zum Beispiel kaum neue Fälle auf sogenannte Corona-Demos zurückzuführen sind.
In einem Meinungsbeitrag in der „Zeit“ macht der Virologe Christian Drosten nun darauf aufmerksam, dass man sich darauf einstellen müsse, dass auch Schulklassen zu möglichen Infektionsclustern werden könnten. Eine Gefahr, die auch in Luxemburg besteht. „Zwar werden Cluster in Schulen selten bleiben, aber da es schlicht so viele Schulen gibt, hat das Virus auch viele Gelegenheiten, sich auszubreiten“, sagt der Luxemburger Virologe Claude Muller.
Andere Experten schätzen das Risiko jedoch weniger hoch ein. Im Rückblick auf die letzten Monate sei die Sorge vor Infektionsclustern in den Schulen nicht zu begründen, meint etwa die Ärztin Isabel de la Fuenta Garcia. „In der Mehrheit der Länder kam es zu keinen Clusterbildungen in den Schulen“, so die Kinderärztin des „Centre Hospitalier de Luxembourg“ (CHL) im Interview mit „Radio 100,7“.
Nicht umsetzbare Empfehlung
Allerdings könnte in den Herbst- und Wintermonaten die Übertragung durch Aerosole eine stärkere Rolle spielen als in den letzten Monaten. Im Sommer konnten Schüler mit offenen Fenstern unterrichtet werden, bei fallenden Temperaturen wird dies schwieriger. „Der längere Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen kann die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als zwei Meter erhöhen“, schreibt das deutsche Robert-Koch-Institut in seinem aktuellen Covid-19-Steckbrief.
In verschiedenen Gebäuden stellte sich allerdings bereits in den letzten Monaten die Frage der Umsetzbarkeit einer regelmäßigen Belüftung. In vielen Grund- und Sekundarschulen können die Fenster etwa nicht vollständig geöffnet werden. Als Sicherheitsmaßnahme ist es in den Schulgebäuden oft nur möglich, Fenster zu kippen – eine Stoßlüftung wäre also kaum durchführbar. Es bleibt fraglich, inwiefern das Ministerium dies in seinem für den Herbst angekündigten Stufenmodell berücksichtigen wird.
Es ist nur einer der Gründe, warum das Ministerium bis jetzt keine allgemein gültigen Empfehlungen geben konnte. Wie viel Zeit es benötigt, die Raumluft auszutauschen, hängt von zu vielen Faktoren ab. Je nach Größe, Einteilung und Anzahl der Fenster muss öfter oder für längere Zeit gelüftet werden. Da die Behörden, anders als etwa in Deutschland, nur spärlich über das Risiko von Aerosol-Übertragungen informieren, waren die Lehrer in den letzten Monaten also notgedrungen auf sich allein gestellt.
Plädoyer für Maskenpflicht in Schulen
Auch technische Lösungen können nur bedingt Abhilfe leisten. Das Ministerium empfiehlt – wenn möglich – vollständig auf Frischluftzufuhr umzustellen. Jedoch besitzen nicht alle Schulen solche Systeme. Manche Virologen empfehlen in solchen Fällen zum Beispiel sogenannte „HEPA-Filter“ einzusetzen, die die Luft im Raum ständig austauschen und das Virus abfiltern. Diese kommen etwa in Labors oder auch in Flugzeugen zum Einsatz und sorgen für ständige Frischluftzufuhr. Allerdings wäre eine solche Aufrüstung mit hohen Kosten verbunden. Zudem könnte die Gefahr bestehen, dass diese gerade in älteren Gebäuden durch Straßenstaub schnell verstopft werden könnten, sagt Claude Muller.
Der Luxemburger Virologe befürwortet dagegen eine allgemeine Maskenpflicht auch während des Unterrichts – etwas, was auch die deutsche Gesellschaft für Virologie den Behörden empfiehlt. „Ich glaube schon, dass man das den Kindern zumuten kann“, sagt Claude Muller. Eine Atemschutzmaske biete zwar keinen vollständigen Schutz, aber sie würde sicherlich zu einer weiteren Risikominimierung beitragen, so der Virologe.
Letztlich stellt sich stets die Frage, wie weit man zu gehen bereit ist, um Risiken zu beseitigen“Dr. Claude Muller
Eine Maskenpflicht könnte sich zudem in das zukünftige Stufenmodell des Bildungsministeriums einfügen. Im Interview mit REPORTER erklärte Claude Meisch (DP), dass er sich vorstellen könne, den Schulen eine gewisse Autonomie in der Bekämpfung der Pandemie zuzugestehen. Eine der Optionen wäre die Maskenpflicht, auch wenn der Minister dieser Maßnahme persönlich eher skeptisch gegenübersteht.
Ein Restrisiko ist unausweichlich
„Letztlich stellt sich stets die Frage, wie weit man zu gehen bereit ist, um Risiken zu beseitigen“, sagt Claude Muller. Der Virologe des „Luxembourg Institute of Health“ könnte sich noch weitere Maßnahmen vorstellen, wie etwa die Installation von UV-C-Lampen, die das Virus abtöten, oder die Messung der Körpertemperatur vor Betreten der Schule. Er gibt jedoch zu bedenken, dass die Wirksamkeit von zusätzlichen Maßnahmen kontinuierlich abnimmt. Die verschiedenen Maßnahmen bauen aufeinander auf, daher können neue Maßnahmen die Gefahr nur in geringem Maße verringern.
Maske tragen, Hände waschen, Distanz einhalten: Mit dem Mantra der Pandemiebekämpfung können Risiken bereits stark eingegrenzt werden. Ganz verschwinden kann die Ansteckungsgefahr allerdings nicht, so Luxemburgs führender Viren-Experte. Für die Politik gilt es also, das Infektionspotenzial stets aufs Neue zu beurteilen. Eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit Aerosolen könnte dabei der erste Schritt zu einem Konzept für das kommende „Covid-Schuljahr“ sein.