Das nächste Schuljahr wird vermutlich ganz im Zeichen von Covid-19 stehen, sagt Bildungsminister Claude Meisch im Interview mit REPORTER. Ein Gespräch über die Vorbereitungen für die „Rentrée“, den schwierigen Dialog mit den Gewerkschaften und das Schicksal jedes Bildungsministers.

Interview: Pol Reuter

Herr Meisch, wie gehen Sie mit Unsicherheiten um, wenn Sie eine Entscheidung treffen müssen?

Wir sind immer in Situationen, in denen es keine 100-prozentige Sicherheit gibt, in denen unterschiedliche Meinungen geäußert werden und in denen nicht alle Informationen bekannt sind. Als Politiker muss man auch in solchen Situationen, eine Entscheidung treffen. Ich habe einen Grundsatz, der sich durch meine politische Karriere zieht: Die schlechteste Entscheidung ist keine Entscheidung zu treffen, das ist in der Regel immer falsch. Im März haben wir die Schulen geschlossen, da wir davon ausgingen, dass die Schüler das Virus mit in den privaten Haushalt tragen könnten. Mittlerweile wissen wir, dass das in einem geringeren Maß stattfindet …

In Israel wurde die zweite Welle jedoch gerade durch die Rückkehr zur Schule ausgelöst …

Wir haben aber ein ganz anderes Schulsystem als Israel. Dort arbeitet man viel in kleinen Gruppen zusammen, wodurch die Kinder weit mehr Kontakt mit ihren Mitschülern haben als in Luxemburg. Ein Vorteil – in Anführungszeichen – unseres Schulsystems ist es, dass noch stark auf Frontalunterricht gesetzt wird.

Es gab aber auch positive Fälle in Luxemburg.

Das bedeutet aber nicht, dass die Schule das Problem ist. Die Schüler haben sich nicht in der Schule infiziert oder das Virus dort weiter verbreitet.

War es nicht nur ein glücklicher Zufall, dass sich das Virus nicht in den Schulen ausgebreitet hat?

Nein, durch das andere Schulkonzept konnte sich das Virus in Israel leichter ausbreiten. Zusätzlich konnten die möglichen Kontakte noch weiter eingeschränkt werden. Das geschah etwa durch das Ausfallen der optionalen Fächer und die Schließung der Schulkantine. Zudem half, dass man in der Grundschule die gleichen Gruppen in den Klassen und der „Maison Relais“ hatte.

Wenn wir in einer solchen Notlage darauf warten würden, dass alle sich einig sind, machen wir gar nichts mehr.“

Was sind die Lehren, die Sie aus den letzten Monaten gezogen haben?

Wir müssen flexibel bleiben. Das Virus könnte sich verändern und damit könnte sich auch die Herausforderung in der Schule verändern. Wir haben jetzt Erfahrung gesammelt mit einer schrittweisen Rückkehr zur Normalität. Trotzdem blieben die Hygieneregeln in den Klassen strikt, Schulzeiten wurden angepasst und die Kantinen blieben geschlossen. Unsere Anweisung an die Schulen ist es, auch im September wieder so anzufangen, wie wir jetzt im Juli aufgehört haben.

Das nächste Schuljahr wird also genau so ablaufen wie dieses?

Mehr als die Hälfte des letzten Jahres konnte normal ablaufen. Unser Ziel war es, es anschließend so gut wie möglich abzuschließen. Ich glaube, das ist uns im Vergleich zu anderen Ländern gelungen. Wir mussten das Jahr nicht abbrechen, sondern nur anpassen. Jetzt fängt ein neues Jahr an. Wir können es aber nicht mit der gleichen Einstellung beginnen, wie wir das letzte beendet haben. Wir müssen uns darauf einstellen, dass es ein ganzes Covid-Jahr wird.

Man muss abwägen zwischen den Meinungen von Virologen und Pädagogen.“

In einem Interview erwähnten Sie, dass das Ministerium an einem sogenannten Stufenmodell arbeiten würde. Es soll den Schulen die nötige Flexibilität für das kommende „Covid-Schuljahr“ geben und gezielter auf neue Ereignisse reagieren. Jedoch wurden auch jetzt schon nur Klassen und nicht gesamte Schulen in Quarantäne gesetzt. Wie soll es sich von dem jetzigen Modell unterscheiden?

Das wird schon anders sein. Bis jetzt haben wir stets Entscheidungen für alle Schulen umgesetzt und nur zwischen der Grund- und Sekundarschule unterschieden. Was wir jetzt umsetzen wollen, ist gezielter auf regionale Umstände einzugehen. Sollte das Virus etwa in einer Region besonders stark verbreitet sein, müssen die Schulen andere Maßnahmen beschließen. Und das unabhängig davon, ob es bereits in der Schule vorhanden ist oder nicht. Dann müssen wir vielleicht sagen, dass die Schulkantine geschlossen bleibt, der Optionskurs ausfällt oder die Maskenpflicht ausgeweitet wird.

Claude Meisch ist seit 2013 Bildungs-, Hochschul- und Forschungsminister. Vor seinem Regierungsmandat war er unter anderem Bürgermeister von Differdingen, Präsident der DP und anschließend Fraktionsvorsitzender der Partei. (Foto: Eric Engel)

Die Deutsche Gesellschaft für Virologie hat nun auch empfohlen, die Maskenpflicht während des Unterrichts einzuführen. Wollen Sie in diesem Punkt nachbessern?

Ich bin da eher skeptisch. Man muss abwägen zwischen den Meinungen von Virologen und Pädagogen. Für mich ist das ein ständiger Prozess. Wir müssen eine Balance finden zwischen dem, was wir tun müssen, um die Verbreitung des Virus einzugrenzen, und dem, was garantiert werden muss, um einen kindgerechten Unterricht durchzuführen. Ich habe deshalb immer noch Schwierigkeiten damit, die Kinder zu verpflichten, während des Unterrichts eine Maske zu tragen.

Für manche Menschen bleibt die Schule eine Gefahrenquelle. Wie wollen Sie die Risikogruppen schützen?

Natürlich hat dieser Schutz Vorrang. Die betroffenen Lehrer können den Unterricht etwa weiterhin per Videokonferenz halten oder einen neuen Posten übernehmen, in dem sie weniger Kontakte haben. Das Gleiche gilt natürlich auch für Schüler, die einen Fernunterricht besuchen können. Über den Sommer haben wir jetzt zusätzliches informatisches Material bestellt, um sicherzustellen, dass für die Schüler der Fernunterricht eine Option bleibt. Ich habe auch Schulen besucht, in denen Schüler per Video zugeschaltet wurden und die sich ohne Schwierigkeiten am Unterricht beteiligen konnten.

In einer demokratischen Gesellschaft ist es gut, kontrovers über Bildung und Chancengleichheit zu reden.“

Als Bildungsminister sind Sie gewohnt, mit Kritik umzugehen. Im April kam es dennoch zu einer besonderen Situation. Die eigentlich zerstrittenen Lehrer- und Schülergewerkschaften haben Sie gemeinsam aufgefordert, mit ihnen zu diskutieren und nicht nur von Ihnen informiert zu werden. Warum haben Sie keinen Dialog gesucht?

Vom ersten Tag an haben wir den Dialog gesucht. Bereits im März haben wir sowohl mit den Schuldirektionen als auch mit den Gewerkschaften geredet…

Die Gewerkschaften werfen Ihnen aber vor, nur zu informieren und nicht in eine Diskussion zu treten.

Ich würde sagen, „konsultieren“ wäre die richtige Wortwahl. Vor allen größeren Ankündigungen haben wir stets eine Beratungsrunde mit allen Vertretern des Bildungssektors organisiert. Da ergibt sich nicht zwingend eine einheitliche Meinung. Ich habe während diesen Sitzungen auch stets die Betroffenen informiert, was das Ministerium sich vorstellt zu tun und danach haben wir natürlich als Ministerium eine Entscheidung getroffen.

Sprich die Meinungen waren nicht miteinander vereinbar?

In der Grundschule hatten drei Gewerkschaften unterschiedliche Auffassungen, was im „Cycle 1“ getan werden soll. Eine wollte nicht mehr öffnen, die andere wollte eine Wiedereröffnung und die dritte wollten es den Eltern freistellen, die Kinder in die Schule zu schicken oder nicht. Jemand muss am Ende die Entscheidung treffen. Wenn wir in einer solchen Notlage darauf warten würden, dass alle sich einig sind, machen wir gar nichts mehr.

Ich mache mir keine Mühe, ein psychologisches Profil von Lehrergewerkschaften zu erstellen.“

Die Abschaffung der A/B-Klassen sorgte auch für reichlich Kritik. War eine Absprache mit den Gewerkschaften nicht möglich?

Zwei Gewerkschaften waren skeptisch gegenüber einer solchen Möglichkeit und zwei weitere sahen darin kein Problem oder es war genau das, was sie gefordert hatten. Als die Klassen dann am 29. Juni wieder zusammengeführt wurden, war das nicht mehr der Fall. Alle waren dagegen.

Warum?

Das weiß ich auch nicht. Ich mache mir keine Mühe, ein psychologisches Profil von Lehrergewerkschaften zu erstellen. Damit will ich nur verdeutlichen, was die Grenzen eines solchen Dialogs sind. Ich verstehe, dass eine Gewerkschaft durch das vorgegebene Tempo vielleicht zuerst eine Maßnahme für gut befindet, um anschließend festzustellen, dass die Mitglieder dagegen sind.

Trotzdem gilt das Verhältnis zwischen Ihnen und den Gewerkschaften als besonders angespannt …

Wenn ich mit meinen Kollegen aus anderen europäischen Ländern rede, stelle ich fest, dass sie mehr Schwierigkeiten mit ihrem Personal haben als ich. Da wird gestreikt und demonstriert – Dinge, die ich in den letzten Jahren hier nicht erlebt habe. In einer demokratischen Gesellschaft ist es gut, kontrovers über Bildung und Chancengleichheit zu reden. Es wäre traurig, wenn es nicht so wäre. Für mich hat das nichts Außergewöhnliches, dass wir keinen Konsens finden.

Der Dialog sollte auch im Zentrum dieser Legislaturperiode stehen. Dennoch wurde weder der Bildungstisch eingeführt noch eine Versammlung des „Conseil Supérieur de l’Education Nationale“ einberufen. Warum?

Das Konzept für einen Bildungstisch steht, aber durch die Covid-Krise kommen wir da nicht mehr weiter. In dieser Phase sollten eigentlich die Diskussionen im „Conseil Supérieur“ und im Parlament beginnen. Sobald wir diese Krise bewältigt haben, wird es sicherlich eine unserer Prioritäten sein. Allerdings werden später auch nicht alle Entscheidungen am Bildungstisch getroffen. Dort können wir lediglich die zwei, drei großen strukturellen Änderungen, die man vielleicht in einer Legislaturperiode vorsieht, ausarbeiten. Für mich ist es wichtig, dort einen Konsens zu finden, weil ich der Meinung bin, dass die Bildungspolitik über eine Legislaturperiode hinaus gedacht werden muss. Ich würde vielleicht lieber einen Schritt weniger nehmen, um dafür Unterstützung für alle anderen Schritte zu erhalten.

Ich glaube, da sieht man auch, dass der Minister Claude Meisch zuhören kann, auf berechtigte Kritik eingeht und versucht neue Wege zu gehen.“

Ist das eine Lehre aus der letzten Legislaturperiode? Lehrergewerkschaften forderten ja, dass endlich wieder Ruhe in der Bildungspolitik einkehrt.

Ich verstehe den Wunsch nach Ruhe. Allerdings waren die Reformen der letzten Jahre dringend nötig. Die Sekundarschule beruhte auf einem Gesetz von 1968, die „éducation différenciée“ auf einem Text von 1973. Es gab einen gewissen Reformstau, der uns zwang, zu reagieren. Deshalb sah ich die Notwendigkeit für größere Diskussionen nicht. Auch wenn die Reform stark kritisiert wurde, hat sich die Lage jetzt beruhigt. Ich glaube, der Widerstand wäre größer, wenn ich sie jetzt wieder rückgängig machen würde.

Einerseits wollen Sie Reformen über eine Legislaturperiode hinaus denken und andererseits haben Sie den Text Ihrer Vorgängerin verworfen. Ist das nicht ein Widerspruch?

Hat man damals aus dem Fenster des Ministeriums geschaut, standen 6.000 Menschen vor der Tür, zu demonstrieren. Ich setzte mir schon das Ziel, die Absichten des Texts zu erfüllen und gleichzeitig eine hohe Zustimmung zu erreichen. In vielem gingen wir gar weiter als der ursprüngliche Text. Ich glaube, da sieht man auch, dass der Minister Claude Meisch zuhören kann, auf berechtigte Kritik eingeht und versucht, neue Wege zu gehen.

Einer dieser neuen Wege wäre, die Kinderbetreuung in Zukunft komplett kostenlos anzubieten. Ist das noch umsetzbar angesichts der finanziellen Lage des Staates?

Ich kann das heute noch nicht sagen. Die Regierung weiß ja auch noch nicht, welcher Spielraum für eine Steuerreform oder große Investitionsprojekte bleibt. Der Koalitionsvertrag hat noch immer seine Gültigkeit, aber natürlich müssen wir schauen, ob das noch in den finanziellen Rahmen passt, den wir nach der Krise haben.

Hätten wir keine Schulden aufgenommen, hätten wir der nächsten Generation sicherlich keine bessere Situation hinterlassen.“

Im Namen ihres Ministeriums steht auch die Jugend. Ist die schlechte finanzielle Lage des Staates nicht eine weitere Belastung für diese?

Seit März hat die Jugend eine enorme Solidarität mit den Älteren gezeigt. Ihr soziales Leben wurde eingeschränkt, obwohl klar ist, dass junge Menschen den Kontakt zu Gleichaltrigen benötigen, um voneinander zu lernen. Dabei ging es von Anfang an nicht darum, die Jugend zu schützen, da sie kaum einem Risiko ausgesetzt ist. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Gesellschaft der Jugend jetzt auch wieder etwas zurückgibt. Das heißt, die Schule soll wieder normal funktionieren, soziale Kontakte sollen wieder möglich sein und wir müssen ihnen wieder Perspektiven bieten – auch auf dem Arbeitsmarkt. Junge Menschen sind die ersten Verlierer einer Krise. Sie haben oft nur Kurzzeitverträge oder sie kommen erst von der Schule. Alle anderen werden vom Arbeitsrecht geschützt. Wir haben deshalb etwa entschieden, die freien Posten beim Staat auszuschreiben, um der Jugend Arbeit zu bieten.

Der gelernte Wirtschaftsmathematiker machte sich vor seinem Eintritt in die Regierung im Parlament vor allem einen Namen als Finanz- und Wirtschaftspolitiker. (Foto: Eric Engel)

Dennoch mussten in der Krise Schulden aufgenommen werden, die langfristig der Jugend zur Last fallen werden …

Es gab keine Alternative. Wir mussten den Menschen helfen, die von dieser Krise betroffen waren und die Unternehmen unterstützen, damit sie die Arbeit wieder aufnehmen können. Hätten wir das nicht gemacht, hätten wir der nächsten Generation sicherlich keine bessere Situation hinterlassen. Der Staat kann sich momentan diese Verschuldung erlauben. Aber kein Land kann das auf Dauer machen. Irgendwann müssen wir zurück zu einem System, in dem die Neuverschuldung nicht einen gewissen Prozentsatz des BIP übersteigen darf.

Es ist auch selten so, dass man die Schulden gleich tilgt. In der Regel werden sie kleiner, indem die Wirtschaft wächst. Wir müssen also schauen, wirtschaftlich gut da zu stehen, Arbeitsplätze zu schaffen und Perspektiven zu bieten. Dann können gesunde Unternehmen auch ihre Steuern zahlen und somit auch den Staat und die Krankenkasse am Laufen halten. Das ist das Allerwichtigste für die kommende Generation. Und dann bereiten mir die ein oder zwei Milliarden Euro zusätzliche Schulden wenig Kopfschmerzen.

2013 waren Sie noch als Finanzminister im Gespräch. Bereuen Sie noch immer nicht, sich für das Bildungsministerium entschieden zu haben?

(lacht) Das ist die Frage, die Journalisten mir am häufigsten stellen. Nein, das war genau das Ministerium, das ich haben wollte. Ich war mir aber natürlich der Gegebenheiten des Ministeriums und der Bildungspolitik bewusst.

Kann man als Bildungsminister in den Augen des Publikums überhaupt etwas richtig machen?

(lacht) Ich glaube, das muss das Publikum entscheiden. Als Politiker muss man damit leben, dass es unterschiedliche Meinungen gibt und man kritisiert wird. Ich bin aber ein überzeugter Demokrat. Ich akzeptiere das nicht nur, ich fordere die Menschen dazu auf, sich eine Meinung zu bilden und sie zu äußern. Die Kritik trifft mich ja nicht persönlich. Wenn morgen jemand anders hier sitzen würde, wären die Spielregeln die gleichen. Das hat nichts mit Claude Meisch zu tun, sondern mit dieser Funktion.