Die Zahl der Migranten, die Europa über die Mittelmeerroute erreichen, ist rückläufig. Die EU wird nicht müde dies mitzuteilen. Die Politik, der dieses Resultat zu verdanken ist, führt jedoch zu Menschenrechtsverletzungen und bringt Migranten in Gefahr. Ein Gespräch mit der Expertin für Migrationsrecht Violeta Moreno-Lax.
Interview: Charlotte Wirth
Es wird immer wieder darüber diskutiert, wer sich um die Rettung von Migranten im Mittelmeer kümmern soll und darf. Können Sie die Rechtslage erläutern?
Es ist wichtig zu verstehen, dass es eine rechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung gibt. Wir sprechen nicht von einem Recht auf Rettung, sondern von einer Pflicht, die im internationalem Recht festgehalten ist. Und die gilt für jeden, unabhängig von Nation und Status. Menschen in Seenot zu retten, ist das einzige, was zählt. Problematisch ist lediglich die Interpretation von Seenot. Malta hat zum Beispiel eine viel engere Auslegung als Italien. Generell beobachten wir, dass die Küstenstaaten ihrer Pflicht zur Hilfeleistung nicht nachkommen. Deswegen muss die Zivilgesellschaft eingreifen und Nichtregierungsorganisationen übernehmen die Rettungen.
In letzter Zeit übernimmt aber vor allem die libysche Küstenwache diese Aufgabe. Immer wieder berichten NGOs, dass sie von der libyschen Küstenwache bedroht werden, wenn sie eingreifen wollen – und das nicht nur vor der libyschen Küste, sondern auch in internationalen Gewässern. Wie konnte es soweit kommen?
Die libysche Küstenwache gibt es durch die Initiative Italiens und der EU. 2017 hat Italien eine Absichtserklärung unterzeichnet mit der international anerkannten libyschen Regierung der nationalen Einheit. Im Abkommen verspricht Italien unter anderem, für die Küstenwache zu zahlen. Als Gegenleistung hat sich Libyen dazu verpflichtet, Migranten aus Italien fernzuhalten. Doch die italienische Regierung, und damit meine ich die Vorgängerregierung, verhandelte gleichzeitig mit Milizenführern. Auch sie wurden Teil der Küstenwache. Diese Kooperation wird von der ganzen EU mitgetragen. Der EU-Rat verabschiedete die „Erklärung von Malta„, bei der es um die Ausbildung, Ausrüstung und Unterstützung der libyschen Küstenwache durch die EU mit Geldern des EU-Treuhandfonds für Afrika geht.
Dank Libyen bleiben die ungewollten Migranten aus Europa fern. Dafür gibt es Geld und Ressourcen und die EU verschließt die Augen vor Verstößen gegen die Menschenrechte.“
Tripolis ist also quasi eine Außenstelle für die Politik der EU geworden. Dank Libyen bleiben die ungewollten Migranten aus Europa fern. Dafür gibt es Geld und Ressourcen und die EU verschließt die Augen vor Verstößen gegen die Menschenrechte. Es gibt keine scharfen Worte gegen das Regime. Und es fließt immer mehr Geld nach Tripolis, zum Beispiel für den Bau von Lagern oder die Aufrüstung der Infrastrukturen zur Grenzkontrolle. Migranten sind zu politischen Schachfiguren geworden.
Es sind immer weniger NGOs im Mittelmeer aktiv. Inwiefern wird die Arbeit humanitärer Helfer eingeschränkt?
Aktuell gibt es mehrere Trends. Rettungsmissionen werden kriminalisiert, NGOs strafrechtlich verfolgt, es gibt immer mehr privatisierte Rettungen, wie zum Beispiel im Fall der libyschen Küstenwache. Dann beobachten wir zunehmend, dass Schiffe ihre Transpondersysteme ausschalten, wenn sie an Migranten in Not vorbeifahren. So wissen die Koordinatoren von Such- und Rettungsmissionen nicht, dass die Schiffe vor Ort sind, die Hilfe leisten könnten. Durch unser Projekt Sarobmed, das die Situation auf dem Mittelmeer überwacht, wissen wir zum Beispiel von einem Fall, bei dem ein US-amerikanisches Marineschiff seine Kommunikationsinstrumente ausgeschaltet hat, um unter dem Radar zu bleiben.
Die Staaten missachten ihre Rechtspflichten. Und der Grundsatz der Nichtzurückweisung wird mit Füßen getreten.“
Hinzu kommt, dass die Küstenstaaten zunehmend ihre Häfen schließen. Wir wissen von Fällen, in denen Italien und Malta private Schiffe dazu aufgefordert haben, Migranten zu retten, mit der Anweisung, sie nach Libyen zu bringen. All diese Trends sind problematisch. Die Staaten missachten ihre Rechtspflichten. Und der Grundsatz der Nichtzurückweisung wird mit Füßen getreten.
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat Libyen vor rund einem Jahr besucht. Er beschrieb die Lage als „katastrophal“. Was hat sich seitdem geändert und was tut die EU dagegen?
Die Situation in Libyen hat sich sogar noch verschlimmert. Eigentlich handelt es sich um zwei verschiedene Länder, die um die Macht kämpfen. Den Westen beherrscht die international anerkannte Regierung der nationalen Einheit. Im Osten haben Milizen die Kontrolle. Dort können nicht einmal das internationale Migrationsbüro oder die UN-Flüchtlingshilfe den Migranten helfen. Keine Organisation hat Zugang zu diesen Gebieten. Ohnehin haben sie nur Zugang zu den offiziellen Lagern. Doch es gibt etliche weitere Lager, in denen die Bedingungen noch schlimmer sind. Es gibt in Libyen keine funktionierende Strafverfolgung, keinen Rechtsstaat. Die EU-Kommission aber verhängt nicht einmal ein Waffenembargo. Viele Waffen aus aller Welt erreichen die Region. Offiziell heißt es, die Waffen seien für die Grenzkontrolle. Welche Kontrolle? Es gibt keine Kontrolle in Libyen. Und auch keine Friedensbemühungen.
Wie schätzen Sie die Entwicklung für die nahe Zukunft ein?
Die Gewalt in Libyen nimmt zu, nicht ab. Und die EU baut weiterhin auf eine Partnerschaft. Die EU-Gelder fließen weiter nach Libyen. Der Ausbau der Kapazitäten zur Grenzkontrolle wird als internationale Entwicklungshilfe bezeichnet. Die Finanzierung der libyschen Küstenwache wird als Teil des Demokratisierungsprozesses Libyens verkauft. Die Migranten aber stecken fest. Sie haben höchstens die Wahl zwischen zwei Gräueln: Eine Rückführung in ein Land, aus dem sie geflohen sind. Oder die Schrecken der libyschen Lager. Die Lage ist katastrophal. Das einzige, was die EU tut, ist auf eine freiwillige Rückführung in die jeweiligen Heimatländer zu drängen oder ein paar Migranten nach Niger zu bringen.
Die EU präsentiert ihre Maßnahmen aber als Erfolg. In letzter Zeit verweist sie immer wieder darauf, dass die Zahl an Migranten rückläufig ist …
Natürlich verkauft die EU das als Erfolg. Die Eingrenzung der Migration klappt wunderbar. Doch wenn wir Menschenrechte und Recht auf internationalen Schutz in die Rechnung mit einbeziehen, ist die Situation katastrophal. Doch Empathie für Migranten verkauft sich nicht. Grenzschutz und Migrationskontrolle sind überall ein Thema. Es beschränkt sich schon lange nicht mehr auf rechte oder populistische Regierungen. Auch Spanien diskutiert wieder mit Marokko darüber, die Grenzzäune zu verstärken. Auch in Griechenland werden NGOs und humanitäre Helfer kriminalisiert. Doch ich sage es nochmal: Menschen zu retten ist kein Recht. Es ist sicherlich kein Verbrechen. Es ist eine Pflicht.
Zur Person
Violeta Moreno-Lax ist Rechtswissenschaftlerin am College of Europe und an der Queen Mary Universität in London. Die Forscherin hat sich auf Migrationsrecht spezialisiert und untersucht insbesondere die europäische Migrationspolitik. Moreno-Lax hat unter anderem das Projekt „Sarobmed“ ins Leben gerufen, welches Rettungsaktionen und Menschenrechtsverletzungen entlang der Mittelmeerroute dokumentiert. Daneben ist sie Mitvorsitzende der Beobachtungsstelle für Migrationsrecht und berät sie EU- und andere Organe in Rechtsfragen.
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