Ruben Andersson forscht an der Universität Oxford zu Migration und Grenzschutz. Sein Buch Illegality Inc. deckt die Widersprüche von Europas Grenz- und Migrationspolitik auf. REPORTER erklärt er, wieso der Trend in der EU-Flüchtlingspolitik ein gefährlicher Kurs ist.
Wut und Faszination trieben den Anthropologen Ruben Andersson dazu, sich mit der Migration an der Grenze zwischen Afrika und Europa zu beschäftigen. Wut, weil die Politik es sich allzu einfach macht und gegen „illegale Migranten“ hetzt. Faszination, weil ihn der Mut jener jungen Menschen beeindruckte, die trotz aller Risiken auf ein besseres Leben in Europa hofften. Seine Forschungen führten ihn in die senegalesische Hauptstadt Dakar, in die Sahel-Wüste und in die spanische Exklave Ceuta. Mit REPORTER sprach er über seine Erkenntnisse und was sie uns in der aktuellen Debatte lehren.
REPORTER: Europa diskutiert zur Zeit wie sie die “Migrationskrise” bewältigen kann. Sie haben diesen Begriff wiederholt kritisiert. Wieso?
Ruben Andersson: Der Begriff wird zu oft und zu unüberlegt benutzt. Wenn wir über eine Krise sprechen wollen, über Migration und Vertreibung, dann geht es um eine weltweite Krise. Die meisten Migranten, Flüchtlinge und Binnenvertriebene werden im globalen Süden von Entwicklungsländern aufgenommen, von wirtschaftlich oder politisch fragilen Staaten, die oft selbst von Konflikten heimgesucht sind. Der Zustrom von Migranten und Flüchtlingen nach Europa und das Gefühl des Notstands, das damit einhergeht, ist auf ein politisches Problem zurückzuführen. Es ist eine politische Krise, die durch eine unzulängliche Grenz- und Migrationspolitik herbeigeführt wurde und die das Elend der Migranten und Flüchtlinge noch weiter verschlimmert.
Es gibt keinen gemeinsamen europäischen Ansatz mehr, keine gegenseitige Hilfe oder Solidarität.“
Wie äußert sich diese politische Krise aktuell?
Wir beobachten einen gefährlichen politischen Wandel. Immer mehr Akteure wollen die Sicherheitsmaßnahmen und Mittel zur Eindämmung der Migration nach Europa ausbauen. Doch das wird auf lange Sicht nicht zum Erfolg führen und hat auch in der Vergangenheit nicht geklappt. Die EU versucht lediglich die Symptome auf sehr schwerfällige und brutale Weise zu bekämpfen. Die Maßnahmen haben dagegen wenig mit nachhaltigen politischen Lösungen gemein. Forscher und andere Experten kritisieren dieses Vorgehen schon seit Jahrzehnten. Dazu kommt: Es gibt keinen gemeinsamen europäischen Ansatz mehr, keine gegenseitige Hilfe oder Solidarität. Die Mitgliedsstaaten bekämpfen sich gegenseitig. Und das ist eine politische Krise, keine Migrationskrise. Keine Grenzschutzmaßnahmen werden die politische Spaltung beheben. Es gibt keinen Beweis dafür, dass die angedachten Maßnahmen jetzt auf einmal erfolgreich sind, wenn sie es nie waren – im Gegenteil, sie betäuben höchstens die politische Krise.

Gab es 2015 eine „Flüchtlingswelle“?
Es gibt seit jeher eine überschaubare Zahl von Migranten und Flüchtlingen, die übers Meer oder übers Festland nach Europa kommen. 2014/15 kam es zu einem solch großen Andrang unter anderem, weil die Migranten und Flüchtlinge erfuhren, dass Europa vorhatte, die Außengrenzen zu verstärken. Sie wussten, dass die Grenzen dicht gemacht werden sollten, also galt die Devise: „jetzt oder nie“. Der große ‚Ansturm’ konnte natürlich dazu genutzt werden, die folgenden Maßnahmen zu legitimieren. Auf den kanarischen Inseln kam es zum Beispiel 2006 zu einem ähnlichen Zustrom. 2014/15 war demnach kein besonders schlimmer Einzelfall, sondern eine Zuspitzung dessen, was sich zuvor bereits in geringerem Umfang abspielte. Wir befinden uns in der sonderbaren Lage, in der Notstände durch unsere Politik mitverursacht werden. Dennoch: Die Zahlen sind überschaubar und der Andrang wäre mit einer besseren Migrationspolitik deutlich besser zu handhaben.
In Ihrem Buch Illegality Inc. beschreiben Sie die Art und Weise wie Migranten zum Objekt werden. Wie spielt sich das ab?
Ich habe besonders Migranten und Grenzwachen in Marokko und Westafrika beobachtet. In diesen Ländern werden irreguläre Migranten besonders anhand ihrer ‘Andersartigkeit’ erkannt, ihr Körper wird zur Zielscheibe. Das ist besonders beunruhigend in den Ländern, die von Europa finanziell unterstützt werden, um die Grenzen zu sichern – wie etwa Niger. In der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS können sich die Menschen frei bewegen, ähnlich wie im Schengen-Raum. Doch jetzt werden westafrikanische Migranten zum Ziel. Und das sogar, bevor sie irgendwelche Rechtsverletzungen begangen haben. Im Niger zum Beispiel werden ‘clandestins’ gezielt visiert. Sie werden an den Checkpoints festgehalten oder erpresst. Anhand der Sicherheitsmaßnahmen, die etwa im Maghreb eingerichtet wurden, werden schwarze Afrikaner in vielen Fällen nur aufgrund ihrer Hautfarbe zur Zielscheibe. Und je mehr die Grenzkontrollen verstärkt werden, desto schlimmer wird es. Der eigene Körper, die Art und Weise wie man aussieht, spricht und geht, wird benutzt, um einen aufzuspüren und Gewalt gegen einen anzuwenden.
In einem Artikel im „Guardian“ haben Sie die Reaktion der EU auf die ‚Migrationskrise’ als selbsterfüllende Prophezeiung charakterisiert. Was meinen Sie damit?
Die Forschung zeigt, dass das scharfe Vorgehen an den Grenzen lediglich dazu führt, dass Migranten immer gefährlichere Wege wählen: Sie kommen zum Beispiel übers Meer, statt sicherere Landrouten zu wählen. Sie müssen aufgrund der Sicherheitslage und gefährlichen Wege höhere Schmiergelder zahlen und werden immer abhängiger von Schmugglern. Und wo wir schon bei Schmugglern sind: Werden die kleinen Netzwerke zerschlagen, die die Migranten oft kennen und ihnen helfen den sichersten Weg zu finden, dann übernehmen an ihrer Stelle die großen, kriminellen und rücksichtslosen Netzwerke. Wenn Radare und andere Systeme eingesetzt werden, um Schiffe zu entdecken, dann greifen die Migranten und Schmuggler auf kleinere, unsichere Schlauchboote zurück. Die Migration wird also nicht gebremst, sie wird noch riskanter und gefährlicher.
Ihr Buch kritisiert die “Illegalitäts-Industrie”. Was verstehen Sie darunter?
Ich habe das Phänomen an der spanischen- und westafrikanischen Grenze beobachtet. Heute ist das Problem jedoch deutlich umfassender. Es gibt eine ganze Reihe an Akteuren, die von der Entscheidung Europas profitieren, mehr in den Grenzschutz und die Auslagerung der Grenzen zu investieren: Der Verteidigungssektor profitiert, indem er die benötigten Technologien, das Material und die Arbeitskraft liefert. Die Regierungen der Grenz- und Transitstaaten, die mit der EU zusammenarbeiten bringt die EU-Migrationspolitik Geld ein, gibt ihnen aber auch politische Macht. Je größer die Panik in Europa, je mehr Profit können die Grenzstaaten daraus schlagen – etwa die Türkei,. Für sie wird die ‚Migrationskrise’ zum Druckmittel. Sie erhalten EU-Gelder, um die Grenzen zu sichern und im Gegenzug können sie die Haltung der EU in anderen Fragen maßgeblich beeinflussen. Dann sieht Europa möglicherweise über Repression und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei hinweg.
Also braucht diese „Industrie“ die Migranten?
Auf gewisse Weise wird die Migration für die kooperierenden Staaten zum Kapital. Demnach gibt es viele politische und finanzielle Gründe um den ‚Migrationsdruck’ hochzuhalten. Mauretanien zum Beispiel galt in der Vergangenheit als Pufferzone für Spanien und Europa, da der Staat die Bootmigration zu den kanarischen Inseln aufhielt. Doch als die Zahl der Abfahrten zurückging, war das schlecht fürs Geschäft und man fing an gezielt Westafrikaner abzufangen, die als Wanderarbeiter nach Mauretanien gekommen waren. In Libyen beobachten wir das Gleiche. Libyen war ein Hauptziel für Wanderarbeiter. Doch seit der Regierungsführung Gaddafis wurden Migranten systematisch dazu benutzt, Europa zu erpressen, was zum heutigen Ausmaß an Repression und Gewalt gegen Migranten und Flüchtlingen führte. Migranten werden zum Spielball der Politik.
Einige der etablierten humanitären Akteure arbeiten eng mit dem Grenzschutz zusammen, so dass sich die Frage nach der Unabhängigkeit stellt.“
Wenn Europa die Sicherheitsmaßnahmen derart auslagert, trägt sie dann noch ihre Verantwortung?
Zahlreiche Sicherheitsakteure sind in die Grenzkontrolle involviert: Frontex, die Autoritäten der Grenzstaaten, private Technologie- und Sicherheitsunternehmen, humanitäre Gruppen. Doch wo bleibt ihre Pflicht, Rechenschaft abzulegen? Wenn zum Beispiel die libysche Küstenwache, die von der EU ausgebildet wird, Migranten misshandelt: Wer ist dann verantwortlich? Wenn algerische Truppen, die von der EU unterstützt werden, Migranten in der Wüste sich selbst überlassen: Wer wird zur Rechenschaft gezogen? Die EU muss sich ernsthaft damit auseinandersetzen, was an den Grenzen passiert und Rechenschaftspflichtmechanismen ausarbeiten.
Wie bewerten Sie die Rolle der Nichtregierungsorganisationen?
Es gibt so viele verschiedene Nichtregierungsorganisationen, dass es schwer ist eine allgemeine Aussage zu machen. Einige der etablierten humanitären Akteure arbeiten eng mit dem Grenzschutz zusammen, so dass sich die Frage nach der Unabhängigkeit stellt. Doch auf der anderen Seite würden die humanitären Helfer die Zusammenarbeit damit rechtfertigen, dass sie so Zugang zu den Migranten haben und ihnen helfen können. Sie spielen eine zwiespältige Rolle. Andere NGOs oder Freiwilligengruppen entwerfen eigene Rettungsstrategien und werden vermehrt für ihren Einsatz kritisiert. Doch in Libyen zum Beispiel will niemand die Verantwortung für die Rettung von Flüchtlingen übernehmen, obwohl das internationale Recht dazu verpflichtet. So müssen NGOs und Volontäre eingreifen. Es ist besorgniserregend, dass wir an einen Punkt angelangt sind, wo niemand mehr bereit ist zu helfen.
Ihre Träume und Hoffnungen standen auf dem Spiel, und dennoch gaben viele nicht auf.“
In Ihrem Buch beschreiben sie die Lage von Migranten, die regelrecht feststecken. Sie sitzen in Camps und können weder vor noch zurück. Wie kommt das?
Diese Leute befinden sich teils jahrelang im Ungewissen. Und das geschieht absichtlich. Ich habe das während meiner Recherchen in Spanien beobachtet, doch jetzt passiert das gleiche in Griechenland. Dahinter stecken politische Gründe: Man will andere Migranten davon abhalten nach Europa zu kommen. In Spanien hatten die Migranten wenigstens ein kleines bisschen Hoffnung darauf, in Europa Fuß zu fassen. In Griechenland und den anderen Grenzstaaten sieht das anders aus, dort gibt es kaum Hoffnung. Es ist eine bedrückende Erfahrung und sie zehrt an den Migranten, finanziell und emotional. Darüber hinaus schafft man eine sehr explosive Atmosphäre für die angrenzende Bevölkerung in der Nähe der Camps. Die Menschen, die ich traf, sind irgendwann weitergezogen, doch einige steckten jahrelang fest. Ihre Träume und Hoffnungen standen auf dem Spiel, und dennoch gaben viele nicht auf.
Europa will die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern beschleunigen. Glauben sie an einen Erfolg dieses Vorhabens?
Das Unterfangen ist für die Abschiebeländer schwierig und zudem kostspielig. Zum einen braucht es dazu ein Abkommen mit den mutmaßlichen Herkunftsländern. Und für die Herkunftsländer besteht das Risiko, dass politische Unruhen ausbrechen. Die Massenabschiebungen könnten das soziale Gefüge der Herkunftsländer sprengen. Viele dieser Länder gehören zu den am wenigsten entwickelten Staaten der Welt und sind politisch instabil. Aufgrund der teils dubiosen Praktiken zur Identifizierung der Migranten werden viele in die falschen Länder geschickt. Und dann besteht das Risiko, dass sich die Betroffenen direkt wieder auf den Weg gen Europa machen.
Die freiwillige Rückkehr ist nicht viel einfacher. Die Menschen, die nach Europa kommen – und ich spreche von jenen die auf eine bessere Zukunft hoffen – zahlen viel Geld für ihre Reise. Werden sie zurück geschickt, müssen sie sich vor ihrer Familie für ihr Scheitern rechtfertigen. Die von der EU finanzierten Re-Integrationsmaßnahmen in den Heimatländern sind dagegen halbherzig.