Um Migranten aus Europa fernzuhalten, arbeitet die EU mit der libyschen Regierung der nationalen Einheit zusammen. Beobachter kritisieren, dass sich die EU zum Komplizen von schweren Menschenrechtsverletzungen macht. Auch Jean Asselborn sieht Handlungsbedarf.

„If you don’t give us the migrants back in three minutes, we will kill you.“ So drohte die libysche Küstenwache der Besatzung eines Rettungsschiffes am 16. März immer wieder. Die spanische Hilfsorganisation Proactiva Open Arms hatte mit ihrem Schiff Flüchtlinge in Not aus internationalen Gewässern gerettet. Das Problem: Proactiva weigerte sich, die Menschen – unter ihnen geschwächte Frauen und Kinder – an Libyen zu übergeben, sondern wollte sie nach Sizilien bringen.

In Libyen drohen den Flüchtlingen monatelange Aufenthalte in Internierungslagern. Die libyschen Lager stehen immer wieder aufgrund verheerender Menschenrechtsverletzungen in der internationalen Kritik. 2017 zeigte der Sender CNN Aufnahmen von regelrechten Sklavenauktionen.

Dennoch wird weder die Situation in Libyen noch das Handeln der libyschen Küstenwache in Frage gestellt, sondern die spanische Hilfsorganisation. Ihr droht in Italien ein Gerichtsverfahren. Italienische Behörden haben das Schiff beschlagnahmt, mit dem die Organisation bereits hunderte Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hat. Der Vorwurf lautet: kriminelle Machenschaften und Unterstützung illegaler Migration.

Migranten fernhalten

Der Fall Proactiva ist nur ein weiteres Beispiel für die Mängel der europäischen Flüchtlingspolitik. Während auf der einen Seite humanitäre Hilfe zur Straftat wird, versucht die EU auf der anderen Seite mit beachtlichen finanziellen Mitteln, die Migration nach Europa über die Mittelmeerroute zu verhindern. Libyen ist in diesem Unterfangen ein zentraler Partner, ist der afrikanische Staat doch der Ausgangspunkt für die gefährliche Reise nach Italien.

Gerade Italien versucht über bilaterale Partnerschaften, wie das im Februar 2017 mit der libyschen Einheitsregierung unterzeichnete Memorandum of Understanding, die Flüchtlingsströme zu bremsen. In diesem Dokument ist ausdrücklich von „preventing departures“ die Rede. Die EU unterstützt nicht nur solche Initiativen, sondern versucht ebenfalls, über verschiedenste Instrumente und Operationen zu verhindern, dass sich Migranten von Libyen aus auf den Weg nach Europa machen: Das geht vom EU-Africa Trust Fund über bilaterale Abkommen bis hin zur Ausbildung einer libyschen Küstenwache.

Das hat jedoch gravierende Folgen: Es werden gezielt Migranten in einem Staat festgehalten, in dem Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung stehen, betont die Dozentin für Flüchtlingsrecht an der Queen Mary University London, Violeta Moreno-Lax. Ein Beispiel: Die Küstenwache bestehe größtenteils aus ehemaligen Schmugglern, erklärt die Forscherin.

Libyen im Bürgerkrieg

Während die Deals vermuten lassen, die EU würde mit einem stabilen Staat verhandeln, ist die libysche Regierung weitestgehend inexistent. Seit 2014 befindet sich das Land im Bürgerkrieg. Auf der einen Seite kontrollieren die Milizen der Regierung der Nationalen Einheit unter Fayez al-Sarraj die Hauptstadt Tripoli. Sie wird von den Vereinten Nationen und der EU unterstützt. Auf der Gegenseite kämpft der Militärführer Khalifa Haftar um die Macht.

Wieso interessiert man sich besonders für die Migranten? Was ist mit der libyschen Bevölkerung?“

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (LSAP) befürchtet, die Situation könne jederzeit zum Staatsstreich eskalieren. „Bereits 50 Kilometer außerhalb Tripolis hat al-Sarraj keine Kontrolle mehr“, betont er im Gespräch mit REPORTER. Dabei würde al-Sarraj von diversen Milizen unterstützt. „Selbst am Flughafen sieht man ein halbes Dutzend verschiedener Uniformen“, erzählt Asselborn, der erst kürzlich in Libyen war.

Die Gefahr ist groß, dass die Milizen überlaufen. Doch nicht nur herrscht Bürgerkrieg in Libyen, sondern auch der islamische Staat ist im nordafrikanischen Land präsent. Die Situation ist fragil: Hunderte armierte Gruppen und Milizen kämpfen um Öl, Macht und Kontrolle. Es gibt keine funktionierenden staatlichen Strukturen, keine Verfassung, keinen Haushaltsplan.

Menschenrechtsinstitutionen wie das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte OHCHR berichten von Menschenrechtsverletzungen und Übergriffen auf die Zivilbevölkerung. Ein Vertreter der libyschen Regierung brachte das Problem auf den Punkt als er kürzlich auf einer Konferenz im Europaparlament fragte: „Wieso interessiert man sich besonders für die Migranten? Was ist mit der libyschen Bevölkerung?“

„Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

Folter, Menschenhandel, Gewalt und Vergewaltigungen. Dies erwartet die rund 500.000 bis 700.000 „illegalen“ Migranten in vielen der Internierungslager. Dies bestätigen nicht nur Berichte von Menschenrechtsorganisation wie Human Rights Watch oder Amnesty International, sondern auch Untersuchungsberichte der Vereinten Nationen, wie des OHCHR.

In einem weiteren, noch unveröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen, der dem öffentlich-rechtlichen Sender ARD vorliegt, ist von systematischen Misshandlungen von Migranten durch Mitglieder und Truppen der Einheitsregierung die Rede – der Regierung also, die als EU-Partner in der Flüchtlingsfrage fungiert.

Mit der libyschen Regierung zusammenzuarbeiten, ist, als würde man sich mit dem Assad-Regime in Syrien verbünden.“Violeta Moreno-Lax

Auch Fatou Bensouda, die Staatsanwältin des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag hat im Mai 2017 angekündigt, Menschenrechtsverletzungen gegen Migranten in Libyen sowie die unmenschlichen Bedingungen in den Lagern zu untersuchen. Schickt die EU Migranten nach Libyen zurück, würde sie das Non-refoulement-Prinzip (Nichtzurückweisung) ausdrücklich verletzen und damit gegen internationales Recht verstoßen, unterstreicht Violeta Moreno-Lax. Dieses Prinzip verbietet die Auslieferung, Ausweisung oder Rückschiebung einer Person in ein Land in dem ein ernsthaftes Risiko von Folter, unmenschlicher Behandlung oder einer anderen sehr schweren Menschenrechtsverletzung besteht.

Die Expertin für Flüchtlingsrecht geht gar einen Schritt weiter: Eine Zusammenarbeit mit Libyen käme einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. „Mit der libyschen Regierung zusammenzuarbeiten, ist, als würde man sich mit dem Assad-Regime in Syrien verbünden. Es ist, als würde man mit dem Diktator zusammenarbeiten, bloß um die Leute in Syrien zu halten. Man schafft die Basis für einen Genozid.“

Die Bilder gehen einem so schnell nicht aus dem Kopf“Außenminister Jean Asselborn

Wille zur Besserung?

Jean Asselborn sieht das differenzierter. Er hatte in Tripolis den Eindruck, die Behörden seien transparent und bemühten sich, die Situation in den Lagern zu verbessern. Die Bedingungen seien allerdings nicht schönzureden. „Sie müssen sich vorstellen: Das ist ein ‚Schapp‘, in dem Hunderte Leute auf Decken auf dem Boden schlafen. Es sind zu 95 Prozent Männer, aber es waren auch Frauen mit Kinder darunter“, erzählt der Minister, der eines der Lager in Tripolis besucht hat. „Die Bilder gehen einem so schnell nicht aus dem Kopf“, so Asselborn weiter. Das Ziel sei es, dass illegale Gruppen oder Milizen kein Lager mehr kontrollieren und auffällige Camps unter UN-Kontrolle zu bringen.

Doch vor dem Hintergrund stellt sich die Frage, von welchen „Behörden“ die Rede ist und wie glaubwürdig deren Bemühungen sind. Jean Asselborn bestätigt: „Wir waren nur in Tripolis. Ich kann nur beschreiben, was ich dort gesehen habe.“

Wohin geht das Geld?

Da der Einfluss der anerkannten Übergangsregierung nicht viel weiter als die Hauptstadt reicht, stellt sich zugleich die Frage, wohin die EU-Gelder fließen, die eigentlich zur Eingrenzung, Rückführung und Verbesserung der Lebensbedingungen der Migranten in Libyen dienen sollen. Eine Sprecherin der EU-Kommission betont, dass keine EU-Gelder direkt an die libysche Regierung fließen. Die Kommission überwache streng, wie die Mittel genutzt werden.

Doch die ARD-Afrika-Korrespondentin Bettina Rühl kritisiert im Gespräch mit REPORTER, dass es schwer zu kontrollieren ist, was mit den Geldern tatsächlich passiert. Sie vermutet, dass womöglich hauptsächlich Milizen profitieren. Es läge nahe, dass die Ressourcen in Waffen fließen und so die internen Konflikte weiter geschürt werden – die politische Situation also noch instabiler wird.

Klar ist jedenfalls: Für die „illegalen“ Migranten, die in Libyen festsitzen, gibt es kein Vor oder Zurück. Nach Europa können sie nicht und sie dürfen nicht in einen Staat ausreisen, der das Genfer Flüchtlingsabkommen unterschrieben hat. Umsiedlung und Rückführung scheitern. So verweist die Kommission in einer Stellungnahme auf eine gemeinsame Operation der Europäischen Union, der UN und der Afrikanischen Union. Sie sah vor, Flüchtlinge aus Libyen in den Niger und von dort aus nach Europa zu bringen.

Die Kommission spricht von einem Erfolg – 1.300 Migranten wurden seit Dezember 2017 evakuiert. Sie vergisst aber zu erwähnen dass der Großteil von ihnen nun im Niger festsitzt: wie der EUObserver im März meldete, riskiert die  Operation ausgesetzt zu werden, weil die EU-Staaten nicht bereit sind, die Flüchtlinge aufzunehmen.

Ein wenig Menschlichkeit

Laut Asselborn ist die oberste Priorität, die Flüchtlinge, die in den Lagern festsitzen, schnellstmöglich in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Der Außenminister wünscht sich, dass für jene die freiwillig zurückkehren wollen, Strukturen geschaffen werden, damit sie nicht in Internierungslagern verharren müssen.

2018 sollen in diesem Rahmen 30.000 Migranten aus Libyen nach Senegal und Kamerun zurückgeführt werden. Diese Zahl ist angesichts der über 400.000 in Libyen gestrandeten Migranten, die laut IOM für Menschenrechtsverletzungen besonders gefährdet sind, erschreckend gering.

Wie kann man die Situation in Libyen entschärfen und langfristige Lösungen finden? Libyen brauche dringend eine Verfassung sowie demokratische Wahlen, sagt Jean Asselborn. Der Außenminister, der in Interviews gebetsmühlenartig die mangelnde Solidarität der EU-Mitgliedsstaaten kritisiert, legt seine ganze Hoffnung in die Vereinten Nationen und die Bemühungen des UN-Sonderbeauftragten für die Mission in Libyen, Ghassan Salamé. Dies sei der einzige Weg, „fir do e bësse Mënschlechkeet eranzebréngen.“