Die EU zögert weiterhin, ein Gasembargo gegen Russland zu verhängen. Zu groß ist die Sorge vor massiven wirtschaftlichen Folgen. Diese wären auch in Luxemburg spürbar. Vor allem großen Industrieunternehmen drohen Produktionsstopps.
Alle zwei Minuten geht eine Million Euro nach Moskau. So immens ist der Bedarf Europas an Gas, Öl und Kohle aus Russland. Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die EU rund 41 Milliarden Euro für fossile Energien an russische Unternehmen gezahlt. Und der Zähler läuft unerbittlich weiter.
Als „Blutgeld“ bezeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj diese Milliarden. In der EU herrscht denn auch Einigkeit, dass diese indirekte Finanzierung von Putins Krieg aufhören muss. Die Frage ist allerdings, ob innerhalb von Monaten oder Jahren. Ein erster Schritt wurde bereits beschlossen: Ab August tritt ein Kaufverbot für russische Kohle in Kraft.
„Nichts ist vom Tisch, auch nicht ein Embargo gegen Öl und Gas aus Russland“, sagte der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell vor rund zwei Wochen. Im kommenden Sanktionspaket der Europäischen Kommission wird ein solches Embargo aber weiter fehlen. In dieser Frage gebe es in der EU keine geschlossene Haltung, heißt es. „Einige Mitgliedstaaten haben sehr klar gesagt, dass sie ein Embargo oder einen Strafzoll auf russisches Öl oder Gas nicht unterstützen würden“, sagte Josep Borrell am Montag. Vor allem Deutschland, Österreich und Ungarn gelten als Bremser.
Sorge vor „Industrie-Lockdown“
Der Hintergrund der zögerlichen Haltung: Vor allem beim Gas hat Europa sich abhängig von Moskau gemacht. Der Grund war einfach: „Russisches Gas war am billigsten“, so Energieminister Claude Turmes (Déi Gréng) vergangene Woche anlässlich einer Konferenz des „Mouvement écologique“ zur Ukrainekrise. Demnach hält sich auch Luxemburgs Regierung in dieser Debatte merklich zurück. „Unsere Position lautet: Wenn es dazu eine europäische Linie gibt, und nur eine solche würde Sinn ergeben, dann sehe ich nicht, wie wir uns dem widersetzen könnten“, sagte Vizepremier François Bausch (Déi Gréng) jüngst im Interview mit Reporter.lu.
Ein umfassendes Embargo bedeutet einen umfassenden industriellen Lockdown.“Felix Matthes, deutscher Umweltökonom
Auch im Großherzogtum fürchtet man mögliche wirtschaftliche Verwerfungen. „Ein Gasembargo bedeutet, dass Teile der europäischen Industrie während der Wintermonate schließen müssen“, bringt Claude Turmes die Sorgen auf den Punkt. Im Winter ist der Gasverbrauch am höchsten, weil die Häuser und Wohnungen geheizt werden müssen. Für den Sommer sieht der zuständige Minister die Versorgung aber auch mit einem Embargo gegen Russland als gesichert an.
„Ein umfassendes Embargo bedeutet einen umfassenden industriellen Lockdown“, pflichtete Felix Matthes vom deutschen Öko-Institut dem Luxemburger Minister während der erwähnten Debatte des „Mouvement écologique“ bei. „Und was machen wir, wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert?“, fragte der Experte für Energiepolitik.
Diversifizierte Abhängigkeit
In Luxemburg bereiten sich die Betriebe indes auf alle Szenarien vor. Vor allem die Stahl-, Aluminium- und Glasindustrie sei hierzulande potenziell betroffen, erklärt das OGBL-Vorstandsmitglied Stefano Araujo im Gespräch mit Reporter.lu. Noch sind es aber nur Szenarien. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck rief Ende März die Warnstufe des Gas-Notfallplans aus. Energieminister Claude Turmes sah hierzulande keine Notwendigkeit dafür. „Luxemburg bezieht quasi kein Gas aus Russland“, sagte er im Interview mit „RTL Radio“.
Das „quasi“ ist aber ein dehnbarer Begriff. Denn Luxemburg ist Teil des belgischen Gasmarkts und bezieht von dort über zwei Pipelines mehr als drei Viertel seines Bedarfs. Dieses Gas stammt wiederum aus Großbritannien, Norwegen und Flüssiggasimporten via den belgischen Hafen Zeebrugge. Mit Deutschland ist Luxemburg durch eine dritte Pipeline verbunden, über die vor allem russisches Gas fließt. Eine Verbindung zum französischen Gasnetz besteht mittlerweile nicht mehr.

In der Bilanz bezog Luxemburg 2020 demnach 27 Prozent seines verbrauchten Erdgases aus Russland. Vergangenes Jahr sei der Import aus Deutschland – und damit auch der Anteil an russischem Gas – jedoch zurückgegangen, betonte Claude Turmes vergangene Woche. Das Statistikamt Statec geht davon aus, dass zwischen 15 und 20 Prozent des importierten Gases aus Russland stammte, heißt es auf Nachfrage von Reporter.lu.
Berechnungen des Brüsseler Instituts „Bruegel“, die Luxemburg bescheinigen, mehr als die Hälfte des Gases aus Russland zu beziehen, und die vergangene Woche auch so von der „Financial Times“ übernommen wurden, sind derweil eindeutig falsch Das Institut hatte nämlich nur die Pipeline Richtung Deutschland in Betracht gezogen, erklärt das Energieministerium auf Nachfrage von Reporter.lu.
Luxemburgs aktuelle Vorteile
Kommt es zu einem Gasembargo, ist Luxemburg also in einer etwas besseren Ausgangslage als andere Länder. Fällt Russland als Lieferant komplett aus, dann werden die Importe aus der Nordsee und das Flüssiggas aus den USA und dem Nahen Osten wichtiger. Für beide Einfuhrwege ist Zeebrugge ein wichtiger Knotenpunkt, erklärte Claude Turmes. Und von dort aus kann Luxemburg direkt beliefert werden.
Ein zweiter Vorteil beruht auf einem zeitlichen Zufall. Der riesige Ofen zur Glasproduktion von „Guardian“ in Düdelingen („Luxguard II“) steht zurzeit still. Damit entfällt einer der größten Verbraucher des Landes. „Das entlastet das Luxemburger Gasnetz wesentlich“, sagt Fedil-Direktor René Winkin im Gespräch mit Reporter.lu. Dazu kommt der Produktionsstopp beim Stahlverarbeiter „Liberty Steel“ aufgrund der Insolvenz des Lütticher Werks.
Der Unterschied ist gewaltig: Lag der industrielle Gasverbrauch in Luxemburg in den vergangenen vier Jahren zwischen 0,7 und 0,9 Terawattstunden, lag er seit Ende 2021 bei 0,5 Terawattstunden. Das geht aus einer weiteren Auswertung des Bruegel-Instituts hervor.
Begrenzte europäische Solidarität
Sollte die EU ein Gasembargo beschließen, dann setzt sich die Luxemburger Regierung für eine europäische Koordination ein. Auch der Industrieverband Fedil spricht sich dafür aus. Das bedeute dann aber auch, dass Luxemburg sich nicht auf seiner vergleichsweise geringen Abhängigkeit ausruhen könne. „Dann zählen die 40 Prozent an russischem Gas, das die EU insgesamt importiert“, so René Winkin.
Auch Luxemburg müsste seinen Verbrauch bei Engpässen also drosseln, damit die Folgen etwa in Deutschland weniger drastisch ausfallen. Die EU-Regularien sehen eine solche Solidarität bei Versorgungslücken ausdrücklich vor. Weder mit Deutschland noch mit Belgien hat Luxemburg jedoch bilaterale Abkommen unterschrieben, die diese Solidarität im Ernstfall regeln würden. Das bestätigt das Energieministerium auf Nachfrage von Reporter.lu. Die Verhandlungen stünden allerdings kurz vor dem Abschluss. Die Ukrainekrise habe den Prozess beschleunigt.
Die entsprechende EU-Verordnung sieht vor, dass die Nachbarländer erst helfen, wenn ein Land seine Notfallmaßnahmen bereits ausgereizt hat. Im Falle des Gasembargos wäre aber eher das Ziel, die wirtschaftlichen Folgen möglichst gemeinsam abzufedern. Das braucht politischen Willen.
Privathaushalte haben Vorrang
Im Ernstfall sind auch in Luxemburg die Regeln klar, festgehalten in dem im Februar aktualisierten „Plan de délestage“. Haushalte, kleine Unternehmen und wichtige Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser werden demnach prioritär versorgt. Große Industrieunternehmen wären dagegen als erste von Einschränkungen betroffen. Der Gasversorger „Creos“ hat diese in vier Blöcke eingeteilt. Es gibt eine jährliche Rotation, welcher Block zuerst von einer Drosselung der Gaslieferung betroffen wäre.
In erster Linie wären davon 27 Großkunden betroffen, die direkt an das Creos-Hauptnetz angeschlossen sind. Fünf Industrieunternehmen machten 2020 mehr als ein Viertel des gesamten Luxemburger Gasverbrauchs aus. Die Beschäftigten der betroffenen Unternehmen wären im Falle einer Drosselung oder eines Stopps der Produktion über die Kurzarbeit abgesichert. „Sie sind also geschützt“, sagt der OGBL-Vertreter Stefano Araujo.

Ob der Notfallplan im Fall eines Gasembargos eins zu eins umgesetzt würde, ist allerdings fraglich. Die Planung beruht eher auf dem Szenario einer kurzfristigen Unterbrechung der Versorgung – etwa durch eine Beschädigung einer Pipeline. Eine komplette Umgestaltung der Energieversorgung können diese Pläne nicht abdecken.
Die staatlich verordnete Abschaltung von Industrieunternehmen gilt dabei als die allerletzte Option. „Bevor über Notfallpläne eingegriffen wird, werden Regierungen sich anschauen, wie die Wirtschaft auf die höheren Preise reagiert“, sagt Professor Nils Löhndorf von der Universität Luxemburg. „Unternehmen werden die Produktion einstellen, wenn die Energiepreise zu hoch sind“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler.
Unterschiede je nach Branche
Zum Teil ist dieses Phänomen bereits heute erkennbar. In den ersten drei Monaten dieses Jahres verbrauchte die europäische Industrie aufgrund der hohen Preise etwa ein Fünftel weniger Gas als 2021, berechnete das Institut Bruegel. Der Glashersteller Guardian zog seine Erneuerung des Glasofens in Düdelingen vor, erklärt Stefano Araujo vom OGBL. Das Unternehmen wollte sich auf Nachfrage von Reporter.lu nicht dazu äußern.
Die hohen Energiepreise treffen dabei auf eine weiterhin hohe Nachfrage nach Glas und Stahl. Dadurch haben Unternehmen die Möglichkeit, die höheren Kosten an ihre Kunden weiterzureichen. „ArcelorMittal“ habe vergangenes Jahr etwa ein gutes Resultat verzeichnet, trotz der steigenden Energiepreise, betont der Gewerkschafter Stefano Araujo.
Hinter jedem Gasverbraucher steht eine Produktion, die dann mehr oder weniger wegbricht.“René Winkin, Fedil-Direktor
René Winkin warnt jedoch vor den Folgen auf die Lieferketten. „Hinter jedem Gasverbraucher steht eine Produktion, die dann mehr oder weniger wegbricht“, betont der Fedil-Direktor. Fehlt es an Glas, dann verlangsamt das die Energiewende, aber auch den Bau dringend benötigter Wohnungen. Doch alle würden Diskussionen über eine Priorisierung verschiedener Branchen vermeiden wollen, meint der Vertreter der Industrie.
Es fehlt demnach an Flexibilität im System. Manche Unternehmen hatten in ihrer Produktion noch vor wenigen Jahren Ersatzlösungen zum Gas zur Verfügung. Doch Kosten und Kommodo-Auflagen führten dazu, dass die Unternehmen darauf verzichteten, erklärt René Winkin. Das ist aber kein rein luxemburgisches Problem: „Resilienz brauche ich dann, wenn das Unglück passiert ist“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Nils Löhndorf. Sich mit Alternativen abzusichern, verursache Kosten. Das sei bei Gas nicht anders als in klassischen Lieferketten.
Verlässliche Prognosen über die Auswirkungen eines Energieembargos auf die Luxemburger Wirtschaft gibt es noch nicht. Dieses „Katastrophenszenario“ habe das Statec nicht durchgerechnet, sagte dessen Direktor Serge Allegrezza Anfang April im Interview mit „Radio 100,7“. Im Rahmen des Europäischen Semesters wird allerdings bald eine Berechnung benötigt.
Das Gute im Schlechten
Während Sie diesen Artikel gelesen haben, kamen übrigens rund drei Millionen Euro an „Blutgeld“ hinzu. Mit jeder weiteren russischen Offensive und Gräueltat wird der Druck auf die europäischen Regierungen wachsen, diesen Geldhahn zuzudrehen.
Während Politiker davor warnen, sich selbst mehr zu schaden als dem „Feind“, denken manche Beobachter bereits weiter. „Es wird keine Rückkehr zum Status quo geben“, sagte der Experte Felix Matthes während der Konferenz des „Mouvement écologique“ in Luxemburg. Auch der Gewerkschafter Stefano Araujo sieht in der Industrie eine beschleunigte Abwendung vom Gas und den Willen, die Produktion in Europa zu halten. Felix Matthes fasst es so zusammen: „Die Ukrainekrise sollte uns aufmerksam machen auf Dinge, die wir sowieso auf dem Weg zur Klimaneutralität angehen müssen“. Mit oder ohne Embargo.
Auch François Bausch kann der durch den Krieg ausgelösten Krise zumindest etwas Positives abgewinnen: „Wir kommen nicht am grundlegenden Wandel unserer Energiepolitik vorbei“, so der Vizepremier im Interview mit Reporter.lu. Die Energiewende dränge sich „nicht mehr nur aus klimapolitischen, sondern auch aus strategischen und geopolitischen Gründen auf“. Das sei aber zugegebenermaßen nur die mittelfristige Perspektive.


