Dem Rechtsanwalt André Lutgen wird die Beeinflussung eines Untersuchungsrichters vorgeworfen. Im Prozess gegen ihn geht es aber um mehr: Die Verteidigung befürchtet einen Präzedenzfall mit Folgen für den ganzen Berufsstand – und damit für die Justiz insgesamt.
Wenn in einem Prozess sowohl die Vorsitzende der Anwaltskammer als auch die Generalstaatsanwältin die guten Beziehungen zwischen Anwälten und Magistratur betonen müssen, dann ahnt man, dass es um diese schon mal besser stand. Im Prozess um den Rechtsanwalt André Lutgen steht dieses Verhältnis auf dem Prüfstand. Nicht nur die durch physische Anwesenheit beim Prozess demonstrierte Solidarität von vielen Berufskollegen Lutgens verdeutlicht dabei, dass es sich hier nicht um eine Routineangelegenheit handelt.
Das zeigt bereits der Blick auf die Anklageschrift, in der mit André Lutgen einer von Luxemburgs bekanntesten Rechtsanwälten als Beschuldigter geführt wird. Ein erfahrener Jurist, früher selbst Untersuchungsrichter, der sich nun wegen mutmaßlicher Einschüchterung eines Magistraten verantworten muss. Dem Anwalt wird zur Last gelegt, den Untersuchungsrichter Filipe Rodrigues Mitte 2019 durch E-Mails an den Justiz- und den Wirtschaftsminister sowie an die Generalstaatsanwältin eingeschüchtert zu haben.
Die Anklage basiert auf Artikel 251 („Actes d’intimidation contre personnes excerçant une fonction publique“) und Artikel 275 („Outrage envers (…) magistrats“) des Strafgesetzbuches, aber die Tragweite des Prozesses ist weitaus größer. Es geht darum, was Anwälte in Ausübung ihres Berufs unternehmen, wie sie sich verhalten und ausdrücken dürfen – und wann die Unabhängigkeit eines Richters dadurch beeinflusst wird.
Die Verteidigung befürchtet bei einer Verurteilung einen Präzedenzfall, der die Anwälte in der unabhängigen Ausübung ihrer Tätigkeit einschränken könnte. Sie beantragt den Freispruch in allen Anklagepunkten. Die Staatsanwaltschaft ist jedoch der Ansicht, dass André Lutgen die Grenzen seiner freien Meinungsäußerung überschritten habe, und fordert die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 2.000 Euro. Trotz dieser vergleichsweise niedrigen Summe hätte eine Verurteilung des Anwalts eine hohe Symbolkraft.
Ein Unfall und die Folgen
Vor Gericht rückte die eigentliche Grundlage des Verfahrens eher in den Hintergrund. Dabei ist sie äußerst tragisch: ein tödlicher Arbeitsunfall vom 27. Mai 2019 auf dem Areal des Stahlproduzenten ArcelorMittal in Differdingen.
Ein 45-jähriger Arbeiter kommt an diesem Montagvormittag infolge eines Stromschlags ums Leben. Der zuständige Untersuchungsrichter Filipe Rodrigues entsendet einen Gutachter vor Ort und lässt den Hauptstromschalter und einen Sicherungskasten in der Fabrik für die Dauer von dessen Analyse versiegeln. Es ist ein bei einer solchen Ermittlung üblicher Vorgang, der in diesem Fall aber mit sich bringt, dass Teile der Stahlproduktionskette ohne Strom sind. Sowohl das Werk in Differdingen als auch jenes in Belval sind beeinträchtigt. Die Verluste könnten sich laut Schätzungen auf 20 Millionen Euro pro Woche summieren, 200 Arbeitern droht Kurzarbeit. Zudem steht mit Christi Himmelfahrt ein Feier- und Brückentag vor der Tür.
André Lutgen ist Anwalt von ArcelorMittal und demnach sehr daran interessiert, dass die Zeitspanne der Versiegelung so kurz wie möglich ausfällt. Ab dem 28. Mai 2019 sucht er den Kontakt zum Untersuchungsrichter, um Informationen über die Dauer der Versiegelung zu bekommen. Gleichzeitig will er den Magistraten auf den Ernst der Lage aufmerksam machen. André Lutgen ist in seinen E-Mails und Faxen zunächst höflich, aber bestimmt. Doch er erhält nach einer ersten kurzen Rückmeldung nicht die erhofften Informationen …
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