Ein neuer Beitrag in einem Fachjournal untermauert die Bedeutung des „Large Scale Testing“ zur raschen Entdeckung von Covid-19-Infektionen. Das Beispiel zeigt jedoch auch, dass in Luxemburg die Grenzen zwischen Wissenschaft und politischer PR mitunter verschwimmen können.
„Les taux d’incidence de la COVID-19 par pays – une vision biaisée de la situation épidémiologique“, titeln das Gesundheitsministerium und das „Luxembourg Centre for Systems Biomedicine“ (LCSB) am Mittwoch in ihrer gemeinsamen Pressemitteilung. Sie beziehen sich auf eine neue Publikation von Paul Wilmes, Joël Mossong und Thomas Dentzer im medizinischen Fachjournal „Lancet Regional Health Europe“. Die Wissenschaftler machten in einem Kommentar darauf aufmerksam, dass die Inzidenz in Luxemburg kaum mit den Nachbarstaaten vergleichbar sei. Der Grund: Luxemburg teste weitaus mehr.
Die Zahlen sind in der Tat eindeutig. Luxemburg testet so viel wie kaum ein anderes Land der Welt. Im Schnitt wurde jeder Einwohner bereits 3,6-mal auf das Coronavirus Sars-CoV-2 getestet. Ein hoher Wert, der dem „Large Scale Testing“ zu verdanken ist. Dadurch fällt auch das Verhältnis von positiv Getesteten zur Gesamttestzahl in Luxemburg gering aus. Lediglich 2,6 Prozent der Tests sollen bis Ende März ein positives Ergebnis geliefert haben. In den Nachbarstaaten variiert diese Zahl zwischen 5,6 und 8,1 Prozent. In den Niederlanden waren sogar 17 Prozent der Tests positiv. Der Vergleich soll unterstreichen, dass die Teststrategie einen großen Einfluss auf das Monitoring der epidemiologischen Lage hat.
Doch mit ihrer Sichtweise bestätigen und untermauern die Autoren natürlich auch die Argumentationslinie der Regierung. Bei genauerem Hinsehen kommt es sogar zunehmend zu einer Vermischung der Interessen zwischen dem Gesundheitsministerium und unabhängigen Wissenschaftlern. Zumindest sind die Rollen nicht immer klar getrennt.
Mit Joël Mossong und Thomas Dentzer sind nämlich zwei Beamte, die für die staatliche Gesundheitsbehörde maßgeblich an der Umsetzung der luxemburgischen Strategie zur Eindämmung der Pandemie beteiligt waren, Co-Autoren der erwähnten Publikation. Die Argumentationslinie der Regierung konnte somit von ihren eigenen Beamten wissenschaftlich untermauert werden. Dabei ist es nicht das erste Mal, dass die Wissenschaft zum Verstärker der politischen PR der Regierung wird.
„Differenzierter Blick auf die Daten“
Immerhin betrifft der Kern der Publikation eine durchaus wichtige Feststellung. Die Autoren beziehen sich in ihrer Analyse auf Daten zu bereits überstandenen Infektionen. Demnach konnten Mitte Januar bei 7,7 Prozent der Bevölkerung Antikörper nachgewiesen werden. Auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet hätten sich somit 48.256 Menschen infiziert. Durch die PCR-Tests konnten 48.630 Infektionen nachgewiesen werden.
Die Forscher gehen deshalb von einer sehr niedrigen Zahl unentdeckter Fälle aus. Lediglich 0,8 Prozent blieben dementsprechend nicht entdeckt. „Bei leichten Infektionen können die Antikörper mit der Zeit abnehmen, so dass auch durch diese Testung nicht die Gesamtzahl der Infektionen erfasst werden kann“, erklärt Paul Wilmes vom „Luxembourg Centre for Systems Biomedicine“ im Gespräch mit Reporter.lu.

Der Sprecher der Covid-19 Taskforce betont allerdings, dass die geringe Diskrepanz ein Hinweis darauf sei, dass kaum Infektionen unentdeckt bleiben. Doch sowohl beim „Large Scale Testing“ als auch bei den serologischen Tests gibt es Lücken. In einer Studie zu den asymptomatischen Übertragungen wies Paul Wilmes gemeinsam mit Forscherkollegen bereits darauf hin, dass die Testbereitschaft in manchen Wirtschaftsbereichen eher gering ausfällt.
Dieses Problem stellt sich auch bei den Einladungen für serologische Tests, die über den gleichen Weg wie jene für das breitflächige Testen verschickt werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Daten ist im Kommentar in der Fachzeitschrift allerdings nicht vorhanden. „Eines der Hauptanliegen des Kommentars ist es, zu zeigen, dass die Größenordnung der entdeckten Fälle in Luxemburg stimmt“, erklärt Paul Wilmes.
Zudem gehe es darum, zu belegen, dass die Inzidenz nicht der einzige Anhaltspunkt für Entscheidungen sein sollte. „Alle Indikatoren sind problematisch. Aber wir müssen einen differenzierteren Blick auf die Daten haben, um diese zu vergleichen“, sagt der Co-Autor Joël Mossong. Nach einem Jahr gibt es auf europäischer Ebene jedoch noch immer kein harmonisiertes Vorgehen bei der Messung der Daten der Pandemie. Dennoch geben die Forscher der Sicht des Ministeriums bereits zum zweiten Mal eine gewisse Rückendeckung.
Prestigeprojekt „Large Scale Testing“
Das „Large Scale Testing“ startete als Forschungsprojekt des „Luxembourg Institute of Health“ (LIH) und wurde somit auch als solches wissenschaftlich aufgearbeitet. Die Studie zum Massentest-Programm, an der auch Paul Wilmes und Joël Mossong beteiligt waren, zeigte auf, dass etwa 39 Prozent der Infektionen durch das Programm verhindert werden konnten.
Diese Zahl und die ganze Interpretation stießen allerdings schnell auf Kritik. „Wenn ich mit einem Infizierten in Kontakt war, dann sequenziere ich das Virus sowohl des Infizierten als auch bei dem Indexfall, um zu überprüfen, ob die Infektion tatsächlich auf den Indexfall zurückzuführen ist“, sagte etwa Gérard Schockmel bei „RTL“. Für den Infektiologen der „Hopitaux Robert Schuman“ ist somit nicht klar, ob die Daten zu den verhinderten Infektionen tatsächlich aussagekräftig sind. Das Ziel, asymptomatische Infektionen frühzeitig zu entdecken, um weitere Ansteckungen zu verhindern, könne somit nicht überprüft werden.
Der Mikrobiologe Paul Wilmes versuchte während der Sendung auf die Kritik einzugehen, doch in diesem Punkt konnte er dem Kollegen nicht widersprechen. Die erwähnte Studie ist indes bisher in der wissenschaftlichen Gemeinschaft kaum beachtet worden. Nur in zwei Publikationen, an denen luxemburgische Wissenschaftler beteiligt waren, wurde sie zitiert.
Mit dem „Large Scale Testing“ rechtfertigte die Regierung in der Vergangenheit bereits Schritte, um bestehende Corona-Einschränkungen aufzuheben. Das Prestigeprojekt steht sinnbildlich für den Anschein eines erfolgreichen Krisenmanagements. Allerdings ist das Projekt nicht nur für das Gesundheitsministerium von großer Bedeutung, sondern auch für die Luxemburger Forschung.
In der Pandemie hat sich vor allem in den ersten Monaten ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis entwickelt. Die Wichtigkeit der Task-Force, in der vor allem Wissenschaftler der Universität und des LIH vertreten waren, hat abgenommen. Nunmehr ist es das Ministerium selbst, das die Faktenlage schafft und zunehmend die Kommunikation darüber kontrolliert. Wie das „Lëtzebuerger Land“ schon im vergangenen Dezember schrieb: „Covid-Wissenschaft macht die Regierung nun auch selber.“
Nicht offengelegter Interessenskonflikt
Dabei gehen auch die Forscher nicht immer transparent mit der offensichtlichen Vermischung von Wissenschaft und Politik um. In ihrer Publikation zum „Large Scale Testing“ geben die Forscher noch an, dass sowohl Beamte des Hochschul- als auch des Gesundheitsministeriums an der Ausarbeitung der Studie beteiligt waren. In dem neusten Kommentar fehlt ein solcher unmissverständlicher Hinweis.
Weder Joël Mossong noch Thomas Dentzer bezeichnen ihre Tätigkeit in der „Direction de la Santé“ in dem Kommentar als möglichen Interessenkonflikt. „Ich wurde ja nicht vom Ministerium beauftragt, das zu schreiben“, sagt Joël Mossong auf Nachfrage von Reporter.lu. Es sei nicht „usus“, seinen Arbeitgeber als möglichen Interessenkonflikt anzugeben, so der Wissenschaftler.
Das ist jedoch eine sehr enge Auslegung eines Interessenkonflikts. Für die Fachzeitschrift „Lancet“ liegt ein Interessenkonflikt nämlich schon vor, wenn es eine „finanzielle Vereinbarung, die die eingereichte Arbeit beeinflussen könnte“, gibt. Dazu zählt auch das Angestelltenverhältnis.
Für die Fachzeitschrift „Lancet Regional Health Europe“ gelten die gleichen Kriterien. Da die beiden Autoren als Bedienstete des Staates maßgeblich an der Pandemiebekämpfung in Luxemburg beteiligt sind, ist es zumindest fraglich, warum die Möglichkeit eines existierenden Interessenkonflikts nicht bedacht wurde.
Spätestens seit der Pressemitteilung des Ministeriums zum Kommentar wird dies offensichtlich. Dabei handelt es sich um ein durchaus ungewöhnliches Vorgehen, wenn die Studie nicht von der Regierung in Auftrag gegeben wurde. Der Titel des Schreibens, das die Regierung an die Medien des Landes verschickte, lässt demnach durchaus aufhorchen. Denn als „vision biaisée“ ließe sich auch der immer wieder einseitige Umgang der Politik mit wissenschaftlichen Fakten beschreiben.
Lesen Sie mehr zum Thema




