Luxemburg hat sich per Gesetz zur inklusiven Schule bekannt. Die Regierung zieht nach drei Jahren eine positive Bilanz. Erfahrungen vor Ort zeigen jedoch: Langwierige Prozeduren, Fachkräftemangel und zunehmende Arbeitslast stehen der Umsetzung im Weg.

Für den Verantwortlichen aus dem Bildungsministerium gibt es in Sachen Inklusion in der Schule keinen Grund zur Sorge. „Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die keine Regelschule besuchen, liegt unter einem Prozent und ist sogar leicht rückläufig“, sagt Laurent Dura im Interview mit Reporter.lu. Auch das Schulpersonal schätze die Entwicklungen in den letzten Jahren „als überwiegend positiv“ ein. Der Leiter der Abteilung für Kinder mit besonderem Förderbedarf im Bildungsministerium verweist dabei auf eine aktuelle Evaluation des Gesetzes vom 20. Juli 2018, die noch in diesem Jahr im Parlament debattiert werden soll. „Wir brauchen keine neue Reform“, ist sich Laurent Dura sicher.

Die Erfahrungen vieler Eltern, Kinder, Sonderpädagogen und Lehrenden zeichnen hingegen ein weitaus differenzierteres Bild. Gerade jetzt, zu Beginn des neuen Schuljahres, seien vorherrschende hierarchische Strukturen, langwierige Prozeduren und Personalmangel sowie divergierende Auffassungen von Inklusion demnach wieder besonders deutlich geworden. Fehlende Kommunikation und Transparenz führen zudem häufig zu verlorener Zeit, vermeidbarem Frust und unnötigen Selbstzweifeln.

Fehlende Hilfe zieht Frustration nach sich

Denn bereits bei recht einfach umzusetzenden Hilfsmaßnahmen scheint die Inklusion noch viel zu oft zu scheitern. Kinder mit leichteren Autismus-Spektrum-Störungen etwa brauchen häufig nur eine gewisse Orientierungshilfe, um ihre kognitiven Fähigkeiten voll ausschöpfen zu können. Das Begleiten von einem Klassensaal in den anderen, etwas mehr Zeit oder ein wiederholtes Erklären der Fragestellungen können schon ausreichen, um den Betroffenen einen guten Schulalltag zu ermöglichen.

Luxemburg hat zwar internationale Menschenrechtsabkommen, wie etwa die UN-Behindertenrechtskonvention, unterzeichnet, doch ist es bis heute nicht gelungen, grundlegende Veränderungen im Schulwesen zur Verbesserung der Gleichstellung herbeizuführen.“Justin Powell, Inklusionsforscher an der Uni Luxemburg

Für Kinder mit einer Lese- oder Schreibschwäche können individuell angepasste Arbeitsmaterialien mit vergrößerten Schriften vieles erleichtern. Und auch Epileptiker müssen nicht unbedingt, wie in Luxemburg geschehen, aus übertriebener Vorsicht vom Schwimmunterricht ausgeschlossen werden. Ihre sichere Teilnahme kann häufig schon durch eine bunte Badekappe zum sofortigen Erkennen des Kindes gewährleistet werden. Doch allzu oft scheitert es in Luxemburg bereits bei der Umsetzung solch kleiner Hilfsmaßnahmen.

„Luxemburg hat zwar internationale Menschenrechtsabkommen, wie etwa die UN-Behindertenrechtskonvention, unterzeichnet, doch ist es bis heute nicht gelungen, grundlegende Veränderungen im Schulwesen zur Verbesserung der Gleichstellung herbeizuführen“, beurteilt Justin Powell im Gespräch mit Reporter.lu die momentane Situation. Weder die Schulreform von 2009 noch das Gesetz von 2018 habe zu grundlegender Verbesserung geführt. „Inklusive Bildung ist nicht mit segregierten Strukturen vereinbar“, so die Schlussfolgerung des Inklusionsforschers der Universität Luxemburg.

Inklusion als Bekenntnis zu einem Ideal

Mit dem Gesetz vom 20. Juli 2018 sollte das Ideal eines ganzheitlichen Schulsystems mit individuellen Fördermöglichkeiten in den Regelschulen näher rücken. Zu diesem Zweck wurde die „Education différenciée“ durch sogenannte Kompetenzzentren ersetzt. Diese sollten neben der gezielten Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf vor allem als Referenzzentren dienen, die Expertise vereinen, breit über Inklusion aufklären und den Regelschulen helfen, inklusive Strukturen und Maßnahmen zu verankern und selbstverständlich zu machen.

Unsere Lehrer werden nicht darin bestärkt, vernetzt zu arbeiten. Anstatt ihnen konkrete Hilfe für ihren Alltag zu geben, lässt das System sie an Prozeduren und Berichteschreiben verzweifeln.“Patrick Arendt, SEW

In diesem Sinne definiert Justin Powell Inklusion als „das Bekenntnis zu einem Ideal“ und inklusive Bildung als „einen fortlaufenden politischen Prozess zur aktiven Teilhabe aller an der Gesellschaft“. So weit die Theorie.

In Gesprächen mit Lehrenden und Sonderpädagogen wird jedoch schnell deutlich, dass die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Akteuren beschwerlich ist. Die Regelschule scheint ihrem Auftrag als ganzheitliches Bildungssystem für alle Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Gründen nicht gerecht zu werden.

Schubladendenken und Konformitätsdruck

„Auch wenn es das Ideal ist: Unsere Regelschulen sind noch nicht bereit, um die Kompetenzzentren als Sonderschulen abzuschaffen. Wir brauchen sie weiterhin, um Schülerinnen und Schülern einen differenzierten Unterricht, auf den sie ein Recht haben, zu garantieren“, sagt eine Sprecherin der SPEBS, der Gewerkschaft für das Personal, das mit Kindern mit besonderem Förderbedarf arbeitet. „Unsere ambulanten Teams müssten viel stärker in den Regelschulen verankert sein“, sagt sie. Doch durch nur zäh anlaufende Unterstützungsangebote oder ganz fehlende individuelle Förderung scheiterten stattdessen zu viele Kinder in den Regelschulen. „Nach demotivierenden schulischen und sozialen Momenten in der Regelschule und mit einem geschwächten Selbstvertrauen kommen sie dann zu uns“, beschreibt die Sonderpädagogin den Werdegang vieler Kinder.

Gleichzeitig gibt es aber auch immer mehr Kinder und Jugendliche, die in der Regelschule „auffallen“, jedoch von keiner der bestehenden Unterstützungsmaßnahmen aufgefangen werden. Denn, wenn keine klare Diagnose gestellt werden kann, ist auch keines der acht Kompetenzzentren für das Unterstützungsangebot des Schülers zuständig und die Regelschule muss den Bildungsauftrag weiterhin mit den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten garantieren.

Wie viele Schülerinnen und Schüler sind betroffen?

In den acht Kompetenzzentren sind zurzeit 1.771 Schülerinnen und Schüler eingeschrieben. 818 von ihnen besuchen ausschließlich das auf ihre Bedürfnisse spezialisierte Kompetenzzentrum, 916 bekommen eine stundenweise Betreuung von einem ambulanten Team in ihrer Regelschule und 37 verbringen einige Tage der Woche in der Regelschule und die anderen in Kompetenzzentren. 72 Schüler und Schülerinnen mit speziellem Förderbedarf werden im Ausland beschult. Über jene Kinder und Jugendliche, für die eine zusätzliche Hilfsmaßnahme in einer Regelschule eingerichtet wurde, ohne dass sie in einem Kompetenzzentrum angemeldet sind, kann das Ministerium keine aktuellen Zahlen liefern.

Die Personalvertretung der SPEBS spricht zudem von einer erheblichen Zunahme der Arbeitslast, von einer wachsenden Konkurrenz und von Druck vonseiten der Direktionen der unterschiedlichen Kompetenzzentren. Während das sonderpädagogische Personal vor der Reform 2018 stärker zusammengearbeitet habe, blieben die pädagogischen Fachkräfte der einzelnen Zentren nun stärker unter sich. Selbst innerhalb der sonderpädagogischen Bildungslandschaft finde kaum mehr Austausch und Wissenstransfer statt. „Das Zahnrad der Sonderpädagogik wurde in seine Einzelteile zerlegt und dreht nicht mehr, wie es sollte“, so die nüchterne Bilanz der Sprecherin der Gewerkschaft, die aus Angst vor Repressalien anonym bleiben möchte.

Vergiftetes Klima und Druck von oben

Doch nicht nur beim Personal der Kompetenzzentren, sondern auch bei den Lehrerinnen und Lehrern der Regelschulen ist die Enttäuschung groß. „Wenn die Politik sich zu Inklusion bekennt, aber den Schulen nicht die Mittel zur Umsetzung zur Verfügung stellt, führt das zu Frust auf allen Seiten“, fasst Patrick Arendt vom SEW, der Lehrergewerkschaft des OGBL, die Situation zusammen. Er spricht von einem „vergifteten Klima“.

„Eltern geben schnell den Lehrern die Schuld, damit zeigt ihr Finger aber auf die Falschen. Das Scheitern der Inklusion wird auf Einzelne abgewälzt, dabei handelt es sich um ein strukturelles Problem“, sagt Patrick Arendt und verweist auf viel zu aufwendige administrative Prozeduren und hierarchische Strukturen, die einer direkten interdisziplinären Zusammenarbeit häufig im Weg stehen. „Unsere Lehrer werden nicht darin bestärkt, vernetzt zu arbeiten“, sagt er. „Anstatt ihnen konkrete Hilfe für ihren Alltag zu geben, lässt das System sie an Prozeduren und Berichteschreiben verzweifeln.“

Die Leidtragenden dieser langwierigen Prozeduren sind vor allem die Kinder und Jugendlichen selbst. Sie müssen ohnehin im Schulalltag ständig kompensieren, irgendwann sind ihre Batterien leer und ihre Ressourcen aufgebraucht.“Lis de Pina, Schulmediatorin

Von dem Moment an, in dem ein Kind als auffällig gemeldet wird, bis hin zur tatsächlichen Umsetzung der Hilfsmaßnahmen im Schulalltag können viele Monate, manchmal sogar ein ganzes Schuljahr vergehen, wie mehrere Quellen bestätigen.

„Das System muss vereinfacht werden“, sagt auch Lis de Pina, Leiterin der Schulmediation. Seit die Anlaufstelle im Jahr 2018 per Gesetz ins Leben gerufen wurde, haben Lis de Pina und ihr Team knapp 400 Fälle betreut. Sie selbst sehen sich als ein vom Ministerium unabhängiges Organ, das meist zwischen Eltern und Schuldirektionen, aber auch zwischen Lehrern und Inklusionskommission oder Eltern und Schülern vermittelt. In ihrem Jahresbericht für das Schuljahr 2019/2020 benennt Lis de Pina klare Fehlfunktionen und spricht Empfehlungen zur Verbesserung aus.

Anhand von konkreten Fällen weist sie auf eine schlechte Zusammenarbeit der einzelnen Akteure hin: Eltern würden nicht hinreichend informiert und über ihre Rechte aufgeklärt, mitunter komme es gar zu Druckausübung auf die Eltern, um die Empfehlungen im Bereich der Inklusion durchzusetzen. Die Klassenlehrer würden nicht ausreichend in die Arbeiten der Inklusionskommissionen einbezogen, es fehle weiterhin an Fachkräften in der Sonderpädagogik und es sei zu Datenschutzverletzungen gekommen, heißt es unter anderem in dem Bericht. Für Lis de Pina ist das Gesetz von 2018 durchaus reformbedürftig. Sie schlägt beispielsweise vor, die Prozeduren zur Bereitstellung der Hilfsmaßnahmen generell zu vereinfachen und feste Fristen vorzusehen.  

Inklusion ist ein Menschenrecht, das in Luxemburg systematisch missachtet wird. Die Politik hat keine Strategie, wie sie die Förderschulen abbauen und das reguläre System stärken kann.“Martine Kirsch, Präsidentin des Zefi

„Die Leidtragenden dieser langwierigen Prozeduren sind vor allem die Kinder und Jugendlichen selbst. Sie müssen ohnehin im Schulalltag ständig kompensieren, irgendwann sind ihre Batterien leer und ihre Ressourcen aufgebraucht“, sagt Lis de Pina. Sie betont jedoch auch, dass ihre Erfahrungen nicht repräsentativ seien, da sie nur für jene Menschen sprechen könne, die bei ihr um Unterstützung bäten. Es gebe sicher auch positive Fälle schulischer Inklusion, über die wenig gesprochen werde, räumt die Mediatorin ein. Auf der anderen Seite gebe es jedoch auch eine nicht zu unterschätzende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die vom System nicht aufgefangen würden. „Sie werden in einer Klasse geparkt und trotz Förderbedarfs über Jahre hinweg nie getestet“, so die Mediatorin im Gespräch mit Reporter.lu.

Eine Klage nach belgischem Vorbild

„Inklusion ist ein Menschenrecht, das in Luxemburg systematisch missachtet wird“, sagt Martine Kirsch, die Präsidentin des Vereins „Zesummen fir Inklusioun“ (Zefi) gegenüber Reporter.lu. Auch ihre Bilanz ist ernüchternd: Die Prozeduren seien zu lang, es fehle an Fachpersonal, die Kompetenzzentren hätten sich in erster Linie nicht als Ratgeber für die Regelschulen, sondern als paralleles, stigmatisierendes System etabliert. Jene Schulen, die mit gutem Beispiel vorangingen, würden nicht ermutigt, sondern ausgebremst.

Martine Kirsch beobachtet vor allem eine Verschärfung der Ungleichheiten. „Besonders Kinder, deren Eltern das Wissen, die Energie oder schlicht die Persönlichkeit nicht haben, sich aufzulehnen und zu kämpfen, bleiben auf der Strecke“, sagt die Präsidentin des Vereins. Eltern würden von den Inklusionsbeauftragten oft nicht respektiert, die Expertise von Betroffenen nicht genügend in politische Entscheidungen einbezogen.

„Einige von uns waren in den Arbeitsgruppen zur Ausarbeitung des Aktionsplanes zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vertreten, wir haben auch klare Ziele und Maßnahmen formuliert, aber so gut wie nichts ist davon letztendlich in das Dokument eingeflossen. Und das, obwohl die Politik selbst keine Strategie hat, wie sie die Förderschulen abbauen und das reguläre System stärken kann“, erzählt Martine Kirsch. Der Verein, der sich seit über 30 Jahren für Inklusion einsetzt, spielt nun mit dem Gedanken, den Staat nach belgischem Vorbild zu verklagen.


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