Die Inklusion als pädagogischer Ansatz ist in Luxemburg noch ausbaufähig. Dass die Regelschule auch für Kinder mit besonderem Förderbedarf da sein soll, ist mittlerweile zwar unbestritten. An manchen Stellen hapert es jedoch mit der praktischen Umsetzung.

In einem Klassensaal eines luxemburgischen Lyzeums: Christine* harrt an ihrem Schultisch aus, sie scheint nicht so richtig anfangen zu wollen. Beim zweiten Blick fällt auf, dass sie noch immer die Aufgaben liest. Sie wird unruhig. Die ausgeteilten Prüfungsunterlagen sind vom Aufbau und der Schrift so ausgerichtet, dass die Schülerin nur mühevoll versteht, was die Lehrperson von ihr will.

Christine ist aber eine zurückhaltende Person, sie traut sich nicht, zu melden, dass sie Schwierigkeiten hat, den Text zu entziffern. Eigentlich ist die Lehrkraft über die Situation informiert. Diese hat sich aber nicht an die ausgemachten Bedingungen gehalten: Kinder und Jugendliche mit einer „Dys“-Lernstörung, etwa Dyslexie, brauchen Unterrichtsmaterialien in einer bestimmten Schriftgröße und einem angepassten Layout. Außerdem fällt es ihnen besonders schwer, Handschriften zu lesen.

Meistens kriegen diese Kinder zwar etwas mehr Zeit um die Prüfung abzuschließen, eine sogenannte „majoration du temps“, aber wenn die Prüfungsunterlagen nicht gut lesbar sind, hilft auch ein zeitlicher Bonus nicht weiter.

Die Schülerin hat bereits mehrere schulische Stationen hinter sich: Einige Male hat sie die Schule gewechselt und immer wieder ist sie auf Widerstände und Schwierigkeiten gestoßen. Ihre Mutter, Monique* erzählt, dass sie viel Zeit damit verbracht hat, angemessene Unterrichtsmaterialien zu finden. Ohne andauernde Unterstützung hätte ihre Tochter es wahrscheinlich nicht bis zum Abitur geschafft. Für sie gibt es in Luxemburg im Moment keine wirkliche Inklusion.

„Kaum jemand hat verstanden, was Inklusion ist“

Ähnlich sieht auch die Präsidentin von „Zesummen fir Inklusioun“, Martine Kirsch, die Lage: „Kaum jemand hat verstanden, was Inklusion bedeutet“, sagt sie. Denn Inklusion, die pädagogische Einbeziehung möglichst aller Kinder, bedeute nicht eine Eins-zu-eins-Betreuung der Schüler mit speziellen Bedürfnissen. Die Essenz der inklusiven Pädagogik liege darin, „zieldifferenziert“ zu unterrichten.

Martine Kirsch beklagt vor allem, dass es in den Schulen an Offenheit fehle. In ihren Augen hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verschlimmert, da der administrative Aufwand, die Prozeduren komplizierter gemacht habe. Hinzu kommt, dass Inklusion in der Schule in Luxemburg noch ziemliches Neuland ist. Ein Gesetz, das Schülern mit besonderen Bedürfnissen individuelle Hilfe im regulären Schulsystem ermöglicht, gibt es erst seit 2011. Schulinterne Inklusionskommissionen erst seit 2017.

Laurent Dura, verantwortlicher Beamte für die Inklusion im Bildungsministerium, spricht von einem „work in progress“. Er sei gegen eine „ideologische Diskussion“. Dennoch hält er nicht an den Spezialklassen fest, die ehemals der „Education differenciée“ angehörten, deren letzter Direktor er war. Diese Klassen sind heute Teil der unterschiedlichen Kompetenzzentren. Er hätte nichts dagegen, dass diese Klassen eines Tages komplett wegfallen würden. Doch es gebe auch Eltern, denen der geschützte Rahmen einer Spezialklasse lieber wäre: In ihren Augen könne ihr Kind dort besser und individueller gefördert werden.

Inklusion zu abhängig von einzelnen Personen

Dass es keine einfachen Lösungen gibt, liegt auf der Hand. „Inklusion stellt die Systemfrage und rührt damit an den Grundfesten des gegliederten Schulsystems“, sagt Professor Hans Wocken, Erziehungswissenschaftler und Sonderpädagoge an der Universität Hamburg. Der Inklusionsforscher stellt sich ein einheitliches Schulsystem vor, in dem die Kinder miteinander lernen, aber eben mit verschiedenen Lernzielen vor Augen. In der Theorie sind sich die Experten auch schnell einig. In der Praxis gibt es jedoch etliche Ansätze.

Im Abschlussbericht von 2018 hielten die Mitglieder des Vereins „Zesummen fir Inklusioun“ fest, dass es zwar positive Beispiele für Inklusion in der Schule gebe. Der Erfolg der Inklusion hänge aber immer vom Willen einzelner Personen ab.

Inklusion sollte aber heute keine Frage von persönlichen Befindlichkeiten sein: „Die UN-Konvention der Kinderrechte und die UN-Behindertenrechtskonvention lassen uns keine Wahl. Wir müssen Inklusion umsetzen“, sagt Lis De Pina, Schulmediatorin. Wenn Eltern und Schüler das wünschen, müssen sie in der Regelschule aufgenommen werden.

Ähnlich wie es Christine erfahren hat, ist es auch anderen Jugendlichen ergangen. Einige Problemfälle aus der Oberstufe wurden an die Schulmediatorin weitergeleitet. Vorgesehen ist seit 2017, dass jede Schule eine Inklusionskommission aufstellt, die jeden Fall einzeln betrachtet und dementsprechend Maßnahmen in die Wege leitet. Die Maßnahmen scheinen aber nicht immer alle umgesetzt zu werden.

Auch Gymnasien gesetzlich zur Inklusion verpflichtet

Luxemburg hat sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen. Die Konvention wurde 2007 unterschrieben und 2011 ratifiziert. Laut der Konvention sollen Gymnasien und weiterführende Schulen genauso inklusiv arbeiten wie Grundschulen. „Inclusive education system at all levels“, heißt es in der Konvention.

Mehr als 40.000 Schüler und Schülerinnen besuchen 40 öffentliche Lyzeen in Luxemburg. 2018 wurden 102 „spezialisierte Interventionen“ festgehalten. Insgesamt besuchten in diesem Zeitraum 828 Schüler eine Spezialklasse in einem Kompetenzzentrum. Dabei werden längst nicht alle spezifischen oder besonderen Bedürfnisse gemeldet. Die Dunkelziffer jener Jugendlichen, die zusätzliche Bedürfnisse haben, dürfte demnach höher liegen.

Die Schulmediatorin Lis De Pina weist darauf hin, dass es immer wieder Eltern gebe, die die bestehende Dokumentation aus der Grundschule nicht an die weiterführende Schule weiterreichen. In einem Fall ist zum Beispiel die Information, dass es sich um ein Kind mit spezifischen Bedürfnissen handelt, schlicht nicht bei der Direktion angekommen. Oft hätten die Eltern das Vertrauen in die Schule und das Schulpersonal verloren. Ihre Aufgabe bestünde dann darin, die Kommunikation wieder aufzubauen, sagt Lis De Pina. „Die Menschen hören sich nicht mehr zu und in diesem Fall kann die Mediation eingreifen“.

Auch die Eltern tragen eine Verantwortung

„Einige Eltern sind noch in der Ablehnungsphase“, sagt Lis De Pina. Es sei für manche Eltern schwer zu akzeptieren, dass gerade ihr Kind andere Bedürfnisse habe und zusätzliche Unterstützung benötige. Die Verantwortung für die schleppende Umsetzung der Inklusion liegt demnach nicht nur bei der Politik oder bei den Verantwortlichen der Schulen.

„Viele Eltern kennen auch die Gesetze nicht“, sagt Martine Kirsch. Für die Präsidentin von „Zesummen fir Inklusioun“ steht daher fest, dass die Praxis der einbeziehenden Pädagogik nur klappen kann, wenn alle Akteure sich gemeinsam an einen Tisch setzen würden. Das sehen aber auch die anderen Akteure ähnlich. Woran scheitert es dann in der Praxis?

Die Schulmediatorin Lis De Pina betont, dass sie sich nur auf einzelne Problemfälle beziehen kann. Dennoch würden verschiedene Schwierigkeiten immer wieder auftauchen. Wenn etwa die Anzahl der Jugendlichen mit spezifischen Bedürfnissen geringer eingeschätzt werde und deswegen nicht genug Mittel vom Ministerium zur Verfügung gestellt werden, da die Anfragen nicht gestellt werden.

Ab dem nächsten Schuljahr sollen auch in den Lyzeen sogenannte „équipes de soutien“ geschaffen werden. Insgesamt 35 neue Posten wurden ausgeschrieben. Dies entspricht auch den Forderungen der Gewerkschaften. Diese beklagen nämlich, dass das Lehrpersonal zunehmend überfordert sei.

Keine „Inklusion mit dem Brecheisen“

Patrick Remakel, Präsident der Lehrergewerkschaft SNE/CGFP, hat indes mit einer umstrittenen Formulierung rezent für Aufregung gesorgt. Vor allem ein Satz aus einer Publikation mit der Überschrift „Inklusion, aber nicht mit dem Brecheisen“ hat die Gemüter mancher Lehrer und Eltern erhitzt: „A wann dës schoulintern Strukturen net méi wierken, da mussen déi betraffe Kanner a schoulexterne Strukture kënne betreit ginn, an dat esouguer, am Extremfall, ouni Averständnis vun den Elteren!“

Aus dem Ministerium kam bereits die nahe liegende Entwarnung: Eltern sollen auch weiterhin das letzte Wort haben, wenn es um die Betreuung ihrer Kinder geht. Dass es aber im Endeffekt immer um die Kinder geht, wird in heftigen politischen Diskussionen hin und wieder vergessen. Das Misstrauen ist auf vielen Seiten vorhanden.

Lis De Pina wiederholt im Gespräch mit REPORTER mehrmals, dass sie und ihre Mitarbeiter unabhängig arbeiten würden. „Wir sind keine Kontrollstation des Ministeriums“, sagt die Mediatorin. Denn so würden viele Lehrpersonen sie wahrnehmen. Dabei sieht die ausgebildete Juristin ihre bisherige Karriere außerhalb des Schulsystems als Vorteil. „Ich kann neutraler an die Sache herangehen, ich habe keine Vorurteile. Am Ende geht es mir darum, das Leiden und die Sorgen der Betroffenen aus der Welt zu schaffen.“