Eine Rentrée wie keine andere: Die Corona-Krise stellt vor allem Schüler mit speziellen Bedürfnissen vor große Herausforderungen. Das Ministerium zeigt sich pragmatisch-optimistisch. Betroffene hingegen befürchten Chaos in der Praxis und gewaltige Rückschritte im inklusiven Schulsystem. 

„Da kommt ein Virus und prompt ist es völlig vorbei mit der Inklusion.“ Martine Kirsch ist Präsidentin des Vereins „Zesummen fir Inklusioun“ und setzt sich seit Jahren für den strukturellen Aufbau eines inklusiven Schulsystems in Luxemburg ein. Dass Luxemburg hier im internationalen Vergleich enormen Nachholbedarf habe, habe spätestens „das Chaos im Mai, als die Türen zu den Schulen nach dem Lockdown wieder aufgingen“ gezeigt. Das ohnehin anfällige System der Inklusion sei „in sich zusammengebrochen.“ Nach den Erfahrungen vom Mai macht sich Martine Kirsch wenig Hoffnungen auf einen gelungenen Schulbeginn im September.

Laurent Dura, Direktor des „Service de la scolarisation des élèves à besoins spécifiques“ des Erziehungsministeriums kann die Befürchtungen nicht nachvollziehen. Zwar habe es während des Lockdowns Sorgen und Ängste vor einer ungewissen Zukunft gegeben. Doch als die Schule dann wirklich wieder anfing, habe alles „reibungslos geklappt“.

„Bei uns sind nach dem Lockdown keine Beschwerden mehr eingegangen“, so der Direktor weiter. Das Personal habe sich gut vorbereiten können und auch für den Herbst seien die Weichen gestellt: Besonders in den Kompetenzzentren gebe es Kontinuität, da dort nur kleine Gruppen zusammenarbeiteten und eine Aufteilung der Klassen ohnehin nicht nötig sei. Und auch in den Regelschulen könnten die Assistenzen für die betroffenen Kinder „normal weiterlaufen“. „Die Inklusion ist durch Corona nicht in Frage gestellt“, so der Direktor.

Pandemie offenbart Schwächen im System

Dass sich zwei Menschen, die sich im Grunde für die gleiche Sache engagieren, in ihren Einschätzungen diametral gegenüberstehen, weist auf eine prinzipielle Fragestellung hin: Ist Luxemburg bereit, das Konzept der Inklusion, so wie es die UN-Behindertenrechtskonvention definiert, auch wirklich umzusetzen? Laut dem Text, den Luxemburg mit den meisten anderen europäischen Ländern bereits 2007 unterschrieben hat, reicht es nicht, „Ausgegrenzte“ zu integrieren. Es geht darum, allen Menschen von vorneherein die uneingeschränkte Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten möglich zu machen. Der Leitgedanke von Inklusion ist somit eine „gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft“.

Artikel 24 der Konvention widmet sich speziell der Inklusiven Bildung, deren Ziel der gemeinsame Schulbesuch von behinderten und nicht behinderten Kindern in einer Regelschule sein soll. Diese Koexistenz solle der „Normalfall“, nicht die Ausnahme sein. Nicht nur in Luxemburg ist diese Zielsetzung jedoch auch umstritten. Kritiker verteidigen Vorteile von Sonderschulen, die an die speziellen Bedürfnisse angepasst sind. Soll demnach ein inklusives Schulsystem mit Sonderschullehrern und Fachpersonal in Regelschulen verteidigt werden? Oder will man an einem parallelen System mit Spezialklassen festhalten und die Kompetenzzentren eher noch ausbauen?

Die meisten betroffenen Kinder scheitern im luxemburgischen Schulsystem.“
Martine Kirsch, Verein „Zesummen fir Inklusioun“

Die Ausnahmesituation der vergangenen Monate hat hier die Fronten verhärtet, da die Pandemie die Schwächen des Status quo stärker offen legt. Durch sanitäre Sicherheitsmaßnahmen droht Inklusion, die nicht strukturell verankert ist, leicht zu einem Kollateralschaden zu werden. Besonders Kinder, die auf individuelle Lösungen angewiesen sind, werden durch die Pandemie schnell zusätzlich ausgegrenzt. Viele Kinder durften ihre gewohnten Strukturen nicht mehr besuchen, Vertrauenspersonen wurden ihnen entzogen, „man schob sie ganz in die Kompetenzzentren ab“, sagt Martine Kirsch.

Drohender Wegfall von Routine und Struktur

Für Kinder hingegen, die ganzheitlich eine Regelschule besuchen können und inklusiv betreut werden, ändert auch die neue Situation erst einmal nicht viel. Sie sollen auch im Herbst wie gewohnt in ihre Schule gehen und von Fachpersonal betreut werden. „Kinder, die spezielle Bedürfnisse haben, sind nicht zwangsläufig anfälliger dafür, im Kontext von Covid 19 zur Risikogruppe zu zählen“, sagt Direktor Laurent Dura. „Die Vorbereitungen für ihre Rentrée decken sich mit denen aller Schüler“.

Die größte Herausforderung im Hinblick auf den Herbst sieht auch der Direktor des „Service de la scolarisation des élèves à besoins spécifiques“ darin, dass verschiedene Szenarien vorbereitet und Entscheidungen unter Umständen sehr kurzfristig getroffen werden müssten.

Genau diese Forderung nach hoher Flexibilität und Anpassungsfähigkeit stellt viele betroffene Kinder vor große Probleme: „Das Wichtigste sind Routine und Struktur“, sagt Conny Therwer von der Fondation Autisme Luxembourg. „Brechen Gewohnheiten weg, ist das für viele Betroffene enormer Stress“, so die Mitverantwortliche für den Bereich Diagnose und Unterstützung. Sie sieht gerade in der Unvorhersehbarkeit die größte Schwierigkeit, der sich betroffene Kinder beim Schulanfang gegenübersehen. „Keiner weiß, was passiert“, so Therwer. Das mache eine nötige Vorbereitung der Kinder nahezu unmöglich.

Manche Betroffene suchen Hilfe im Ausland

„Es fehlt schlichtweg der politische Wille“, sagt Mandy Scholtes, selbst Fachkraft für Inklusion und Mutter eines Kindes mit Asperger-Syndrom. Ihrer Meinung nach könnten betroffene Kinder durchaus erst auf die neue Situation durch die Pandemie vorbereitet und dann in den Schulen angemessen betreut werden. „Doch Luxemburg gibt sich nicht die Mittel für das nötige Fachpersonal“, so Scholtes. Sie selbst hat ihren Job als Fachkraft für Inklusion in einer Maison Relais aus Frustration aufgegeben. „Eine Struktur fehlte völlig, wir wurden alleine gelassen“, so Scholtes. Ihr Sohn Noé besucht nach mehreren Mobbingerfahrungen in Luxemburger Schulen seit letztem Schuljahr nun das deutsch-luxemburgische Lyzeum im saarländischen Perl.

Brechen Gewohnheiten weg, ist das für viele Betroffene enormer Stress.“Conny Therwer, „Fondation Autisme Luxembourg“

„Mir geht es dort viel besser“, sagt Noé im Gespräch mit REPORTER. „Die Schule ist streng mit Schülern, die mobben. Sie bekommen sofort einen Verweis“, erzählt der elfjährige Junge, der in der Schule mittlerweile gut alleine klar kommt. „In meiner Schule kennen sie sich aus mit Aspergern“, sagt er, „es gibt auch Assistenten, aber ich brauche keinen.“

Mit einem IQ von 143 ist Noé hochbegabt. Corona sieht er als eine „Strafe der Natur, mit der wir nun leben müssen“. „Viel besser“ fand er die Aufteilung der Klassen in kleinere Gruppen. „Weniger Hektik, mehr Ruhe.“ Auch mit den Sicherheitsmaßnahmen und den Hygienevorschriften hat Noé nach einer Gewöhnungsphase nun keine größeren Probleme mehr: „Ich fand es schon immer anstrengend, wenn Leute in meiner Umgebung herumhusten. Jetzt husten sie wenigstens in ihre Masken.“

Initiativen gegen Versäumnisse der Politik

Martine Kirsch sieht dies kritischer: „Die meisten betroffenen Kinder scheitern im luxemburgischen Schulsystem“. Wer könne, weiche konsequenterweise ins Ausland aus, sagt die Präsidentin des Vereins „Zesummen fir Inklusioun“, die bezogen auf das Luxemburger Schulsystem von einer „Schein-Inklusion“ spricht. Inklusionsprojekte, wie jene der Jean-Jaurès-Grundschule in Esch/Alzette oder der Schule „Am Kuebebongert“ in Niederfeulen seien zwar beispielhafte Initiativen, die jedoch bei weitem nicht auffangen könnten, was die Politik versäume.

Dabei stellt die aktuelle Gesetzeslage durchaus den Rahmen bereit, um Inklusion im regulären Schulsystem zu fördern. Das Gesetz von 1973, das das Recht behinderter Kinder anerkennt, eine Ausbildung in einer Sonderschule zu bekommen, wurde 1994 reformiert, um die Inklusion in Regelschulen stärker zu fördern. So viele Kinder wie möglich sollen mit einer den speziellen Bedürfnissen angepassten Unterstützung durch Fachpersonal in Regelschulen unterrichtet werden.

Ein langer Weg zur Inklusion in der Schule

Doch „wenn die Inklusion denn wirklich ernst genommen werden würde“, so Martine Kirsch, dann würde sich das Land auch mehr Mittel geben. Für Martine Kirsch ist die inklusive Grundschule „Eis Schoul“ in Kirchberg ein Modell, das stärker unterstützt und ausgebaut werden müsste. „Einige Zyklen sitzen mittlerweile in Containern, die Warteliste der Schule wird immer länger, aber der Staat unternimmt nichts“, so Kirsch. Sie verweist auf den nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention für Menschen mit Behinderungen. Dieser verfolge zwar einige gute Ansätze für den außerschulischen Bereich. Inklusion in der Schule werde jedoch weiterhin nur stiefmütterlich behandelt, so die Präsidentin des Vereins „Zesummen fir Inklusioun“.

Martine Kirsch bemängelt ein völlig veraltetes Schulsystem, den Mangel an Fachpersonal und Materialien, bürokratische Hürden und vor allem das Festhalten am parallelen System der Spezialklassen. „Unter diesen Bedingungen hat die Inklusion kaum eine Chance hier irgendwann Wirklichkeit zu werden“, schlussfolgert Kirsch. „Schon gar nicht mit, aber auch nicht ohne Virus.“

Noé, der Schüler aus dem deutsch-luxemburgischen Lyzeum in Perl, sehnt indes die Rentrée herbei. Angst macht dem Jungen allerdings die Gefahr eines zweiten Lockdowns. Er spricht von seinem Freund, den er während der Zeit in Quarantäne und jetzt während der Ferien sehr vermisse. „Mit einem zweiten Lockdown würde ich in ein ganz tiefes Loch fallen. Denn ich freue mich auf die Schule“, sagt der Junge.