Die Haft soll laut Gesetz das letzte Mittel im Abschiebeprozess sein. Doch Alternativen zum Freiheitsentzug werden in Luxemburg kaum genutzt. Menschenrechtler sprechen von einem repressiven Trend, der sich sowohl in der Praxis als auch in einem Gesetzesprojekt zeigt.
Piotr* befindet sich seit September 2020 in Abschiebehaft. Mit einigen Unterbrechungen zwar, doch ist er nicht mehr weit davon entfernt, die Mauern des „Centre de rétention“ insgesamt bald ein ganzes Jahr lang von innen gesehen zu haben. Zweimal sollte er schon nach Weißrussland abgeschoben werden, zweimal hat er sich widersetzt. Und er wird sich weiter auflehnen. Seine Panik vor einer Rückkehr ist angesichts des aktuellen Konflikts in der Ukraine weiter gewachsen. Ob er eines Tages tatsächlich abgeschoben wird, weiß zurzeit niemand. Er nicht, sein Anwalt nicht und die Behörden auch nicht.
Auch Yanis* sitzt in Abschiebehaft. Seit mehr als fünf Monaten versuchen die Luxemburger Behörden, die Rückführung in sein Heimatland zu organisieren. Doch die algerischen Kollegen blockieren. Sie antworten nicht auf die Gesuche, wollen Yanis nicht als ihren Staatsbürger anerkennen, fühlen sich für ihn nicht verantwortlich. Viel Druck machen die Luxemburger Behörden nicht, seit dem letzten Brief sind mittlerweile fast drei Monate vergangen. Sie wollten die diplomatischen Beziehungen zu Algerien nicht zu stark belasten, heißt es in einem Gerichtsurteil. „Es ist Usus, dass die Freiheit einer Person hinter diplomatischen Gepflogenheiten zurückstehen muss“, sagt der Rechtsanwalt Frank Wies dazu.
Keine Alternativen zur Haft
Entzieht ein Staat einem Menschen seine Freiheit, dann muss er gute Gründe dafür haben. Laut Gesetz kann eine bevorstehende Abschiebung nach der Ablehnung eines Asylantrags oder ein illegaler Aufenthalt im Land ein solcher sein. Allerdings ausschließlich unter bestimmten Bedingungen: Ein Mensch darf nur in Abschiebehaft genommen werden, wenn auch eine reale Chance besteht, ihn abzuschieben. Der zuständige Minister muss nach Prüfung des Falls alternative Möglichkeiten zur Haft ausgeschlossen haben. Und drittens: Die Haft muss so kurz wie möglich andauern.
Alle drei Bedingungen werden in der Praxis der Abschiebeprozeduren in Luxemburg nicht hinreichend erfüllt. Studien zeigen, dass nur etwa die Hälfte der Abschiebungen von Menschen in Abschiebehaft auch tatsächlich stattfindet (42,8 Prozent in 2018 und 54,46 Prozent in 2019), dass Alternativen zur Haft nicht genutzt werden und dass die Durchschnittsdauer der Haft seit Jahren kontinuierlich steigt.
Aus Mangel an wirksamen Garantien ordnet der in Luxemburg für Einwanderung und Asyl zuständige Minister in der Regel eine quasi-automatische Inhaftierung an.“Studie des „European Migration Network“
Im Jahr 2020 wurden 246 ausländische Staatsbürger in Abschiebehaft genommen. 65 von ihnen wurden nach den Bestimmungen des Dublin-Abkommens in das für sie zuständige Land gebracht, 48 wurden in ihr Herkunftsland abgeschoben. Über 100 wurden freigelassen. Die meisten von ihnen, weil die gesetzlich festgelegte Maximaldauer einer Abschiebehaft von sechs Monaten erreicht war und/oder weil keine Abschiebeperspektive mehr bestand.
„Jede Situation ist anders und der Erfolg einer Abschiebung hängt von vielen Faktoren ab. Je nach Person, nach Herkunftsstaat und nach Ansprechpartner des Herkunftslands ist die Prozedur verschieden. Diese Faktoren können auch kurzfristig aus politischen oder gesundheitspolitischen Gründen ändern. Eine solch komplexe Situation lässt sich nicht auf eine einzelne Prozentzahl reduzieren“, sagt das Außenministerium von Jean Asselborn (LSAP) zur mäßigen Erfolgsquote bei den angeordneten Abschiebungen.
Aus den Augen, aus dem Sinn
„Ist eine Person freigelassen, dann verfährt die Verwaltung nach dem Motto ‚aus den Augen, aus dem Sinn‘“, berichtet Rechtsanwalt Frank Wies, der auch Mitglied des Flüchtlingsrats ist. Die Personen verließen oft das Land. Würden sie im Ausland jedoch kontrolliert und dem Abkommen von Dublin folgend nach Luxemburg zurückgebracht, ginge das „Spiel“ von vorne los und die Personen kämen erneut in Abschiebehaft.
Wie aus dem Jahresbericht des Außenministeriums hervorgeht, liegt die Durchschnittsdauer der Abschiebehaft mit 55 Tagen über dem per Gesetz ursprünglich vorgesehenen Monat. Im Jahr 2020 saßen 31 der 246 Insassen sogar 120 Tage oder mehr in Abschiebehaft. Viele von ihnen mehrmals.
Von „potenziellen Menschenrechtsverletzungen“ schreibt Claudia Monti, die als Ombudsman auch externes Kontrollorgan für freiheitsentziehende Orte ist, in ihrem letzten, im Januar 2021 veröffentlichten Bericht über die Abschiebehaft. Sie bedauert, dass die Aufenthaltsdauer in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Auch sie hinterfragt vor allem das „va-et-vient“ der Insassen. „Die Abschiebehaft muss eine Ausnahme und immer das letzte Mittel bleiben“, so Claudia Monti abschließend in ihrem Bericht.
Illegal in einem Land zu sein, ist kein Verbrechen.“ Sérgio Ferreira, ASTI
„Wir müssen kreativer werden und nicht immer die einfachste Lösung suchen“, fordert Sérgio Ferreira. „Illegal in einem Land zu sein, ist kein Verbrechen. Einsperren ist zwar einfach, kann aber nicht die Lösung sein“, so der politische Sprecher der „Association de Soutien aux Travailleurs Immigrés“ (ASTI), die sich prinzipiell gegen Abschiebehaft positioniert.
Anstatt stärker in die Integration zu investieren, würde trotz mäßiger Erfolgschancen versucht, verstärkt abzuschieben. An der Abschiebepraxis der Regierung bemängelt Sérgio Ferreira, dass keine alternativen Lösungen gesucht, Menschen nicht begleitet und angemessen auf eine Rückkehr in ihr Herkunftsland vorbereitet würden.
Abgesehen von der sogenannten SHUK, der „Structure d’hébergement d’urgence“, einer halboffenen Notunterkunft für abgelehnte Asylbewerber, die unter das Dublin-Abkommen fallen, werden Alternativen zur Haft nicht genutzt. Und das, obwohl das Gesetz die regelmäßige Meldepflicht, den Hausarrest (mit oder ohne elektronische Fußfessel) und die Hinterlegung einer Sicherheitsgarantie als Alternativen anführt.
Quasi-automatische Inhaftierung
„Diese Alternativen werden in Luxemburg von vorneherein ausgeschlossen. Das Argument ist immer das gleiche: erhöhte Fluchtgefahr“, erklärt Sylvain Besch im Gespräch mit Reporter.lu. Der Direktor des „Centre d’étude et de formation interculturelles et sociales“ (Cefis) beruft sich bei seiner Einschätzung auf die vom „European Migration Network“ veröffentlichte Studie über Abschiebehaft in Luxemburg.

Problematisch ist in den Augen von Sylvain Besch vor allem, dass Kriterien, nach denen eine Fluchtgefahr eingeschätzt werden könnte, nicht gesetzlich verankert sind. „Aus Mangel an wirksamen Garantien ordnet der in Luxemburg für Einwanderung und Asyl zuständige Minister in der Regel eine quasi-automatische Inhaftierung an“, heißt es auch unmissverständlich in der Studie.
Das Versprechen der Koalition
Die Regierung schien sich der problematischen Situation bewusst zu sein. So hieß es im Koalitionsvertrag 2018-2023 noch, dass das derzeitige Dispositiv durch „an die Bedürfnisse besser angepasste Strukturen“ ergänzt werden solle. Man wolle sich darum bemühen, in Zukunft Alternativen zur Abschiebehaft anzubieten und besonders die Bedingungen für Frauen, Familien und schutzbedürftige Personen zu verbessern. Das Koalitionsversprechen stellt eine Gesetzesänderung in Aussicht, die unter anderem gewährleisten soll, dass Menschen vor ihrer Abschiebung besser betreut werden und Kinder dank alternativer Unterbringungsmöglichkeiten überhaupt nicht mehr in Abschiebehaft genommen werden dürfen.
Immer wieder ist seitdem von einer „Maison de retour“ nach ausländischem Vorbild die Rede. Vor der Pandemie hatte sich eine Luxemburger Delegation eine solche Struktur in den Niederlanden angesehen. Konkretes ist bisher jedoch nicht geschehen.
Wir sind schockiert und besorgt darüber, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, auf ziemlich unverschämte Weise mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht werden.“Catherine Warin, „Passerell“
Stattdessen sorgt nun ein anderes Gesetzesprojekt vom Oktober 2021 in Nichtregierungskreisen für Unruhe. Der Text sieht vor, die Haftbeschlüsse gegen Ausländer zu vereinfachen. So sollen in Zukunft auch EU-Bürger und Besitzer einer Aufenthaltsgenehmigung eines anderen EU-Mitgliedsstaats in Luxemburg in Abschiebehaft genommen werden können.
Das Gesetzesprojekt ist im Rahmen eines Maßnahmenkatalogs zur Drogenbekämpfung entstanden. „Wohl in Anbetracht der verschiedenen Profile, die in Luxemburg im Drogenmilieu angetroffen werden“, vermutet Rechtsanwalt Frank Wies, der mit dem Flüchtlingsrat und der Anwaltskammer an einer Einschätzung bezüglich der Auswirkungen eines solchen Gesetzes arbeitet.
Repressive Haltung
„Wir sind schockiert und besorgt darüber, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, auf ziemlich unverschämte Weise mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht werden und dass dieses Amalgam als Vorwand dient, um Asylsuchende zu bestrafen“, schreibt die Nichtregierungsorganisation „Passerell“ auf Anfrage von Reporter.lu.
Die dehnbare Begrifflichkeit, die „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“, mit denen das Gesetzesprojekt gerechtfertigt wird, ist in den Augen von Menschenrechtlern ein weiterer Widerspruch zur Regierungsrhetorik, zum Koalitionsabkommen und zum internationalen Engagement Luxemburgs als Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen.
Der Gesetzentwurf sei eine „eindeutig repressive Wende in der Haltung gegenüber Ausländern“, schreibt Passerell. Von Alternativen zur Haft für Piotr, Yanis und all die anderen würde sich Luxemburg mit diesem Gesetz jedenfalls weiter entfernen. Anstelle von Konzepten für Alternativen gibt es Pläne, die jetzige Abschiebehaft in der Nähe des Flughafens zu vergrößern.
*Namen von der Redaktion geändert


