Jean Asselborn spielt auf Zeit. Sein Ministerium dringt darauf, Asylverfahren afghanischer Schutzsuchender bis Ende Januar 2022 auf Eis zu legen. Anwälte und NGOs kritisieren die Haltung scharf und sprechen von einer problematischen Vermischung von Politik und Justiz.

„Es geht um Leben und Tod“, sagte Jean Asselborn (LSAP) Ende August in Bezug auf die Situation in Afghanistan. Angesichts der Übernahme des Landes durch die Taliban und des überhasteten Abzugs der internationalen Streitkräfte stehe die ganze EU in der Pflicht, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen. „Hier müssen wir aktiv helfen“, so Luxemburgs Außenminister damals im Interview mit dem „ZDF“. Bei seinen europäischen Partnern, die er in dieser Debatte zum Teil frontal attackierte, stieß Asselborn mit seiner Haltung auf Widerstand.

Während Jean Asselborn im Ausland auf eine stärkere humanitäre Politik pocht, offenbaren sich im eigenen Land jedoch Widersprüche in der asylpolitischen Praxis. Der Hintergrund: Das Außenministerium bittet Richter und Richterinnen des Luxemburger Verwaltungsgerichts seit Anfang September systematisch, die Berufungsverfahren afghanischer Flüchtlinge bis Januar 2022 auszusetzen. Man wolle sich bis dahin ein Bild von der neuen Lage am Hindukusch machen, heißt die offizielle Begründung.

Scharfe Kritik an abwartender Haltung

„Die Frist wird benötigt, um die neue Lage in Afghanistan einschätzen zu können und somit auch die vor Gericht anhängigen Fälle neu prüfen zu können“, schreibt Jean Asselborn in einer von Reporter.lu angefragten Stellungnahme zum Sachverhalt. Seinen Behörden fehle zum jetzigen Zeitpunkt das nötige Informationsmaterial, „da derzeit keine objektiven Informationen aus zuverlässigen Quellen vorliegen“, so der Außenminister weiter.

Die Regierung orientiert sich nicht primär an der Frage der Menschenrechte, sondern an Richtlinien zur Vorgehensweise. Ich als Menschenrechtler kann das nicht nachvollziehen.“Gilbert Pregno, Menschenrechtskommission

Jean Asselborn betont, auf einen aktualisierten Länderbericht des „European Asylum Support Office“ (EASO) zu warten, der für Mitte Oktober ankündigt wurde. Dieser werde neue Erkenntnisse zur Sicherheitslage in Afghanistan enthalten, „damit Entscheidungen für afghanische Staatsangehörige auf EU-Ebene einheitlich behandelt werden können“.

Anwälte und Nichtregierungsorganisationen stehen der ambivalenten Haltung Jean Asselborns äußerst kritisch gegenüber. Der Psychologe Gilbert Pregno beschreibt die Situation der Geflüchteten im Land als „tragisch“ und die neuen Wartezeiten als „erschreckend“. Ich sehe den Menschen vor mir, sein Gesicht, seine Biografie und seinen Namen. Durch die neue Situation wird sich die Angst der Betroffenen weiter verstärken“, so der Präsident der Menschenrechtskommission. „Die Verlängerungen sind für diese Menschen hochproblematisch. Aber die Regierung orientiert sich nicht primär an der Frage der Menschenrechte, sondern an Richtlinien zur Vorgehensweise. Ich als Menschenrechtler kann das nicht nachvollziehen“, sagt Gilbert Pregno.

„Natürlich muss während der Asylverfahren immer wieder die Situation im Herkunftsland überprüft werden, aber die Bearbeitung der Asylanträge monatelang einfach auszusetzen, das hat es noch nie gegeben“, sagt auch der Rechtsanwalt Frank Wies. Aus Respekt vor der instabilen Lage der Schutzsuchenden, die sich mit der Machtübernahme der Taliban noch verstärkt habe, sei dies „eine unmögliche Vorgehensweise“. Es sei schließlich nicht das erste Mal, dass sich ein Herkunftsland während eines Asylverfahrens in die eine oder andere Richtung weiterentwickele. Der auf Asylfragen spezialisierte Anwalt erinnert in diesem Zusammenhang etwa an den Irak, wo es regelmäßig zu Neubewertungen der Sicherheitslage einzelner Provinzen kam.

Kurze Wege zwischen Politik und Justiz

Jean Asselborns Bezug auf den aktualisierten Länderbericht des EASO zu Afghanistan wertet Frank Wies als Vorwand. Er hält Asselborns leidenschaftliche Kritik an der gemeinsamen Asylpolitik der EU nicht mehr für glaubwürdig. „Ich finde es seltsam, dass Jean Asselborn nun einen zu erwartenden Bericht der EU als ausschlaggebendes Dokument angibt, um Asylverfahren zu prüfen“, sagt Frank Wies. „Es gibt andere, unabhängige Berichte, die die Notwendigkeit sofortiger humanitärer Hilfe belegen.“

Als Referenzen gelten bei Anwälten zum Beispiel auch die Stellungnahmen des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR) sowie Berichte von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, die etwa über Massaker der Taliban an Menschen berichten, die der ethnischen Minderheit der Hazara angehören. Auch sie sprechen von einer undurchsichtigen Informationslage, stellen aber eindeutig klar, dass ihre Beobachterinnen und Beobachter in der jetzigen Situation „nur einen Bruchteil“ der Gräueltaten durch die Taliban dokumentieren könnten.

Wir fragen uns ernsthaft, wie es um die Rechtsstaatlichkeit in Luxemburg bestellt ist, wenn Forderungen eines Ministers vom Gericht sofort akzeptiert werden und vor allem, wenn das Gericht argumentiert, erst einmal abwarten zu wollen, was das Ministerium tun wird.“Marion Dubois, „Passerell“

„Wir wissen, dass sich die Sicherheitslage für vor allem ethnische und religiöse Minderheiten, Frauen und Kinder weiter deutlich zuspitzt“, äußert sich auch Marion Dubois von der Nichtregierungsorganisation „Passerell“ im Gespräch mit Reporter.lu. „Es ist völlig widersprüchlich, Asylverfahren von Menschen, die sich bereits im Land befinden, jetzt monatelang auszusetzen.“

Die Juristin sieht aber noch ein anderes Problem. Für sie stellt die Vorgehensweise Jean Asselborns und die Reaktion der Gerichte eine Vermengung von Justiz und Politik dar. „Wir fragen uns ernsthaft, wie es um die Rechtsstaatlichkeit in Luxemburg bestellt ist, wenn Forderungen eines Ministers vom Gericht sofort akzeptiert werden und vor allem, wenn das Gericht argumentiert, erst einmal abwarten zu wollen, was das Ministerium tun wird“, kritisiert sie. „In einem funktionierenden Rechtsstaat treffen Gerichte ihre Entscheidungen aufgrund von nationalen und internationalen Gesetzestexten. Sie sind von der Politik völlig unabhängig. Das nennt man Gewaltenteilung“, stellt Marion Dubois klar.

Auch Gilbert Pregno fragt sich, „inwiefern das Gericht die Menschenrechte in Betracht gezogen hat und wie bei den Entscheidungen zwischen den unterschiedlichen Rechten und Interessen ausbalanciert wurde.“

„Unterstellungen“ und „Hypothesen“

Wie viele laufende Asylverfahren bereits vor dem Verwaltungsgericht stehen und nun bis Januar 2022 ausgesetzt werden, ist nicht eindeutig in Erfahrung zu bringen. Auf Anfrage von Reporter.lu verweist das Außenministerium lediglich auf die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage, in der von 185 Menschen mit afghanischer Nationalität die Rede ist, die sich zurzeit in einer Asylprozedur befinden.

Jean Asselborn untersteicht in diesem Zusammenhang, dass jene Verfahren afghanischer Staatsangehöriger, die noch keine Entscheidung bekommen haben, weiterlaufen. Seine Behörde höre weiterhin Antragsteller an und entscheide über die Zulässigkeit ihrer Anträge.

Das Ministerium hat die von den Taliban ausgehende Gefahr seit Jahren unterschätzt und die Befürchtungen der Antragsteller nicht ernst genug genommen.“Eine Rechtsanwältin

Anwälte gehen allerdings davon aus, dass sich der überwiegende Teil der in der parlamentarischen Anfrage angeführten 185 Menschen bereits in einem Berufungsprozess befindet. „Meinen Erfahrungen nach wurde im letzten Jahr jeder Asylantrag eines afghanischen Staatsbürgers abgelehnt, bei dem es sich juristisch irgendwie argumentieren ließ“, sagt eine Anwältin, die selbst über ein Dutzend Geflüchtete mit afghanischer Nationalität betreut und unter Wahrung ihrer Anonymität mit Reporter.lu sprach.

„Es gefällt mir nicht, was ich vor Gericht vonseiten der Regierungsvertreter so höre“, sagt die Juristin. Sie berichtet von „Unterstellungen“ und „Hypothesen“. „Das Ministerium hat die von den Taliban ausgehende Gefahr seit Jahren unterschätzt und die Befürchtungen der Antragsteller nicht ernst genug genommen“, so ihre Einschätzung. „Wir raten diesen Menschen dazu, in Berufung zu gehen“, sagt die Anwältin. „Ihre Dossiers hängen jetzt alle in der Warteschleife.“ Auch wenn Jean Asselborn Rückführungen afghanischer Antragsteller zurzeit eindeutig auschließt, verschlechtere sich damit die Situation der Betroffenen weiter.

61 Prozent abgelehnte Anträge in 2020

Die Nichtregierungsorganisation „Passerell“ hat auf ihrer Webseite Ausschnitte aus Ablehnungsbescheiden veröffentlicht, die zeigen, dass das Ministerium angeführte Ängste als unbegründet einstuft, um Ablehnungen zu rechtfertigen. „Votre seule appartenance à l’ethnie des Hazâras ne saurait suffire pour justifier une crainte fondée de persécution. On ignore qu’elles auraient été leurs intentions (des Taliban, Anmerkung der Redaktion) de sorte que vos craintes sont purement hypothétiques.“

„Trotz der sich immer weiter zuspitzenden Sicherheitslage vor allem für ethnische und religiöse Minderheiten in Afghanistan hat das Ministerium Ende 2019 systematisch begonnen, Anträge von Menschen mit afghanischer Nationalität abzulehnen“, sagt Marion Dubois von „Passerell“. In einem Pressecommuniqué spricht ihre Organisation von 61 Prozent abgelehnter Asylanträge afghanischer Geflüchteter im Jahr 2020, gegenüber noch sieben Prozent im Jahr 2019 und gar null Prozent im Jahr 2018.

„Spätestens mit der Machtübernahme der Taliban müssten doch nun auch die letzten Vorbehalte gegenüber einer realen Gefahr gebannt sein“, so Marion Dubois. Deshalb hat „Passerell“ mit anderen Organisationen die Regierung direkt nach der Machtübernahme durch die Taliban in einem Schreiben auch aufgefordert, die Asylprozeduren dringend zu beschleunigen.

„Es steht fest, dass die Alliierten die Fähigkeiten der Taliban unterschätzt und die der afghanischen Armee überschätzt haben“, schreibt Jean Asselborn in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage bereits am 20. August. Nicht fest steht hingegen, wann die Erkenntnisse dieser Analyse und das Eingeständnis des eigenen politischen Scheiterns in die Asylverfahren in Luxemburg einfließen werden.


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