Kann nur die Atomenergie den Klimawandel stoppen? Auf diesem Argument beruht die neue PR-Strategie der Atomindustrie, die zum Teil auch von der Europäischen Kommission übernommen wurde. Luxemburgs Energieminister Claude Turmes kündigt allerdings Widerstand an.
Der Generaldirektor des europäischen Atomforums freut sich. „Die letzten Klimaberichte zeigen, wie wichtig die Nuklearenergie für die Bekämpfung des Klimawandels ist“, sagt Yves Desbazaille. Der Atomenergie werde endlich mehr Bedeutung beigemessen. „Jetzt müssen wir die Menschen davon überzeugen, dass die Nuklearenergie ein Teil der Lösung ist.“
Ob die EU-Strategie für eine CO2-arme Wirtschaft, der jüngste Bericht der zwischenstaatlichen Gruppe für den Klimawandel (IPCC) oder die letzten Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA): Sie alle kommen zum gleichen Schluss. Wollen wir den Klimawandel aufhalten und die Pariser Klimaziele einhalten, müssen wir aus den fossilen Energien aussteigen. Und dazu brauchen wir die Atomenergie, so die Devise. Der EU-Energiekommissar Miguel Cañete betonte noch im November: „Zusammen mit den erneuerbaren Energien ist die Nuklearenergie das Rückgrat für ein kohlenstofffreies Energiesystem.“
Es gibt absolut keine Differenzen zwischen den Vorstellungen der europäischen Atomindustrie und der Haltung der Europäischen Kommission.“Yves Desbazaille, Generaldirektor des europäischen Atomforums (Foratom)
Während Luxemburg sich für den Ausstieg aus der Nuklearenergie einsetzt, hat für die Europäische Kommission der Ausstieg aus den fossilen Energien Priorität. Bis 2030 sollen 32 Prozent des EU-Energieverbrauchs aus erneuerbaren Energien stammen. Bis 2050 sollen es 80 Prozent sein. Der Rest, also die jeweils 68 bzw. 20 Prozent sollen mit Präferenz aus der Nuklearenergie kommen – und nicht etwa aus Öl oder Kohle. Der IPCC-Bericht sieht in seinen Szenarien sogar einen Ausbau der Kernenergie vor.
Ein neues „grünes“ Image
Yves Desbazaille begrüßt diesen Trend: „Es gibt absolut keine Differenzen zwischen den Vorstellungen der europäischen Atomindustrie und der Haltung der Europäischen Kommission.“ Eigentlich sorgen die Vorstöße Brüssels in Klimafragen bei Industrievertretern eher für Unmut. Dass ausgerechnet die Atomindustrie sich über einen Vorschlag der Kommission freut, ist also nicht selbstverständlich. Schließlich steht sie immer wieder aufgrund der Sicherheitsmängel vieler Atomkraftwerke und der problematischen Entsorgung von Atommüll in der Kritik.
Doch je weiter die Erderwärmung voranschreitet desto mehr wächst die Akzeptanz für die Kernenergie. So demonstrieren inzwischen sogar Umweltorganisationen zusammen mit der Atomlobby für – und nicht gegen – ein Come-Back der Kernkraft: „Nuclear Pride“ nennt sich die neue Bewegung.
Für die Atomindustrie ist es eine Gelegenheit, sich ein neues Image zu verpassen. Denn dem Sektor geht es alles andere als gut. Geld lässt sich mit der Atomenergie kaum mehr verdienen, der Strom aus erneuerbaren Energien ist deutlich preiswerter. Viele Betreiber stecken seit langem in finanziellen Schwierigkeiten und neue Kraftwerke sind äußerst teuer.
Der Klimawandel als Chance
Ein positives Narrativ könnte aus der Krise helfen, so die Hoffnung der Atomindustrie. Dass sie dieses geschickt ausnutzt, zeigen zum Beispiel die Prioritäten des europäischen Atomforums für 2019: Ganz oben auf der Liste stehen Klimawandel und Nachhaltigkeit.
Auch die europäischen Energieverbände und Betreiber werben offensiv mit den Klimavorteilen der Atomenergie: Die französische Atomgesellschaft SFEN etwa rechnet vor, wie viel CO2 dank der Kernenergie vermieden wird. Auch das „forum nucléaire“ macht stets auf die geringen Emissionen der Nuklearenergie aufmerksam. Und der neue Slogan des französischen Betreibers EDF lautet: „Devenons l’énergie verte qui change tout“.
Es wurde manipuliert. Pro-Atom-Aktivisten haben an diesen Szenarien gearbeitet.“Claude Turmes, luxemburgischer Energieminister
Auch Yves Desbazaille hat große Ziele. Hat sich die positive Verbindung zwischen Klimawandel und Kernenergie einmal in den Köpfen der Menschen eingenistet, könnte das für die Nuklearenergie einen Weg aus der finanziellen Krise bedeuten: Der Foratom-Generaldirektor erwägt bereits, den Zugang zu grünen Finanzierungsmodellen einzufordern, die in der Regel den erneuerbaren Energien vorbehalten sind.
Dem neuen luxemburgischen Energieminister Claude Turmes (Déi Gréng) dürften diese Pläne nicht gefallen. Luxemburg, und die Grünen insbesondere, setzt sich seit Jahren für den Ausstieg aus der Atomenergie ein. Dies wurde im Koalitionsvertrag der neuen Regierung nochmals bestätigt. Die maroden Reaktoren sieht Blau-Rot-Grün ausdrücklich als Gefahr für das Überleben Luxemburgs.
„Milchmädchenrechnungen“
Dass die jüngsten Berichte für die Nuklearindustrie so positiv ausfallen, ist für Turmes denn auch vor allem einer wirksamen Lobbyarbeit zu verdanken. „Die Atomlobby hat nach wie vor gute Kontakte zur Juncker-Kommission“, so der Minister im Gespräch mit REPORTER. Der ehemalige EU-Abgeordnete wirft der Kommission einen Mangel an Transparenz vor. So habe die Kommission etwa in ihrer Energiestrategie nur die Schlussfolgerungen ihrer Berechnungen vorgestellt, keineswegs aber die unterschiedlichen Szenarien in denen verschiedene Energie-Kombinationen vorgerechnet wurden.
Wieso die Kernenergie so gut abschneidet, lässt sich demnach nicht überprüfen. Ein Szenario für 100 Prozent erneuerbare Energien wurde zudem gar nicht aufgestellt. Turmes nimmt kein Blatt vor den Mund: „Es wurde manipuliert. Pro-Atom-Aktivisten haben an diesen Szenarien gearbeitet.“ Er wolle die EU-Kommission zu mehr Transparenz drängen, lautet die Kampfansage des Energieministers. Die EU-Kommission sagte auf Nachfrage von REPORTER, man wolle die Berechnungen in Kürze veröffentlichen.
Die Regierungen suchen sich ihre Wissenschaftler aus.“Dietmar Mirkes, Action solidarité tiers-monde
Auch der Klimaexperte bei der Action solidarité tiers-monde (ASTM), Dietmar Mirkes, weist darauf hin, dass viele Klimaberichte keineswegs neutral und wissenschaftlich unabhängig sind – insbesondere wenn ihr Kontext politisch ist. Mirkes nimmt den Weltklimabericht des IPCC als Beispiel, der anlässlich der Klimakonferenz COP24 vorgestellt wurde. „Das ist Lobbyarbeit. Es handelt sich dabei nicht um ein neutrales Wissenschaftsorgan. Die Regierungen suchen sich ihre Wissenschaftler aus.“
Der Bericht sei, genau wie die Weltklimakonferenzen, insbesondere ein Ausdruck der internationalen Machtverhältnisse. Und Atomstaaten seien nun einmal politische Schwergewichte. Wissenschaftlich sei der Bericht „Unsinn“ und die Prognosen „Milchmädchenrechnungen“. So würden etwa die Emissionen, die beim Bau eines Atomkraftwerkes entstehen, gar nicht mit einbezogen.
Pro-Atom-Lobbying in den EU-Institutionen
Das Lobby-Transparenzregister der EU führt 11.237 Organisationen auf. Rund 7.000 Lobbyisten und 900 Journalisten haben Zugang zum EU-Parlament. Das europäische Atomforum (Foratom) vertritt 17 nationale Nuklearverbände und rund 800 Unternehmen. 2017 gab Foratom ein Budget von 300.000 bis 400.000 Euro für Lobbyarbeit in der EU an. Neun Mitarbeiter sind beim EU-Parlament akkreditiert. Ihre Arbeit besteht zu jeweils 50 Prozent aus Lobbyarbeit.
Foratom ist in vier EU-Projekte involviert und hatte zwischen 2014 und 2018 vier angemeldete Treffen mit Vertretern der EU-Kommission, darunter Energie-und Klimakommissar Miguel Cañete. „Rusatom“, der internationale Flügel der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom) zählt zwei EU-Lobbyisten in Vollzeit. Offizielle Treffen gab es laut EU-Register keine; das Lobby-Budget betrug 2017 70.000 Euro. Rosatom baut zur Zeit Atomkraftwerke in Russland, Bangladesch, Weißrussland, China, Ägypten, Indien, Iran, der Türkei, aber auch in den EU-Staaten Ungarn und Finnland.
China und Russland als Förderer
Doch Lobbying ist nicht das einzige Problem im Energiesektor. Soll die Nuklearenergie tatsächlich ausgebaut werden, so stellt sich auch die Frage, wer die neuen Atomkraftwerke baut und wie sie finanziert werden. Sollen sie etwa durch die öffentliche Hand subventioniert werden? Luxemburg will sich laut Koalitionsvertrag dafür einsetzen, dass das nicht mehr möglich ist – auch wenn klar ist, dass das politische Gewicht der Staaten ohne Atomkraftwerke eher gering ist.
Doch auch die Frage, wer in die neuen Atomkraftwerke investiert, ist nicht unproblematisch. Bei dem britischen AKW-Projekt „Hinkley Point“ etwa ist es China. Bei anderen Bauprojekten ist es Russland, genauer gesagt die föderale Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom). Wie der „Economist“ jüngst berichtete, investiert Russland immer gezielter in den Bau von Atomkraftwerken – auch in Europa.
So kümmert sich „Rosatom“ zum Beispiel um den Bau des finnischen Atomprojektes „Hanhikivi“ und den Ausbau des ungarischen Kernkraftwerks „Paks“. Dieser ist darüber hinaus nur dank eines millionenschweren Kredits Russlands an Ungarn möglich. Der „Economist“ beschreibt insbesondere die Gefahr politischer Einflussnahme, wenn Russland zum Hauptexporteur von Nuklearprojekten wird. So könnten Atomkraftwerke zum politischen Druckmittel werden. Claude Turmes pflichtet dem bei: „Die Gefahr ist real.“
Das europäische Foratom hingegen sieht in dem russischen Vorstoß ein weiteres Argument für die Förderung der europäischen Atomindustrie. „Russland hat nie aufgehört, Atomkraftwerke zu bauen und betreibt ein sehr aggressives Marketing, um den europäischen Markt zu erschließen. Die europäische Industrie muss unbedingt aufholen und wieder wettbewerbsfähig werden“, so der Generaldirektor des europäischen Atomforums. So wird auch Russlands Vorstoß ein Teil des Pro-Atom-Narrativ.
Kampfansage von Claude Turmes
„Wir müssen klarstellen, dass Atomkraft keine Lösung ist“, sagt dagegen Claude Turmes. Luxemburgs Minister will sich für eine Reform der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) einsetzen. Daneben setzt Turmes auch auf das Gesetz über die Haftung für Atomunfälle, das aktuell von der Regierung überarbeitet wird, als wichtiges Instrument im Kampf gegen die Atomenergie. Ziel sei es, die Nachbarländer davon zu überzeugen, ähnliche Gesetze umzusetzen.
Wie schwer es jedoch ist, ohne Atomstrom die Pariser Klimaziele einzuhalten, zeigt das Beispiel Luxemburgs. 2016 lag der Anteil erneuerbarer Energien laut Eurostat bei rund 5,4 Prozent. Für Dietmar Mirkes sind die Zahlen „peinlich“. Bis 2020 soll der Anteil auf elf Prozent steigen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Luxemburg mit Litauen und Estland Abkommen zu statistischen Transfers von erneuerbarer Energie abgeschlossen. Die Kooperationsverträge, die noch von Etienne Schneider ausgehandelt wurden, erlauben es dem Großherzogtum den statistischen Überschuss an erneuerbaren Energien der beiden EU-Staaten „abzukaufen“.
Damit Luxemburg seine Ziele auch ohne Transfers – und vor allem ohne Atomenergie – erreichen kann, will Turmes vermehrt auf Energieeffizienz pochen und nationale Projekte, wie etwa den Ausbau der Solarenergie, fördern. Für 2030 habe er „große Ambitionen“, so der grüne Minister.
Obwohl Turmes im EU-Parlament bereits Erfahrung in der Verhandlung von Energiefragen sammeln konnte, bleibt abzuwarten, ob er sich dabei gegen jene Staaten durchsetzen kann, die auf Atomenergie setzen – insbesondere dann, wenn das Klima-Argument fällt.
Die Atomlobby wird Turmes Kampfansage kaum aus der Ruhe bringen. Auf die Frage, was er darüber denkt, dass der ehemalige „Mr. Energy“ jetzt Energieminister sei, muss Yves Desbazaille laut lachen. Man könne eben nicht jeden bekehren, sagt er. Doch viele Staaten hätten ihre Haltung bereits geändert. „Nichts ist in Stein gemeißelt“, so der Foratom-Generaldirektor.
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