Marode Reaktoren, volle Lagerbecken und ständige Pannen: Bei den Atomkraftwerken in Tihange und Cattenom häufen sich die Zwischenfälle. Dennoch bleiben sie am Netz. Die Betreiber kaschieren Probleme. Die Aufsichtsbehörden sehen weg. Experten schlagen Alarm.

An einem klaren Tag kann man sie am Horizont sehr gut erkennen, die vier Kühltürme des Kernkraftwerks Cattenom. Die imposanten Betontürme mit den großen Dampfwolken wirken bedrohlich, wie eine abstrakte Gefahr, die ständig im Hintergrund lauert.

Obwohl Luxemburg selbst kein Kernkraftwerk betreibt, wäre es unmittelbar von einer Atomkatastrophe betroffen. Im neuen Koalitionsvertrag wird sehr drastisch auf die Gefahr hingewiesen, die von den grenznahen Reaktoren ausgeht. Dort ist von einer „menace importante pour la sécurité et la survie du Luxembourg“ die Rede.

Eigentlich müssten Europas Kernkraftwerke sicher sein. Glaubt man der EU-Kommission, entsprechen sie den höchsten Sicherheitsstandards. Brüssel zählt die Atomsicherheit zu seinen höchsten Prioritäten. Doch viele der Meiler sind veraltet und verschlissen. Zwischenfälle häufen sich und die Betreiber investieren nur bedingt in ihre Nachrüstung.

Die Problemreaktoren von Tihange

Eine kurze Autofahrt von Brüssel entfernt kann von „höchsten Sicherheitsstandards“ bereits nicht mehr die Rede sein. Dort steht das Atomkraftwerk Tihange, das immer wieder für Schlagzeilen sorgt – auch in Luxemburg.

Tihange umfasst drei Reaktoren. Einer der Meiler, Tihange 2, gilt als sogenannter Rissereaktor: Der Behälter ist von tausenden kleinen Ritzen durchzogen. Bis heute sei nicht geklärt, woher die Risse stammen, kritisiert Roger Spautz von Greenpeace Luxemburg. Dennoch wird der marode Reaktor immer wieder hochgefahren. Vor zwei Jahren hat sich die Gemeinde Wiltz einer Klage zur Schließung des Reaktors angeschlossen. Das Urteil steht noch aus.

Tihange 2 ist aber nicht der einzige Problemreaktor. Auch der älteste der drei Meiler, Tihange 1,  musste aufgrund von Zwischenfällen bereits mehrmals abgeschaltet werden – zuletzt musste er wegen dringender Wartungsarbeiten vom Netz gehen. Doch Anfang November gab die belgische Aufsichtsbehörde AFCN grünes Licht. Tihange 1 wurde wieder hochgefahren.

Tihange 1 ist ein weiteres Beispiel dafür, wie EU-Standards ignoriert werden.“EU-Abgeordnete Rebecca Harms

Dabei stellt der Meiler ein akutes Sicherheitsrisiko dar. Dies belegt eine rezente Studie, welche die EU-Abgeordnete Rebecca Harms (Grüne/FEA) in Auftrag gegeben hatte. Daraus wird ersichtlich: Der Reaktor entspricht keinesfalls den Sicherheitsnormen, die nach den Unfällen in Tschernobyl und Fukushima eingeführt wurden. „Tihange 1 ist ein weiteres Beispiel dafür wie EU-Standards ignoriert werden und man kann nichts machen“, kommentiert die grüne Abgeordnete.

Ein veraltetes Modell

Martin Mertins hat schon etliche Meiler gesehen. Als Ingenieur und Sicherheitsexperte für Atomkraftwerke, weiß er genau, welche Anforderungen sie heutzutage erfüllen müssen. Er ist der Autor der rezenten Studie zu Tihange 1. Der Experte ist sich sicher: Der Meiler dürfte nicht am Netz sein.

Das liegt zum einen am Alter der Anlage. Das Design stammt aus den 1960er Jahren, als die internationalen Sicherheitsnormen noch deutlich geringer waren, als heute. So müssen Atomkraftwerke heutzutage etwa ausreichend gegen externe Einwirkungen, wie Erdbeben, Überflutung, und Flugzeugabstürze, gesichert sein. Tihange ist das nicht. „Ich habe erhebliche Zweifel an der Auslegung der Anlage“,  betont Mertins. Und warnt: „Alle bisherigen Atomkatastrophen waren auf Auslegungsschwächen zurückzuführen.“

Der Experte bemängelt insbesondere den geringen Schutzgrad des Abklinglagers des Reaktors. Es handelt sich um mit Wasser gefüllte Becken, in denen die abgebrannten Brennstäbe zwischengelagert werden. Diese hoch-radioaktiven Brennelemente werden Monate bis Jahre in solchen Behältern gekühlt. Sie müssen ständig mit Wasser umgeben sein, damit die Strahlung gedämmt wird. Kommt es hier zu Zwischenfällen, sind die Konsequenzen erheblich. „Wir wissen ja aus Fukushima was passiert, wenn die Brennelemente von Kernschmelzen betroffen sind“, kommentiert der Experte trocken.

Doch in Tihange befinden sich diese Becken nicht, wie heute Standard, innerhalb, sondern außerhalb der Anlage.  Mertins Beschreibung von Tihanges Abklingbecken lässt aufhorchen. „Man kann es sich vorstellen, wie eine Lagerhalle, wie ein leichter Schuppen, in dem Wasserbecken stehen.“ Das Gefährdungspotential schätzt der Experte als „sehr hoch“ ein.

Das Atomkraftwerk Tihange. (Foto: Shutterstock)

Probleme häufen sich

„Wenn man eine schlechte Anlage hat, aber eine hervorragende Betriebsführung, dann könnte man das Ganze vielleicht noch regeln“, erklärt Mertins. Das sei aber bei Tihange nicht der Fall. Denn seit Jahren nehmen Zwischenfälle zu.

Dies ist auch in den jährlichen Berichten der Atomenergie-Organisation (IAEA) vermerkt: Seit 2014 stellt sie einen deutlichen Negativtrend bei den Auslegungsstörfällen fest. Dabei handelt es sich um Unfälle, die in der Planung der Kernkraftwerke bereits berücksichtigt sind. „Es bestehen Zweifel, ob die Notfallsysteme noch hinreichend funktionieren“, kommentiert Mertins den Befund der IAEA.

Besonders kleinere Zwischenfälle und Fehlfunktionen, wie etwa den Ausfall einer Pumpe, häufen sich seit 2014. Isoliert betrachtet sind diese Vorfälle nicht dramatisch. Problematisch wird es allerdings, wenn sie sich häufen und zum Beispiel auch die Kompensierungssysteme kleine Fehler haben. „Das kann ganz schnell einen Beitrag zu Kernschmelzszenarien leisten“, warnt Manfred Mertins. Die Situation sei beängstigend.

Ähnliche Probleme bei Cattenom

Diese drastische Zunahme von kleinen Ausfällen erklärt sich durch den Alter der Anlage. Tihange 1 läuft bereits seit über 40 Jahren – also die maximale Laufzeit für die Atomkraftwerke generell ausgelegt sind. Doch Belgien verlängerte die Laufzeit von Tihange um weitere zehn Jahre – trotz aller Probleme. Gegen die Entscheidung laufen zurzeit mehrere Gerichtsverfahren.

Bei den vielen Störfällen handelt es sich folglich um Verschleißerscheinungen mit denen nicht nur Tihange zu kämpfen hat. Viele Kraftwerke in Europa sind in die Jahre gekommen. Das französische Kernkraftwerk Cattenom ist inzwischen seit 31 Jahren in Betrieb. Auch dessen Design stammt aus den 1960er Jahren. Es kann also genauso wenig wie Tihange den heutigen Standards entsprechen.

Es ist überhaupt nicht möglich Anlagen wie Tihange und Cattenom gemäß den heute geltenden Sicherheitsanforderungen nachzurüsten.“Sicherheitsexperte Manfred Mertins

Auch hier häufen sich die Unfälle. Immer wieder hat Frankreich die luxemburgischen Behörden über Störfälle ins Bild gesetzt. „Das Atomkraftwerk ist in einem vergleichbar schlechten Zustand wie Tihange“, bestätigt Manfred Mertins. Er hat auch zu diesem Kernkraftwerk bereits ein Gutachten angefertigt. Dennoch sieht es nicht so aus, als ob Cattenom in den nächsten Jahren vom Netz gehen wird. Womöglich wird die Laufzeit sogar verlängert.

Kein Platz für Brennstäbe

Cattenom und Tihange teilen noch ein weiteres Problem: Die Lagerbecken, in denen die abgebrannten Brennstäbe zwischengelagert sind, werden voller und voller. So beschreibt ein Mitglied der belgischen Behörde für Nuklearabfall (ONDRAF) die Situation in Tihange im Gespräch mit REPORTER als „dramatisch“. Auch in Cattenom werden die ausgebrannten Brennelemente immer öfter vor Ort gelagert, erklärt Roger Spautz von Greenpeace Luxemburg. Denn die französischen Aufbereitungsanlage La Hague kommt an ihre Kapazitätsgrenzen.

So werden die Abklingbecken an den Reaktoren zu Zwischenlagern. Wenn die Becken voll sind, werden die Stäbe dichter als normalerweise üblich zusammengelegt.  Dadurch erhöht sich das Sicherheitsrisiko – insbesondere wenn die Becken dann noch wie in Tihange in „Schuppen“ untergestellt sind.

Angesichts der eklatanten Mängel stellt sich die Frage nach der Verantwortung von Betreibern und Aufsichtsorganisationen. Wieso investieren Betreiber kaum in die Nachrüstung dieser Problemreaktoren? Wieso werden sie nicht vom Netz genommen?

Manfred Mertins antwortet: „Es ist überhaupt nicht möglich Anlagen wie Tihange und Cattenom gemäß den heute geltenden Sicherheitsanforderungen nachzurüsten.“ Lediglich einzelne Nachbesserungen könnten unternommen werden – wie der Bau eines neuen Abklinglagers. Doch lohnen tun sich die Investitionen für die Betreiber kaum.

Verzögerter Atomausstieg

Das liegt auch an der Politik der belgischen und französischen Regierungen. „Frankreich und Belgien haben vor Jahren den graduellen Rückzug aus der Atomenergie beschlossen, doch sie rudern immer wieder zurück“, kritisiert Rebecca Harms. Ein aktuelles Beispiel: Frankreich hat letzte Woche angekündigt, die Nuklearenergie bis 2035 von rund 70 auf 50 Prozent reduzieren. Ursprünglich war dies aber bereits für 2025 angesetzt.

Belgien plant den Atomausstieg für 2025. Doch beide Nachbarländer haben keine glaubwürdigen Strategien zur Energiewende, kritisiert Rebecca Harms im Gespräch mit REPORTER: „Die jeweiligen Regierungen investieren viel zu wenig in alternative Energien.“ Demnach könne die Energiewende nicht gelingen. Immer wieder würde die Abschaltung von Meilern verzögert. Die Begründung: Die nationale Energieversorgung sei in Gefahr.

Was fehlt sind eine zentrale Europäische Behörde sowie harmonisierte Standards“Manfred Mertins

Die Ankündigungen zum Atomausstieg haben aber zur Folge, dass die Betreiber kaum noch in die alten Meiler investieren. Sie sollen ja ohnehin irgendwann abgeschaltet werden. Zudem stehen sowohl französische Betreiber EDF wie der franko-belgische Betreiber ENGIE/Electrabel finanziell äußerst schlecht dar. Mit Atomstrom lässt sich kaum noch Geld verdienen. Modernisierungen aber sind äußerst kostspielig.

Die Folge: Immer wieder stellen die Behörden Sondergenehmigungen und Laufzeitverlängerungen für marode Meiler aus.

Aufsichtsbehörden haben Nachsicht

Wie wenig die Betreiber investieren, zeigt der Fall Cattenom. Wie Recherchen der investigativen Plattformen „Mediapart“  und „Correctiv“ zeigen, verschleiert der französische Betreiber EDF Sicherheitslücken seiner Kernkraftwerke. EDF kaschiert etwa die Überschreitung von zulässigen Belastungsgrenzen – etwa für bestimmte Bauteile – indem die Richtwerte einfach nach oben korrigiert werden. Die Aufsichtsbehörden haben laut „Mediapart“ viel zu oft das Nachsehen. Dabei werden in Frankreich die Belastungsgrenzen während der Laufzeit der Atomkraftwerke ohnehin schon gelockert.

Von Konsequenz kann auch in anderen Fragen keine Rede sein. Nach Fukushima wurden zum Beispiel europaweit Stresstests durchgeführt um den Zustand der Kernkraftwerke zu ermitteln. Aufgrund von Frankreichs schlechtem Abschneiden hat die französische Nuklear-Aufsichtsbehörde (ASN) damals gefordert, dass alle französischen Kernkraftwerke bis 2018 mit Diesel-Notfallgeneratoren ausgestattet seien müssen. Dass die Betreiber inzwischen gerademal 2 von 56 Generaten installiert haben, zeigt, wie wenig Einfluss die ASN auf die Betreiber hat.

In Belgien verlangte die  Kontrollbehörde nach den Stresstests, dass der Betreiber einen Maßnahmenplan für Überflutungsfälle für das Kernkraftwerk Tihange ausarbeite. Manfred Mertins aber berichtet: „Diese Maßnahmen wurden in der Folge wieder reduziert.“ Wie intransparent die AFCN mit Zwischenfällen umgeht, zeigen Spiegel-Recherchen: Die Aufsichtsbehörde soll über 250 Zwischenfälle nicht gemeldet haben.

Es fehlt ein EU-Organ

Die EU-Kommission kann gegen diese Probleme wenig unternehmen. Die Forderungen nach „sicheren“ Kraftwerken gleichen leeren Parolen. Die Beispiele Frankreich und Belgien lassen vermuten: Brüssel kontrolliert nicht, ob die Empfehlungen zu den EU-Stresstests umgesetzt werden.

Die Sicherheit der Kernkraftwerke fällt unter die Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Ohnehin unterstütze die Kommission die Nuklearenergie, kritisiert Rebecca Harms. „Für die Hälfte der Reaktoren geht die EU-Kommission von einer Verlängerung auf bis zu 60 Jahre aus. So alt ist noch gar kein Kraftwerk.“ Auch die EU-Rahmenrichtlinie zur Kernkraft stärkt die Autonomie der nationalen Regulierungsbehörden. Der Text, der die Sicherheit kerntechnischer Anlagen sicherstellen soll, wurde darüber hinaus von Belgien bisher nur unzureichend umgesetzt, wie die Kommission auf Nachfrage bestätigt.

„Was fehlt sind eine zentrale Europäische Behörde sowie harmonisierte Standards“, sagt Manfred Mertins. Nur so könnte man die Sicherheitsstandards auch wirklich einfordern.

Luxemburg kann derweil nicht viel gegen die Sicherheitsmängel der grenznahen Meiler unternehmen. Rechtlich gibt es kaum Einwirkungsmöglichkeiten – auch wenn Cattenom so nah ist, dass sich der Rauch tagtäglich am Horizont abzeichnet.