Die Bekenntnisse zur Impfpflicht waren stark, ein Gesetzentwurf liegt mittlerweile vor. Und doch ist noch lange nichts ausgemacht. Während sie die Pandemie quasi für beendet erklärt hat, drückt sich die Regierung weiter um eine Entscheidung. Eine Analyse.
Eigentlich war die Sache glasklar. Am 19. Januar 2022 debattierte die Abgeordnetenkammer über die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht gegen Covid-19. Eine breite Mehrheit der Parlamentarier sprach sich dafür aus. Am Ende stimmte eine ebenso breite Mehrheit für eine Motion, mit der die Regierung aufgefordert wurde, ein Gesetz zur Einführung einer Impfpflicht für Über-50-Jährige sowie für Mitarbeitende des Gesundheitssektors auszuarbeiten.
Jeder, der die Debatte verfolgte, musste zur Erkenntnis gelangen, dass die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht in Luxemburg nur noch eine Frage der Zeit war. Dabei berief die Regierung sich auf ein Expertengutachten, das unmissverständlich und unverzüglich eine Impfpflicht forderte. „Die Regierung hat beschlossen, dem Gutachten zu folgen“, sagte Premierminister Xavier Bettel (DP). „Diese Position ist für uns alternativlos“, so die damals in der Presse einhellig zitierten Worte des Regierungschefs. „Spätestens in drei Monaten“ solle ein entsprechender Gesetzentwurf vorliegen und ins Parlament eingebracht werden, betonte der Premier am Ende der Aussprache.
Mehr als vier Monate später liegt der versprochene Gesetzentwurf zwar vor, wie das Justizministerium auf Nachfrage von Reporter.lu bestätigt. Doch er wurde noch nicht der Öffentlichkeit präsentiert, geschweige denn auf den Instanzenweg gebracht. Indes ist die einstige Leidenschaft einem ebenso bemerkenswerten Schweigen gewichen. Die Regierung spielt auf Zeit. Angesichts der Vorgeschichte könnte die Impfpflicht-Debatte Blau-Rot-Grün aber noch in Verlegenheit bringen.
Mit beschränkter Glaubwürdigkeit
Durch ihre dokumentierten Bekenntnisse hat sich die Koalition in eine missliche Lage manövriert: Sieht sie in den kommenden Wochen von einer gesetzlichen Impfpflicht ab, macht sie sich unglaubwürdig. Bringt sie den Gesetzentwurf dagegen in das Parlament ein, befördert sie die vorerst aus den Köpfen verbannte Pandemie wieder auf die politische Agenda – inklusive der Debatten über die Kontroversen des eigenen Pandemiemanagements.
Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass es psychologisch sehr schwierig wird, der Bevölkerung zu erklären, warum wir gerade jetzt eine Impfpflicht einführen sollen.“Josée Lorsché, Fraktionschefin Déi Gréng
Vor allem der Premier hat die Fähigkeit der Koalition zu glaubwürdigem Handeln wesentlich eingeschränkt. Glaubt man nämlich seinen leidenschaftlichen Beteuerungen aus der Debatte von vor vier Monaten, dann wäre der Weg eigentlich vorgezeichnet. Blau-Rot-Grün müsste nun Verantwortung übernehmen und präventiv eine Impfpflicht einführen. Oder um es mit den damaligen Worten von Xavier Bettel auszudrücken: „Wir können nicht den nächsten Herbst oder den nächsten Winter abwarten, und dann schauen, wie die Situation dann ist. Weil es dann zu spät ist.“
Blau-Rot-Grün hat bereits kostbare Zeit verspielt. Im Gutachten der Adhoc-Expertengruppe heißt es nämlich, dass eine Impfpflicht so schnell wie möglich („dans les meilleurs délais“) realisiert werden soll. Stattdessen ging es die Regierung langsam an. Selbst wenn der Gesetzentwurf einmal öffentlich vorgestellt, debattiert und verabschiedet werden sollte, heißt das noch nicht, dass er unverzüglich in Kraft treten kann. Ja, aber nein, aber vielleicht, oder auch nicht: In Sachen Impfpflicht führt die Regierung einen eindrucksvollen Eiertanz auf – mit noch offenem Ausgang.
Warten auf das nächste Gutachten
Der einstige feste Wille zur Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht wurde auch längst relativiert. Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng), die bei der Ausarbeitung des Gesetzes federführend sein sollte, sagte bereits am Tag nach der parlamentarischen Debatte im Januar, dass sich eine Impfpflicht je nach Pandemielage vielleicht doch erübrigen könne. Ähnlich äußerte sich bis zuletzt auch Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP), die ohnehin als ausgesprochene Skeptikerin der im Kabinett prinzipiell beschlossenen Maßnahme gilt.
Der Gesundheitsministerin kommt beim weiteren Verfahren eine Schlüsselrolle zu. Was während der Debatte im Januar nämlich etwas unterging: Die Regierung lässt sich in Sachen Impfpflicht in der Tat ein Hintertürchen offen. Während Xavier Bettel den Eindruck einer „alternativlosen“ Maßnahme verfestigte, machte Paulette Lenert die Entscheidung letztlich von einer weiteren Expertenanalyse abhängig. „Wir müssen eine seriöse Faktenlage ausarbeiten“, sagte sie Anfang Februar im Interview mit Reporter.lu.

Laut Paulette Lenert gehe es dabei um „Modellrechnungen, wie die Lage sich bis zum Herbst, und darüber hinaus, entwickeln könnte“. Am Ende müsse man die Wahrscheinlichkeit abschätzen können, inwiefern „Über-50-Jährige schwer krank werden, und wie sich diese Zahl über eine gewisse Zeit auf die Belegung der Krankenhäuser“ auswirke. „Die entscheidende Frage ist, ob das so ermittelte Risiko bis zum Ende des Jahres tragbar ist oder nicht. Erst dann gibt es ein klares Ja oder Nein zur Impfpflicht“, so die Ministerin damals.
Genau diese Modellrechnungen erwartet man sich nun von der Expertengruppe. Das Gremium, das sich aus den Infektiologen Vic Arendt, Thérèse Staub und Gérard Schockmel, dem Virologen Claude P. Muller sowie dem Biologen Paul Wilmes zusammensetzt, will in den kommenden zwei Wochen ein neues Gutachten vorlegen. „Ziel ist immer noch, dass wir bis Ende des Monats, spätestens bis Anfang Juni, unsere aktualisierten Empfehlungen abgeben“, sagte Gérard Schockmel im Interview mit dem „Tageblatt“.
Trend im Ausland gegen Impfpflicht
Schwer vorzustellen ist dabei, dass die Experten eine gesetzliche Impfpflicht in ihren Empfehlungen plötzlich nicht mehr als dringend einschätzen. Während die Mehrheit der Gesellschaft die „Rückkehr zur Normalität“ genießt, mahnen sie die Politik weiterhin, die epidemiologische Lage im Blick zu behalten und – anders als in früheren Phasen der Pandemie – vorausschauend zu handeln. Ob es tatsächlich dazu kommt, hängt aber letztlich vom politischen Willen der Koalition ab.
Ein weiterer wichtiger Faktor lautet: Seit der Debatte im Januar blieb die Impfquote relativ konstant. Mehr als 20 Prozent der Risikogruppen hätten noch keine komplette Impfung gegen Covid-19 erhalten, warnte Dr. Gérard Schockmel jüngst im „RTL“-Interview. Das sei immer noch eine Zahl, die im Hinblick auf den Herbst nicht zu unterschätzen sei. Die Quintessenz der Expertenmeinungen lautet also nach wie vor: Zwar kann niemand voraussagen, was bis zum Jahresende passiert. Zur Sicherheit soll man aber jene Menschen, die am ehesten eine schwere Erkrankung riskieren, zur Impfung verpflichten.
Wir können nicht den nächsten Herbst oder den nächsten Winter abwarten, und dann schauen, wie die Situation dann ist. Weil es dann zu spät ist.“Premier Xavier Bettel im Januar 2022
Wie so oft in der Pandemie blicken Politiker und Experten dabei auch ins europäische Ausland. Dort zeigt der Trend jedoch nicht in Richtung Impfpflicht. Österreich führte im Februar zwar als erstes europäisches Land eine allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 ein, legte die Maßnahme nach wenigen Wochen aber wieder auf Eis. Verpflichtende Regeln für einzelne Berufe, besonders im Gesundheits- oder Pflegesektor, gibt es zum Beispiel in Frankreich. In Italien läuft die generelle Impfpflicht für Über-50-Jährige Mitte Juni aus. In Griechenland gilt noch eine Impfpflicht für Menschen über 60 Jahre, Geldbußen werden aber keine mehr verhängt. Die allermeisten Staaten der Welt haben überhaupt keine vergleichbare gesetzliche Regelung.
Blau-Rot-Grün dürfte aber vor allem nach Deutschland blicken. Denn dort lief die Debatte nahezu nach dem gleichen Muster ab wie bisher in Luxemburg. Zwar hatte Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigt, dass bis März 2022 ein Gesetz zur Impfpflicht verabschiedet sein soll. Am Ende scheiterte die Ampelkoalition aber im Deutschen Bundestag. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Regierungsparteien SPD, FDP und Grüne keine geschlossene Haltung in der Frage hatten – und demnach auch keinen gemeinsamen Antrag ins Parlament einbrachten. In der deutschen Presse hagelte es danach Schlagzeilen wie „Scholz‘ Impfpflicht-Chaos“, „Klatsche für den Kanzler“ oder „Der Kanzler hat’s versemmelt“.
Entscheidung zieht sich weiter hin
In Luxemburg ist jedoch noch immer nichts entschieden. Mehrere Koalitionspolitiker können sich zwar prinzipiell vorstellen, dass man den Gesetzentwurf noch vor der Sommerpause im Juli ins Parlament einbringt. Sie verweisen aber stets auf das noch ausstehende Expertengutachten. Auf Nachfrage von Reporter.lu heißt es auch aus dem Staatsministerium, dass nach wie vor die Leitlinie gelte, wonach man dem Rat der Sachverständigen folgen wolle. „Wir halten uns an das Gutachten der Experten“, so das Statement.
Doch auch beim Vorliegen dieses Gutachtens muss noch keine Entscheidung fallen. Der fertige Text könnte auf Basis des neuen Gutachtens noch einmal gründlich überarbeitet werden, heißt es aus Regierungskreisen. Das lässt sich auch aus der Antwort aus dem Justizministerium herauslesen: „Wir warten momentan auf das Gutachten der Expertengruppe. Erst dann wird entschieden, wie es weitergeht“, so eine Sprecherin von Ministerin Sam Tanson gegenüber Reporter.lu. Zudem beziehe sich der vorliegende Text ausdrücklich nur auf die Impfpflicht für Über-50-Jährige. Bei der sektoriellen Impfpflicht sei das Gesundheitsministerium federführend.

Bei allen Unwägbarkeiten scheint heute nur eines klar: Die Koalitionsparteien legen die Entscheidung offenbar in die Hände der fünf auserwählten Pandemie-Experten. Sollten diese sich weiter klar für eine Impfpflicht aussprechen, kann die Regierung – sollte man zumindest meinen – kaum anders handeln. Doch ausgesprochene Befürworter der Maßnahme sind in den Reihen von DP, LSAP und Déi Gréng mittlerweile schwer ausfindig zu machen. Zudem haben die vergangenen Monate gezeigt, dass die Meinungen zur Impfpflicht nicht nur weit auseinandergehen. Sie entwickeln sich auch schnell weiter. Eine neue, komplette Kehrtwende ist durchaus vorstellbar.
Ankündigen, aber nichts ausschließen
„Ich will nichts ausschließen“, bringt Josée Lorsché die Haltung der Koalition auf den Punkt. Ihre Partei hat sich zwar eindeutig für eine Impfpflicht ausgesprochen. Dennoch wolle man das nächste Gutachten der Fachleute abwarten, so die Fraktionschefin von Déi Gréng im Gespräch mit Reporter.lu. „Wir wollen nicht auf Teufel komm raus eine Impfpflicht, sondern nur, wenn sie sich auf Basis der Fakten aufdrängt, die von kompetenter Seite festgestellt wurden.“
Dabei spricht die Grünen-Politikerin das aus, was viele in der Koalition in diesen Tagen nur andeuten. „Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass es psychologisch sehr schwierig wird, der Bevölkerung zu erklären, warum wir gerade jetzt eine Impfpflicht einführen sollen.“ Josée Lorsché bezieht sich dabei auf die entspanntere Lage in den Krankenhäusern und die vergleichsweise hohe Impfquote in der Bevölkerung. Natürlich sei die Impfpflicht nur sinnvoll, wenn sie präventiv wirkt, räumt die Abgeordnete ein. Die Umsetzbarkeit und Akzeptanz in der Gesellschaft seien dennoch Faktoren, die man bei der Entscheidung berücksichtigen müsse.
Sollte die Regierung am Ende keine Impfpflicht beschließen, hätte ohnehin der Premier das größte Glaubwürdigkeitsproblem. Zuerst beteuerte Xavier Bettel während der Pandemie monatelang, dass er strikt gegen eine verpflichtende Lösung sei. Dann kündigte er im Parlament überschwänglich ein Gesetz an, das genau das Gegenteil seiner bisherigen Überzeugung umsetzen soll. Eine weitere 180-Grad-Wende zurück zum Ausgangspunkt wäre sogar für den taktisch versierten Regierungschef eine Herausforderung.
Anders verhält es sich bei Paulette Lenert. Sie blieb sich in der Impfpflicht-Frage vergleichsweise treu, indem sie von Beginn an betonte, dass sie diese Maßnahme nur als „ultima ratio“ befürworten könne. Die Gesundheitsministerin verstieg sich sogar zur Aussage, dass man diese Frage nicht in einer aufgeladenen Situation wie einer Pandemie diskutieren sollte. Oft und ausgiebig kritisiert, könnte sich Lenerts Leitlinie am Ende sogar durchsetzen: Für die Politik scheint die Pandemie eh gemeistert, die Gemüter haben sich beruhigt – also der ideale Zeitpunkt, um die Sache zumindest einmal durchzudiskutieren. Bis zur Entscheidung könnte es dann aber in der Tat zu spät sein.


