„Es gibt kein absolutes Ja und kein absolutes Nein“, sagte Paulette Lenert im Parlament zur Impfpflicht. Im Interview spricht die Gesundheitsministerin darüber, wann aus einem „Vielleicht“ ein „Ja“ wird und warum sie sich in einem Punkt mehr Unterstützung vom Premier erwartet hätte.
Interview: Christoph Bumb
Frau Lenert, wie schwer ist es eigentlich, als Politikerin seine Meinung zu ändern?
Für mich persönlich ist das nicht schwer. Ich neige nicht zu Vorurteilen und bin immer offen für neue Argumente. Ich spüre aber auch den Druck, dass auf jedes Wort geachtet wird; dass einem auch zum Teil Worte in den Mund gelegt werden. Dann wird immer weiter gebohrt, weil man meint, man hätte da irgendwelche Widersprüche erkannt. Das macht die Sache natürlich nicht einfacher.
Vielleicht anders: Wie schwer ist es, als Politikerin keine klare Meinung zu einem Thema zu haben?
Eigentlich habe ich ja immer eine klare Meinung. Aber ich stelle mir bei manchen Themen vielleicht mehr Fragen als bei anderen. Ich nehme an, Sie wollen auf die Impfpflicht-Debatte zu sprechen kommen. Meine klare Meinung ist, dass die Impfpflicht eine komplexe Frage ist. Und ich stehe auch dazu, dass ich sie heute nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten kann. Man braucht manchmal eben etwas Zeit, um eine Thematik zu verstehen, zu relativieren und alle Nuancen zu durchdringen …
Gerade von der Regierung wird aber doch erwartet, dass sie nach einer gewissen Zeit der Debatte eine klare Entscheidung trifft …
Also ich hatte ja relativ schnell eine klare Meinung zu diesem Thema …
In der Tat waren Sie immer sehr zurückhaltend, wenn es um die Einführung einer verpflichtenden Impfung gegen Covid-19 ging. Und Sie hielten auch länger an diesem Prinzip fest als andere Politiker, zum Beispiel der Premier, der anfangs genauso argumentierte wie sie. Oder täuscht der Eindruck?
Das weiß ich nicht. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich nie so sehr mit der Psychologie von Politikern beschäftigt habe. Als Journalist ist das wohl Teil Ihres Berufs, aber ich persönlich kann das schwer einschätzen. Ich kann also nur für mich sprechen. Mein Prinzip war und bleibt, dass die Impfpflicht nur die absolute Ultima ratio sein darf. Das heißt nicht, dass ich dagegen bin, sonst wäre es ja keine Ultima ratio. Es bedeutet vielmehr, dass ich erst an dem Punkt, an dem keine anderen Maßnahmen mehr greifen, für eine solche Regelung bin. Das ist übrigens auch die Position der ganzen Regierung.
Wir greifen hier in juristischer und ethischer Hinsicht in ein grundlegendes Recht ein, das ist die körperliche Unversehrtheit des Menschen.“
Wie passt das zu Ihrem mittlerweile oft zitierten Satz, wonach die Diskussion über eine Impfpflicht nicht in einer Notsituation geführt werden solle, „in der die Gemüter aufgeheizt sind“?
Ich bin heute noch überzeugt davon, dass man eine solche Diskussion idealerweise nicht in einer so aufgeheizten Stimmung führen sollte. Ich betone aber: idealerweise. Wir mussten in dieser Krise viele Dinge tun, die nicht angenehm sind. Ich wollte damit nur ausdrücken, dass es nicht günstig ist, über eine solche Maßnahme zu sprechen, wenn man nicht alles andere versucht hat, um diese Pandemie zu überwinden. Man darf auch nicht den Eindruck erwecken, als sei die Impfpflicht ein Zaubermittel, um die Pandemie allein damit zu beenden.
Warum sollte man über all das erst nach der Pandemie sprechen?
Ich bin immer noch davon überzeugt, dass wir nach dieser Pandemie über das Thema Impfpflicht sprechen müssen. Dabei geht es nämlich auch um andere Krankheiten, bei der eine Impfung sinnvoll ist und bei der die gesellschaftliche Debatte eher in die entgegengesetzte Richtung geht. Aber wenn Sie mich heute fragen, würde ich den zitierten Satz so nie mehr sagen oder ihn zumindest sofort erklären, damit keine Missverständnisse entstehen können.

Jetzt hat das Parlament doch schon früher über die Impfpflicht diskutiert …
Ja, und ich fand diese Debatte auch sehr wichtig. Wir müssen aber sicherstellen, dass alle relevanten Aspekte in unsere Entscheidung einfließen. Die epidemiologische Sicht ist klar und natürlich wichtig, und doch ist sie nur ein Aspekt. Wir dürfen nicht vergessen: Wir greifen hier in juristischer und ethischer Hinsicht in ein grundlegendes Recht ein, das ist die körperliche Unversehrtheit des Menschen. Das ist für mich persönlich eines der höchsten Grundrechte überhaupt. Die Impfpflicht bleibt ein höchst sensibles Thema. Man kann nicht einfach, weil man von der Pandemie genug hat, sagen: Komm, jetzt machen wir das mal. Wenn wir auf diesen Weg gehen, dann soll die Impfpflicht in jeglicher Hinsicht gut überlegt und am Ende auch rechtlich einwandfrei vorbereitet sein. Und dann müssen wir die Bürger auch noch überzeugen, dass dies die richtige Maßnahme ist. All das erklärt vielleicht meine nuancierte Sicht der Dinge.
Sie sagten am Schluss der Debatte im Parlament, dass Sie bald eine Analyse vorlegen wollen, anhand derer die Entscheidung zur Impfpflicht vorbereitet werden soll. Was soll genau analysiert werden?
Wir müssen eine seriöse Faktenlage ausarbeiten. Wir erstellen Modellrechnungen, wie die Lage sich bis zum Herbst, und darüber hinaus, entwickeln könnte. Dabei geht es zunächst um die Anzahl der ungeimpften Menschen und um jene unter ihnen, die für die altersmäßige Impfpflicht infrage kommen. Hochrechnen müssen wir dann die Wahrscheinlichkeit, dass Über-50-Jährige schwer krank werden, und wie sich diese Zahl über eine gewisse Zeit auf die Belegung der Krankenhäuser auswirkt. Wir arbeiten da mit verschiedenen Szenarien. Die entscheidende Frage ist, ob das so ermittelte Risiko bis zum Ende des Jahres tragbar ist oder nicht. Erst dann gibt es ein klares Ja oder Nein zur Impfpflicht.
Sollte es in den kommenden Wochen bei der Impfquote keine deutliche Verbesserung geben, führt an einer Impfpflicht kein Weg mehr vorbei.“
Wann fällt diese Entscheidung?
Wir haben uns nach der Debatte im Parlament drei Monate Zeit gegeben, um den Gesetzentwurf auszuarbeiten. Das kann auch noch schneller gehen. Dann stellt sich aber, wie gesagt, die Frage, ob das Gesetz den Verhältnismäßigkeitstest bestehen wird. Ich rechne damit, dass wir spätestens Anfang Mai dafür bereit sind. Wir müssen unbedingt vermeiden, dass das Gesundheitssystem wieder an seine Grenzen stößt. Die Lösung dafür ist eindeutig die Impfung. Dabei habe ich aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass wir in den kommenden Monaten bei der Impfquote wesentliche Fortschritte erzielen.
Das Problem an dieser Strategie ist ja aber, dass man egal wie nicht weiß, was im Herbst passiert. Die Impfpflicht sollte ja eigentlich ein präventives Mittel sein …
Das ist offensichtlich. Und doch geht es immer noch um die Frage, dass wir die Risikogruppen, und damit die Krankenhäuser vor einer Überlastung, schützen müssen. Wir reden aktuell von rund 17.000 Menschen, die älter als 50 und bisher nicht geimpft sind. Falls es dabei bleibt, würden diese Personen über einen gewissen Zeitraum zu einem wesentlichen Anstieg der Belegung der Intensivstationen führen. Eine Modellrechnung geht etwa von einer Belegung von bis zu 25 Intensivbetten über einen Zeitraum von drei Monaten aus. Das ist nicht geringfügig. Und da ist noch nicht einmal das „worst case scenario“ einer virulenteren Virusvariante im Herbst eingerechnet. Das ist das Risiko und das ist heute zu groß, das sage ich ganz deutlich. Sollte es in den kommenden Wochen bei der Impfquote keine deutliche Verbesserung geben, führt an einer Impfpflicht kein Weg mehr vorbei.
Während und nach der Debatte im Parlament hatte man den Eindruck, dass Sie und Ihre Partei in der Koalition isoliert waren. Jetzt, mit der geplanten Aufhebung von Restriktionen und dem zeitlichen Aufschub bei der Impfpflicht, scheint es eher so, als ob die Regierung auf Ihre initiale Position umgeschwenkt wäre. Stimmen Sie dem Eindruck zu?
Das hört sich vielleicht ein bisschen so an … (lacht). Ich bin in dieser Hinsicht vielleicht noch immer nicht genug Politikerin. Mir fällt aber auf, dass jeder nur noch einen Satz hören wollte: Impfpflicht, ja oder nein. Ich hätte mir ehrlich gesagt gewünscht, dass wir uns für die Debatte im Parlament noch etwas mehr Zeit genommen hätten. Wir kamen etwa nicht dazu, alle Gutachten und fundierten Einschätzungen, die es in der Zivilgesellschaft gibt, angemessen in die Diskussion einfließen zu lassen. Ich stehe auch absolut hinter dem Bericht des wissenschaftlichen Expertenrats, der eine beschränkte Impfpflicht empfiehlt, der aber auch nicht genügend Zeit hatte. Das zeigt sich etwa daran, dass in diesem Gutachten keine Projektionen enthalten sind. Diese doch fundamental wichtige Faktenbasis wollen wir nun nachliefern.

Apropos Experten: Der Infektiologe Dr. Gérard Schockmel hat sie in einer Sendung bei „RTL“ ungewöhnlich scharf kritisiert. Sie hätten, so seine Aussage, die Forderungen von Experten zugunsten einer Impfpflicht ignoriert …
Ich war ehrlich gesagt auch überrascht, vor allem über die Virulenz der Aussagen. Ein Vorwurf lautet ja, ich hätte mich nicht mit den Experten ausgetauscht. Das stimmt nachweislich nicht. Drei der fünf Personen, die in der Ad-hoc-Expertengruppe zur Impfpflicht saßen (Dr. Paul Wilmes, Dr. Thérèse Staub, Dr. Vic Arendt, Anmerkung der Redaktion), gehören zu meinen regelmäßigen Beratern. Auch mit Professor Claude Muller und Dr. Gérard Schockmel habe ich mich schon ausgetauscht. Dass wir als Ministerium dabei nicht immer alle einzelnen Ratschläge umsetzen können, ist meines Erachtens aber unvermeidlich.
Es ist extrem anstrengend, physisch und mental brutal, auch weil man als Politiker stets in der ersten Reihe steht.“
In derselben Sendung, in der Herr Schockmel Sie frontal attackierte, saß übrigens auch Premierminister Xavier Bettel. Der Premier erachtete es aber nicht als notwendig, Sie gegen die persönliche Kritik des Experten zu verteidigen. Inwiefern hat Sie das auch überrascht?
Ja, das soll schon mal vorkommen. Ich wurde seitdem auch oft darauf angesprochen. Meine Erklärung ist, dass auch der Premier über die Brutalität der Kritik in diesem Moment wohl überrascht war. Ich weiß es nicht … Ich kann nur sagen, dass wir über die ganze Zeit dieser Krise ein gutes Verhältnis haben. Wir arbeiten täglich zusammen und werden uns eigentlich immer schnell einig. Also, wenn ich mit jedem so gut klarkommen würde wie mit dem Premier, dann wäre das Leben definitiv einfacher … (lacht)
Hätten Sie sich in diesem Moment aber nicht mehr Unterstützung von Ihrem Kabinettskollegen erwartet? So standen Sie ganz allein gegen die öffentliche Kritik eines anerkannten Experten da …
Ja, es wäre schön gewesen, wenn er ein Wort dazu gesagt hätte. Aber, nichts für ungut … Wir sind in dieser Pandemie zu sehr durch dick und dünn gegangen, dass so etwas jetzt irgendwelche Auswirkungen hätte. Ich bin auch eher gestresst von der Tatsache, dass ich immer wieder auf solche Dinge angesprochen werde. Es ist aber auch verständlich. Der Druck ist überall spürbar, in der ganzen Gesellschaft. Und dieser Druck entlädt sich auch in der Politik, also in den Parteien, und auch schon mal zwischen den Parteien. Damit muss man umgehen können.

Apropos Premier: Wenn man mit Parteikollegen von Ihnen spricht, dann sind Sie die Hoffnungsträgerin, um die LSAP in die nächsten Wahlen zu führen. Ihr Förderer, Ex-Vizepremier Dan Kersch, sieht sie sogar als Auserwählte, die der LSAP erstmals in der Geschichte den Premierposten bescheren könnte. Ist das nicht etwas viel Erwartungsdruck?
Es ist vor allem viel zu früh, um über solche Fragen zu beraten. Ich habe das schon mal gesagt: Ich muss auch erst mit mir selbst ausmachen, ob ich das als Mensch will. Diese Krise hat etwas mit mir gemacht. Es ist extrem anstrengend, physisch und mental brutal, auch weil man als Politiker stets in der ersten Reihe steht. Mein Ziel ist es jetzt, nicht aufzugeben und diese Krise zu Ende zu bringen. Ich weiß heute noch nicht, in welchem Zustand ich bin, wenn diese Krise einmal bewältigt ist, wenn das denn überhaupt bis zum Ende dieses Mandats wahrscheinlich ist. Ich bin mir, meiner Gesundheit und meiner Familie aber in jedem Fall schuldig, dass ich solche Fragen mit mir erst noch ausmachen muss.
Es gibt wohl keinen Beruf, in dem man von morgens bis abends fröhlich und vergnügt ist.“
Sie hatten in einem Interview mit Reporter.lu vor rund eineinhalb Jahren schon einmal gesagt: „Es gab schon ein, zwei Momente, in denen man sich fragt: Musst du dir das unbedingt antun?“ Gab es seitdem noch weitere solche Momente?
Also … Ja … (lacht) Der Unterschied ist aber, dass ich mir mittlerweile eingestehe, dass solche Momente wohl zum Beruf und der dauerhaften Krisensituation dazugehören. Jeder Beruf hat seine Vor- und Nachteile. Das Politikerdasein hat auch seine guten Seiten, aber ja, solche Augenblicke gibt es immer wieder. Es gibt wohl keinen Beruf, in dem man von morgens bis abends fröhlich und vergnügt ist.
Um Ihnen Ihre eigene Frage nochmals zu stellen: Warum tut man sich das eigentlich an?
Ein großer Vorteil ist, dass man als Politiker etwas gestalten kann. Das klingt vielleicht abgedroschen, aber es ist tatsächlich so. Ich kann das auch deshalb einschätzen, weil ich es mit meinem früheren Job als Richterin vergleichen kann. Ich merke es auch immer wieder, wenn ich mal ein wenig Zeit habe, um an Dossiers zu arbeiten, die keinen direkten Bezug zur Pandemie haben. Sich inhaltlich in ein Thema einzuarbeiten und die Richtung mitzubestimmen, das ist schon eine sehr spannende Aufgabe. Mit der öffentlichen Seite des Jobs tue ich mich vielleicht etwas schwerer.
Dieser Aspekt dürfte jetzt aber nicht unbedingt weniger werden, denn seit wenigen Wochen sind Sie nicht nur Ministerin, sondern Vize-Premierministerin …
Vielleicht wird es mehr, aber ich hoffe, irgendwann auch wieder weniger. Wenn ich mir die Zeit seit dem Beginn der Pandemie vergegenwärtige, glaube ich nicht, dass man noch viel stärker der Öffentlichkeit ausgesetzt sein kann, als ich es ohnehin schon bin.


