Die parlamentarische Debatte über die Impfpflicht ließ viele Fragen offen. Die Umsetzung der Maßnahme stellt die Regierung nun vor einige Herausforderungen. Dazu gehört nicht zuletzt die immer schwerer zu kaschierende Uneinigkeit innerhalb der Koalition.
„Ich finde, die Diskussion über eine Impfpflicht sollte nicht in einer Notsituation geführt werden, in der die Gemüter aufgeheizt sind.“ Der Satz stammt von Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP), ausgesprochen Ende des vergangenen Jahres, und seitdem mehrmals wiederholt. Nicht nur formulierte die Ministerin damit ihre Skepsis gegenüber der Einführung einer obligatorischen Impfung gegen Covid-19. Geht es nach Paulette Lenert, sollte man noch nicht einmal über die Impfpflicht diskutieren – also nicht, solange die Pandemie andauert.
Dennoch taten die Abgeordneten am vergangenen Mittwoch genau das. Die Anregung zur Debatte kam denn auch nicht von Lenert, sondern von Premierminister Xavier Bettel (DP). Dieser ließ zunächst den Sprechern der unterschiedlichen Parteien den Vortritt, um zum Schluss der Debatte die Katze aus dem Sack zu lassen. Die Regierung werde einen Gesetzestext zur Impfpflicht ausarbeiten. Man wolle dabei dem Gutachten der Adhoc-Expertengruppe folgen, das eine verpflichtende Impfung für Über-50-Jährige sowie für Mitarbeitende des Gesundheitssektors empfiehlt.
Wer die Debatte verfolgte, musste am Ende zur Erkenntnis gelangen, dass in Luxemburg bald eine Impfpflicht eingeführt wird. Der Zeitplan wurde in einer mit Regierungsmehrheit angenommenen Motion auf maximal drei Monate festgelegt. Allerdings versah Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng) am Donnerstag im Interview mit „Radio 100,7“ diese Ankündigung mit dem nicht ganz unwesentlichen Zusatz: Wenn es bis dahin Erkenntnisse geben sollte, die besagen würden, dass man doch keine Impfpflicht brauche, „dann umso besser“.
Belastungsprobe für die Koalition
Die Regierung will also eine Impfpflicht einführen. Oder vielleicht doch nicht. Also eventuell. Genau an dieser Stelle würde die Koalition allerdings von jenem Gutachten abweichen, auf das sie sich bei ihrer Entscheidung beruft. Dort heißt es nämlich ausdrücklich: „Instaurer cette obligation vaccinale dans les meilleurs délais (…).“ Ohne Wenn und Aber. Von der Möglichkeit, je nach kommender Pandemielage vielleicht doch keine Impfpflicht einzuführen oder sie nur mit Verzögerung anzuwenden, liest man in dem Gutachten nichts.
Zur Erinnerung: Premierminister Xavier Bettel hatte im Dezember angekündigt, dass er „Mitte Januar“ eine Entscheidung in dieser Frage wolle. Der Regierungschef inszeniert sich dabei als prinzipiengeleiteter Macher, obwohl er sich selbst auch lange gegen eine verpflichtende Regelung ausgesprochen hatte. Wenn es nach der Gesundheitsministerin geht, würde das Land aber noch nicht einmal darüber diskutieren. Und wenn man der Justizministerin Glauben schenken darf, dann ist die Maßnahme eben noch nicht in Stein gemeißelt.
Für die Öffentlichkeit entsteht dabei zwangsläufig der Eindruck einer Regierung, die nicht weiß, was sie will oder die zumindest nicht mit einer Stimme spricht. Im Parlament hatten die Koalitionsparteien denn auch erstmals öffentlich ihre Uneinigkeit in dieser Kernfrage der Pandemiepolitik demonstriert. Während DP und Déi Gréng sich nämlich klar für eine Impfpflicht nach dem Modell des Expertenrats positionierten, sprach sich die LSAP dagegen – oder vielmehr nicht dafür – aus.
Die LSAP befindet sich hier nicht in einer einfachen Situation.“Yves Cruchten, LSAP-Fraktionschef
Der Fraktionschef der Sozialisten, Yves Cruchten, hatte in seiner Rede denn auch sichtlich Mühe, die Position seiner Partei deutlich zu machen. So arbeitete er sich am Für und Wider einer Impfpflicht ab, thematisierte aber auch mit Verweis auf ein Gutachten des Deutschen Bundestags „Nebenwirkungen und Langzeitfolgen von Impfungen“ und warnte davor, dass man das „gesellschaftliche Zusammenleben“ nicht unnötig „schädigen“ solle. Ein klares Bekenntnis zur Regierungsposition einer gesetzlichen Impfpflicht kam ihm nicht über die Lippen.
Die schwammige Argumentation der LSAP überraschte dem Vernehmen nach auch so manche Koalitionspolitiker. Gleichzeitig stand sie durchaus in Kontinuität zur Linie, die Paulette Lenert als frischgebackene Vize-Premierministerin vorgegeben hatte. Ihre Partei schwankte entsprechend zwischen der Koalitionsräson und dem Versuch, ihrer auserkorenen Hoffnungskandidatin für die nächsten Wahlen nicht allzu offensichtlich in den Rücken zu fallen. Am Ende stimmten dennoch alle 31 Abgeordneten von Blau-Rot-Grün für die Motion, die die Regierung zur Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs aufforderte.
Sozialisten auf Selbstfindungskurs
Allerdings wurde die Impfpflicht schon zuvor zur Belastungsprobe der Koalition. Denn während die zögerliche Haltung der LSAP in dieser Frage für die breite Öffentlichkeit am Mittwoch erstmals sichtbar wurde, haben die Koalitionspartner schon einige Erfahrungen damit. Paulette Lenert steht beim Thema Impfpflicht seit Wochen auf der Bremse, ohne jedoch eine entsprechende Einigung auf Regierungsebene blockiert zu haben. Stattdessen waren es Premierminister Xavier Bettel und Justizministerin Sam Tanson, die auf eine Entscheidung drängten.
Auf Nachfrage von Reporter.lu kommt denn auch eine Klarstellung aus dem Staatsministerium, der es aber nur bedurfte, weil nach der Debatte noch Interpretationsspielraum bestand: „Die Regierung wird einen Gesetzentwurf ausarbeiten und diesen schnellstmöglich verabschieden.“ Dabei gehe es natürlich darum, dem Parlament einen Text vorzulegen, der juristisch einwandfrei ist und zügig in Kraft treten kann. Die Betonung liege generell auf „schnellstmöglich“, so das Statement aus dem Ministerium von Premier Xavier Bettel.

Im Nachhinein will sich auch Yves Cruchten nicht missverstanden wissen. Man habe innerhalb der Koalition eine Einigung erzielt, wonach ein Gesetzentwurf ausgearbeitet und dann auch verabschiedet werden soll. „Die LSAP ist bereit, ein solches Projekt mitzutragen“, stellt der Fraktionschef im Gespräch mit Reporter.lu klar. Allerdings gebe es noch einige „offene Fragen“ zu klären, weshalb man sich die nötige Zeit zur Ausarbeitung des Gesetzentwurfs nehmen sollte.
Auf die Position der Gesundheitsministerin angesprochen, sagt Yves Cruchten, dass sich seine Partei die Entscheidung für eine Impfpflicht nicht leicht gemacht habe. Zitat: „Die LSAP befindet sich hier nicht in einer einfachen Situation.“ Die Frage, inwiefern Paulette Lenert hinter dem Projekt einer gesetzlichen Impfpflicht stehe, wo sie doch noch nicht einmal die Diskussion darüber führen wollte, kommentiert der LSAP-Fraktionschef mit den Worten: „Das müssen Sie Frau Lenert selbst fragen.“
Eine zunehmend isolierte Ministerin
Die „nicht einfache“ Situation der LSAP ist allerdings nicht neu. Die Partei tat sich schon länger schwer, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. Während DP und Déi Gréng vor der Debatte im Parlament zu einer politischen Position gelangten, wurde die Frage von den Gremien der Sozialisten zwar diskutiert, aber ohne klare Schlussfolgerung. Auch im Kabinett hatten sich die LSAP-Minister dem Vernehmen nach mehrmals Bedenkzeit erbeten und verzögerten so eine gemeinsame Position der Koalition.
Es gibt kein absolutes Ja und kein absolutes Nein.“Paulette Lenert, Gesundheitsministerin
Während der Debatte vom vergangenen Mittwoch gab denn auch Paulette Lenert zu, dass sie noch nicht alle Gutachten zur Impfpflicht in allen Details gelesen habe. Die Hoffnungsträgerin der LSAP ergriff zwar im Plenum zwei Mal das Wort, erklärte aber mit keinem Satz ihre Position zur Impfpflicht. Stattdessen stellte sie sich als renitente Zweiflerin dar. Es gebe so viele Dinge, die man nicht wisse, die „im Dunkeln“ liegen würden. Es gebe „kein absolutes Ja und kein absolutes Nein“ in dieser Frage.
Ein Fakt lässt sich demnach nicht mehr wegdiskutieren: Eine Gesundheitsministerin, die offenbar aus Prinzip gegen die Impfpflicht ist, soll als Teil der Regierung ebendiese Maßnahme am Ende umsetzen. Es ist eine Situation, aus der es für die Ministerin kaum Auswege gibt, bei denen sie politisch ihr Gesicht wahren könnte.
Das liegt auch daran, dass die öffentliche Kritik an ihrem Krisenmanagement zunimmt. Ungewöhnlich offen kritisierte vergangene Woche der Infektiologe Gérard Schockmel, der einer der Autoren des Expertengutachtens zur Impfpflicht ist, die Politik der Ministerin. Das ganze vergangene Jahr habe Paulette Lenert „die Empfehlungen der Experten zugunsten einer Impfpflicht ignoriert“, so der Mediziner laut „Paperjam“ sowie im Interview mit „RTL“. In der gleichen Sendung äußerte übrigens Xavier Bettel seine Erwartung, dass Paulette Lenert am Ende im Parlament noch „Überzeugungsarbeit“ leisten werde.
Wandel von Strategien und Meinungen
Am schwersten wiegt aber, dass die Gesundheitsministerin ihre Position – zumindest in der Öffentlichkeit – nicht weiter erklärte oder mit Argumenten verteidigte. Denn – und das ist auch eine Erkenntnis der parlamentarischen Debatte vom vergangenen Mittwoch – es gibt durchaus geeignete Argumente gegen die Einführung einer Impfpflicht. Nur wurden diese von der Ministerin bisher nie ansatzweise vorgebracht. Ihre Haltung ist prinzipiell, aber diffus. In ihrer Replik auf die Frontalkritik von Gérard Schockmel deutete die Ministerin allerdings erstmals an, dass sie die Einführung einer Impfpflicht im kommenden Herbst nun doch als „pertinent“ empfinde.
Dabei hilft es Paulette Lenert in der politischen Auseinandersetzung wenig, dass sie im Kabinett diejenige ist, die sich am längsten treu geblieben ist. Seitdem diese Frage in der Öffentlichkeit thematisiert wurde, äußerte sie stets offen ihre Skepsis, und war damit nicht alleine. Auch andere Koalitionspolitiker antworteten auf diese Frage lange sehr zurückhaltend. Bis vor einigen Wochen waren sich noch alle einig, dass die Impfpflicht nur als absolute „ultima ratio“ eingeführt werden sollte.
En effet, la pandémie en tant que menace majeure pour la santé publique prend fin au Luxembourg lorsque le risque de surcharge du système de santé est maîtrisé.“Gutachten des Expertenrats zur Impfpflicht
Mehr noch: In ihrer Impfstrategie vollzog die Regierung über den Zeitraum von weniger als einem Jahr praktisch eine 180-Grad-Wende. Im Januar 2021 etwa sagte Premier Xavier Bettel noch bei einem Pressebriefing, dass die eventuelle Einführung eines Impfzertifikats nicht zu mehr Rechten für Geimpfte führen dürfe. Die Regierung wolle keine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“, „in der die einen mehr Freiheiten haben als andere“. Wenige Monate später war diese Devise schnell wieder vergessen, als die Regierung mit den 3G- bzw. 2G-Regeln den Druck auf Nicht-Geimpfte erhöhte. Nun spricht sich der gleiche Premier dafür aus, dass bestimmte Menschen, die nicht geimpft sind, künftig mit Geldstrafen rechnen müssen.
Es ist freilich nicht das einzige Beispiel dafür, wie Politiker in dieser Pandemie ihre Meinung ins Gegenteil verkehren. Es ist auch kein rein luxemburgisches Phänomen. Die Meinungen und Prinzipien der Politiker entwickeln sich in etwa so schnell wie die epidemiologische Lage. So begründen Liberale und Grüne ihren Meinungswandel in Sachen Impfpflicht vor allem damit, dass die bisherige Strategie nicht die erhofften Wirkungen gebracht habe. Zwar seien bei der Verschärfung der 2G- und 3G-Regeln jeweils positive Effekte auf die Impfbereitschaft registriert worden. Doch die Impfquote, vor allem bei älteren Menschen, reiche immer noch nicht aus, um über eine Abschaffung sämtlicher restriktiver Maßnahmen nachzudenken, so die Überlegung.
Der neue Weg aus der Pandemie
Um zu verstehen, warum zumindest DP und Déi Gréng sich für eine gesetzliche Impfpflicht aussprechen, hilft ein Blick in das Expertengutachten, dessen Empfehlungen Xavier Bettel in einem Anflug von Merkel’schem Politikverständnis als „alternativlos“ bezeichnet hatte. Eine wichtige, und in der Debatte etwas unterschätzte Erkenntnis der Experten lautet jedoch: Auch eine Impfpflicht wird Sars-CoV-2 allein nicht ausrotten.
„Das Virus wird nicht verschwinden“, heißt es im Gutachten des Expertenrats. Eine kollektive Immunität sei nach aktuellem Forschungsstand nur schwer zu erreichen. Das Virus werde irgendwann zwar endemisch, bewirke also nur noch mehr oder weniger folgenreiche Ausbrüche. Bis dahin müsse man jedoch ein anderes Ziel verfolgen, nämlich die dauerhafte Entlastung des Gesundheitssystems.

Genau darum geht es letztlich, und im Grunde seit Beginn dieser Pandemie. Hohe Inzidenzzahlen und eine rasche Ausbreitung des Virus sind an sich nicht das Problem, solange nicht zu viele Menschen gleichzeitig durch eine Infektion ins Krankenhaus müssen bzw. Gefahr laufen, daran zu sterben. „En effet, la pandémie en tant que menace majeure pour la santé publique prend fin au Luxembourg lorsque le risque de surcharge du système de santé est maîtrisé“, heißt es dazu im Gutachten des Expertenrats.
Es ist der Kern der Begründung, warum die Ärzte und Epidemiologen eine Impfpflicht für Über-50-Jährige empfehlen. In den Alterskategorien unter 50 Jahre könne Covid-19 bereits heute als „normale“ Atemwegsinfektion aufgefasst werden. Allerdings können auch diese Menschen die Krankheit weitergeben, weshalb den Experten eine Ausweitung der Impfpflicht auf die Gesundheits- und Pflegeberufe sinnvoll erscheint. Ab dem Moment, wenn diese beiden Bevölkerungsgruppen eine hohe Impfquote aufweisen, werde sich die sanitäre Lage wieder „normalisieren“, so das Fazit des Gutachtens. Nur so könne man die Corona-Maßnahmen irgendwann aufheben. Ein „Ende der Pandemie“ sei demnach gleichbedeutend mit einem Ende der restriktiven Maßnahmen.
Das wahrscheinlichste Szenario
Apropos Fazit: So klar die Sicht der Wissenschaftler in Sachen Impfpflicht ist, so komplex bleibt die Abwägung anderer, etwa rechtlicher, politischer und sozialer Aspekte in der Debatte. Zusätzlich erschwert wird das Unterfangen durch die nicht mehr zu leugnende Uneinigkeit in der Regierung und entsprechende parteipolitische Erwägungen.
Formal ist die Sache allerdings klar: Im Parlament gibt es mit mindestens 42 von 60 Sitzen eine breite, wenn auch noch theoretische Mehrheit für eine Impfpflicht. Neben den Liberalen und den Grünen sprach sich nämlich auch die CSV unmissverständlich für eine solche Maßnahme aus. Zwar will die größte Oppositionspartei eine obligatorische Impfung für alle Erwachsene, sie deutete aber in einer Motion auch eine Annäherung an das von den Mehrheitsparteien bevorzugte Modell an. Im Gegenzug streckte auch der Premier den möglichen konservativen Mehrheitsbeschaffern in der Debatte ausdrücklich die Hand aus.
Unbeachtet dessen lauern auch in der juristischen Ausarbeitung des Gesetzentwurfs einige Herausforderungen. Zum einen haben sich die Parteien noch nicht auf konkrete Prinzipien der geplanten Impfpflicht geeinigt. Die entsprechenden Ausführungen der Justizministerin in der parlamentarischen Debatte hatten eher noch den Charakter eines Brainstormings. Am Ende muss der fertige Text denn auch vom Kabinett abgesegnet werden. Zum anderen können sich die Beamten beim Schreiben des Gesetzes auch nicht, wie bei anderen Grundsatzfragen der Vergangenheit, auf allzu viele Vorbilder im Ausland berufen. Ein Blick nach Deutschland zeigt zudem, dass auch dort in Sachen Impfpflicht die Bereitschaft zur zügigen Realisierung des längst geäußerten politischen Willens schwindet.
Das wahrscheinlichste politische Szenario für die kommenden Wochen lautet: Luxemburgs Regierung wird ein Gesetz zur Einführung der partiellen Impfpflicht im Parlament einbringen, das vor dem Herbst in Kraft treten soll. Xavier Bettel wird als entschlossener Regierungschef auftreten, der sich gegen wesentliche politische Widerstände durchsetzen konnte. Und die LSAP wird halbwegs glaubhaft erklären, warum sie nicht nur über die Impfpflicht diskutiert, sondern sogar dafür stimmt, obwohl sich die durch die Pandemie erhitzten Gemüter noch immer nicht vollends beruhigt haben.