Das Coronavirus stellt die Gesellschaft auf die Probe. Gesundheit und Solidarität sind dabei hohe Ziele, für die viele Bürger einiges zu opfern bereit sind. Doch je länger die Pandemie dauert, desto stärker gerät das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gemeinwohl aus der Balance.
Stellen Sie sich vor, Sie bringen abends um 21.01 Uhr ihren Müll vor die Tür und setzen dabei den Fuß auf die Straße vor Ihrem Haus. Stellen Sie sich vor, Sie naschen im öffentlichen Raum eine mit Alkohol gefüllte Praline. Beides klingt nicht besonders gewagt, ist aber laut Gesetz derzeit in Luxemburg verboten.
Zugegeben: Die Beispiele sind mit Absicht so extrem ausgewählt. Sie sollen jedoch nicht die karikaturhaften Auswüchse der Covid-19-Gesetzgebung beschreiben, sondern ein grundsätzlicheres Problem veranschaulichen: Wie viel Freiheit sind wir zu opfern bereit, um die andauernde Corona-Krise zu bewältigen?
Unbestritten ist, dass sich die Bewältigung der Pandemie wesentlich auf die Freiheit der Bürger auswirkt. Im ersten Lockdown wurden eine Reihe von Grundrechten beschnitten. Auch heute sind in Bezug auf die Bewegungs-, Versammlungs- und Gewerbefreiheit fundamentale Freiheitsrechte eingeschränkt und zwar in einem Maß, das vor knapp einem Jahr noch unvorstellbar gewesen wäre.
Die Begründung für diese Maßnahmen ist ebenso klar wie der Befund des punktuellen Freiheitsentzugs: Um die Sicherheit und Gesundheit der Allgemeinheit zu garantieren, muss jeder Einzelne für eine bestimmte Zeit ein Stück seiner Freiheit aufgeben. Doch je länger der gesellschaftliche Ausnahmezustand anhält, desto stärker wird die Balance aus individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung herausgefordert.
Freiheit und der Schutz der Anderen
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass jede Freiheit ihre Grenzen hat. Freiheit ist immer relativ und sie steht seit jeher im Spannungsverhältnis zu ihrer sozialen Verträglichkeit. Schon der Philosoph John Stuart Mill, ein Begründer des klassischen Liberalismus, schrieb vor über 150 Jahren in seinem Essay „Über die Freiheit“: „Der einzige Zweck, der die Menschen (…) berechtigt, in die Handlungsfreiheit eines der ihren einzugreifen, ist Selbstschutz. Die einzige Absicht, warum Macht rechtmäßig über irgendein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden kann, ist die, eine Schädigung anderer zu verhindern.“
Die Pandemie lehrt, dass die Grenzen von Freiheit, Sicherheit, Solidarität und staatlicher Autorität ständig neu definiert und verhandelt werden müssen.“
Doch nicht nur die Freiheit, auch das Gemeinwohl im Sinn des Vorrangs des öffentlichen Gesundheitsschutzes kann nicht absolut sein. Auch der Staat kann nicht jedes Leben um jeden Preis schützen. Ein Restrisiko gehört immer dazu. Sonst müsste die Regierung etwa sofort die Autobahnen und Landstraßen schließen, um Verkehrsopfer zu vermeiden. Auch die Todesopfer der saisonalen Grippe werden seit jeher in Kauf genommen, ohne dass der Staat die betroffenen Menschen in vergleichbarem Maß schützt wie nun in der Corona-Krise.
Dabei ist das ultimative Argument der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems nicht das einzige Merkmal, das diese Pandemie auszeichnet. Bei der Akzeptanz der aktuellen Maßnahmen spielt auch der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle. Selbst der überzeugteste Anhänger einer effizienten Bewältigung der Krise durch Freiheitsbeschränkungen, nimmt diese wohl nur in Kauf, weil sie zeitlich begrenzt sind.
Dass die Verbreitung des Virus eingedämmt und die Krankenhäuser vor einer Überlastung bewahrt werden müssen, reicht demnach auf Dauer als Begründung auch nicht aus. Die Betonung liegt hier auf „auf Dauer“. Denn was wäre, wenn die Pandemie noch mehrere Jahre andauern würde? Wenn der Impfstoff nicht die Rettung wäre und damit nicht die erhoffte, baldige Krisenbewältigung eintreten würde? Würde eine Situation, die sich über mehrere Jahre hinzieht, die gleichen Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen?
Freiheit und politisches Verständnis
Hinzu kommt die Zielrichtung der Maßnahmen. Nur wenn der Einzelne spürt und nachvollziehen kann, dass die Aufgabe seiner eigenen Freiheit zum Schutz seiner Mitmenschen beiträgt, wird er diese überhaupt akzeptieren. Nur wenn die politischen Maßnahmen von möglichst vielen Menschen als sinnvoll, widerspruchsfrei und verhältnismäßig wahrgenommen werden, haben sie Aussicht auf Erfolg. Doch was heißt schon „verhältnismäßig“ in einer Krise, in der das komplette Herunterfahren des wirtschaftlichen und sozialen Lebens als legitimes Mittel eingeschätzt wird?

Bei der Frage der Einschränkung von Freiheitsrechten besteht demnach die Gefahr einer argumentativen Abnutzungserscheinung. Der Regierung und allen staatlichen Behörden kommt an dieser Stelle ein Großteil der Verantwortung zu. Wenn sie die Einschränkungen der verfassungsmäßig garantierten Freiheiten nicht immer wieder nachvollziehbar begründen können, nehmen sie damit eine abnehmende Akzeptanz der Krisenpolitik in Kauf.
Demnach kann die Kritik an einzelnen Maßnahmen – etwa der Ausgangssperre oder dem Verbot des öffentlichen Alkoholkonsums – selbst in der Logik der Krisenbewältigung zielführend sein. Denn letztlich geht es nicht darum, ob die Regierung immer Recht hat, sondern um eine effiziente Krisenpolitik. Es gilt, eine möglichst langfristig durchzuhaltende Balance zwischen der Eindämmung der Pandemie und der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen „Normalität“ herzustellen. Und zu diesem Normalitätsgefühl gehört in einer offenen Gesellschaft wie der luxemburgischen nun einmal die maximale Autonomie der Bürger.
Freiheit und ihre Extremmeinungen
Wo diese Grenzen der Freiheit und der Autorität des Staates genau verlaufen, ist eine fundamentale Frage, die sich in dieser Pandemie stellt. Bisher scheint die Mehrheit der Bürger mit der neuen Balance zwischen Freiheit und Gemeinwohl einverstanden zu sein. Ganz sicher kann man sich bei dieser Aussage aber nicht sein, denn sie beruht auf einem diffusen Gefühl, bestenfalls auf Umfragen, also letztlich auf Momentaufnahmen. Schwerer wiegt dabei schon die Abwesenheit einer nennenswerten Protestbewegung gegen die Corona-Politik der vergangenen Monate.
Das Primat des Gesundheitsschutzes kann die fundamentalen Freiheitseinschränkungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg präzedenzlos sind, nicht einfach entkräften.“
Sicherlich gibt es auch die Extremmeinungen: Einerseits jene Bürger, die zur Bewältigung der Pandemie jegliche persönlichen Freiheiten opfern würden und dem Urteil ihrer Regierenden blind vertrauen. Andererseits solche, die angesichts der bestehenden Freiheitseinschränkungen bereits meinen, in einer „Diktatur“ zu leben und allein das Tragen einer Atemschutzmaske als Symbol der Unfreiheit anprangern. Die große, schweigende Mehrheit befindet sich aber wohl irgendwo in der Mitte, zwischen beiden Extremen.
Das Primat des Gesundheitsschutzes kann die fundamentalen Freiheitseinschränkungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg präzedenzlos sind, aber nicht einfach entkräften. Sie betreffen die Freizügigkeit und die allgemeine Handlungsfreiheit, die Beschränkung von persönlichen Kontakten sowie die faktische Erschwerung der Versammlungsfreiheit. Das sind keine kleinen Kollateralschäden, sondern sie betreffen letztlich das Wesen eines freiheitlich-demokratisch verfassten Staates.
Freiheit und andere Missverständnisse
Trotz der berechtigten Wachsamkeit gegenüber der Beschneidung dieser persönlichen Freiheiten, bleibt aber auch ein fundamentales Freiheitsrecht intakt: die freie Meinungsäußerung. Jeder, der mit den Maßnahmen der Regierung nicht einverstanden ist, kann das nach wie vor sagen und schreiben, ohne Strafen oder Unterdrückung zu befürchten. Dass man aber überhaupt in Verlegenheit gerät, das betonen zu müssen, verdeutlicht die außergewöhnliche Lage der vergangenen Monate.
Ein kurzer Ausflug in die sozialen Medien genügt, um sich zu vergewissern, dass die Meinungsfreiheit in Luxemburg nicht in Gefahr ist.“
Ist meine persönliche Freiheit wichtiger als die kollektive Gesundheit? Rechtfertigt der Schutz der Risikogruppen einen Lockdown? Man darf zu diesen Fragen unterschiedliche Meinungen haben und diese auch äußern. Mehr noch: Von der völligen Leugnung der vom Coronavirus ausgehenden Gefahr über krude Verschwörungstheorien bis hin zu gequirltem Schwachsinn – all das ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Ein kurzer Ausflug in die sozialen Medien genügt, um sich zu vergewissern, dass die Meinungsfreiheit in Luxemburg nicht in Gefahr ist.
Was jene, die sich wegen der Krisenpolitik in einer „Meinungsdiktatur“ wähnen, aber missverstehen oder bewusst ausblenden: Das Recht auf freie Meinungsäußerung beinhaltet nicht das Recht, dass die eigene Meinung von anderen geteilt wird.
Allerdings hat die „Querdenker“-Bewegung durchaus zu einer Verengung des Meinungskorridors geführt. Auf der einen Seite stehen nun die schrillen Leugner, auf der anderen die uneingeschränkt Gehorsamen. Die Meinungsfreiheit bleibt zwar intakt. Für einen nuancierten Freiheitsdiskurs oder antiautoritär inspirierte Kritik an einer grenzenlosen Krisenpolitik ist so jedoch kaum noch Platz. „Entweder für oder gegen uns“ lautet die Devise der beiden extremen Lager in dieser Pandemie.
Freiheit und politischer Konformismus
In der andauernden Pandemie gibt es aber durchaus ein Defizit an politischer Debatte. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit wurde zumindest in Luxemburg lange nicht allzu kontrovers diskutiert. Seit der Ankündigung eines neuen Lockdowns wurde die Kritik der parlamentarischen Opposition zwar deutlicher. Wirklich abweichende Meinungen vom „Mainstream“ der Pandemiebewältigung spielen im öffentlichen politischen Diskurs allerdings immer noch keine herausragende Rolle.

Das ist an sich aber kein neues, pandemiebedingtes Phänomen. Auch vor dem Aufkommen dieses neuartigen Coronavirus waren viele Grundsatzdebatten im Land von großer Konformität geprägt. Man denke etwa an die Diskussionen über die Beilegung der Finanzkrise oder die Europapolitik. Dass es bei grundsätzlichen politischen Fragen einen großen Konsens gibt, ist aber eben kein ausreichendes Indiz dafür, dass die Meinungsfreiheit in Gefahr wäre.
Sehr wohl ist die politische Debatte aber ein Gradmesser dafür, wie viel einer Gesellschaft an der Verteidigung der Grundrechte ihrer Bürger liegt. Dabei zeigt etwa die geschlossene Ablehnung der Verlängerung der Ausgangssperre durch die parlamentarische Opposition, dass die Akzeptanz der Verbotspolitik in dieser Pandemie nicht grenzenlos ist. Die Praxis der kritisch-konstruktiven Infragestellung von einzelnen gesetzlichen Restriktionen hat ihren Weg aber offenbar noch nicht bis in die Koalitionsparteien gefunden.
Freiheit und Verantwortung gehören zusammen
Dennoch dürfte die Pandemie das Verhältnis zwischen Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung neu justieren. Wenn viele Bürger bereit sind, ihre persönlichen Freiheiten zur Beilegung einer Krisensituation einzuschränken, dann zeugt das sicherlich von Verantwortungsbewusstsein und einer spontanen Fähigkeit zur Solidarität. Allerdings wird damit ebenso die Grenze der Akzeptanz von restriktiven Maßnahmen auch in Nicht-Krisenzeiten verschoben – in welche Richtung muss sich noch zeigen.
Die Pandemie lehrt, dass die Grenzen von Freiheit, Sicherheit, Solidarität und staatlicher Autorität ständig neu definiert und verhandelt werden müssen. Dass der ultimative Schutz der Gemeinschaft nicht von der Pflicht befreit, den Entzug der individuellen Freiheit jedes Mal aufs Neue zu rechtfertigen. Dass die Begrenzung von Freiheit im Zweifel jene stärker trifft, die auch außerhalb einer Pandemie auf Schutz angewiesen sind. Und dass, auch wenn Regierungen gerne den Eindruck der Alternativlosigkeit ihrer Politik erwecken wollen, der Zweck nicht immer und ewig alle Mittel heiligt.
Die Chance dieser Krise besteht letztlich darin, dass einem die Relativität der Freiheit so richtig bewusst wird. Freiheit ist wichtig, ja essenziell, aber eben nicht das einzige schützenswerte Gut in einer Gesellschaft. Es ist jene Erkenntnis, die Premierminister Xavier Bettel kürzlich mit den etwas unglücklichen Worten auszudrücken versuchte, dass er seine Politik „nicht nur als Liberaler, sondern auch als Mensch“ rechtfertigen müsse.
Was der Regierungschef mittlerweile etwas deutlicher ausdrücken könnte: (Individuelle) Freiheit und (gesellschaftliche) Verantwortung müssen sich nicht widersprechen. Vielmehr gibt es einen Mittelweg, der versucht, beide Ziele miteinander zu vereinen. Eine offene Gesellschaft sollte dieses ständige Spannungsverhältnis aushalten und debattieren können. Ihr würde der schwierige Ausgleich zwischen Freiheit und Verantwortung sicher leichter fallen, wenn ihre Entscheidungsträger sich an dieser Debatte substanzieller beteiligen würden.
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