Die Pandemie führt vor Augen, was schon lange bekannt war: Das Schulsystem verhindert wahre Chancengleichheit. Schon vor der Ankündigung des neuen Lockdowns warnten Lehrer vor langfristigen Folgen für ihre Schüler. Das Problem hat viele Facetten und der Reformdruck steigt.

Im Frühjahr tauchten sie plötzlich ab. Einige Schüler der Grund- und Sekundarschule waren nicht mehr erreichbar. „In schwierigen Fällen musste das Centre psycho-social et d’accompagnement scolaire an der Tür des Schülers klingeln“, erinnert sich Raoul Scholtes von der Lehrergewerkschaft Feduse. Manchmal blieb die Tür jedoch verschlossen. Der Kontakt zu diesen Schülern brach ab.

„Es gibt Schüler, für die das Homeschooling eindeutig nicht funktioniert hat“, sagt auch Jean Theis, Vorsitzender des „Collège des directeurs“ im Gespräch mit Reporter.lu. Manche Lehrer berichten von Familien, die den Lockdown im Ausland verbracht haben sollen. Das Ministerium schätzt, dass etwa fünf Prozent der Schüler während des ersten Lockdowns nicht jederzeit erreichbar waren.

„Allerdings kommt es auch im regulären Unterricht vor, dass manche Schüler im Unterricht abschalten“, versucht Lex Folscheid, Kabinettschef im Bildungsministerium, zu beschwichtigen. Im Gegensatz zum Präsenzunterricht können Lehrer die Schüler allerdings nicht zur Mitarbeit anregen, wenn beispielsweise keine Internetverbindung besteht.

Doch das sind nur die extremsten Beispiele der vergangenen Monate. Wie kaum zuvor wurden durch die Schulschließungen die vielen Facetten der Benachteiligung mancher Schüler und damit der Ungerechtigkeit des Luxemburger Bildungswesens deutlich.

Zugang zu Technologie nicht selbstverständlich

„Freitags vor dem Lockdown fühlte es sich an wie in einem Katastrophenfilm“, erinnert sich Raoul Scholtes. Schnell musste überprüft werden, ob die Schüler Zugang zu ihrer persönlichen E-Mail-Adresse haben. Direktoren liefen durch die Klasse, um nachzufragen, ob jeder einen Laptop oder ein iPad zu Hause hat. Wenn nötig, stellte die Schule den Kindern und Jugendlichen das technische Material bereit. Der Vorrat an Geräten reichte allerdings nicht überall aus.

Es kann nicht sein, dass wir eine Schule haben, die eine Elite schafft. Die Pandemie hat vielen Schülern Aufstiegschancen genommen, die sie sonst vielleicht gehabt hätten.“
Alain Massen, nationale Elternvertretung

„Als klassische Sekundarschule hatten wir nur wenige Schüler, die zu Hause nicht das nötige Material besitzen“, sagt Marcel Kramer im Gespräch mit Reporter.lu. Der Direktor des „Lycée classique de Diekirch“ kennt aber auch andere Fälle, die ihm seine Kollegen zugetragen haben. „Im Süden hatten Hunderte Schüler keinen Zugang zu einem Computer“, so Marcel Kramer. Mit der simplen Frage des Zugangs zu einem Computer materialisierte sich gleich zu Beginn des Lockdowns im Frühjahr die Ungleichheit des Schulsystems.

Über die Sommerferien versuchte das Ministerium sich dann für einen zweiten Lockdown zu wappnen. Die Schulen wurden mit neuen iPads und Laptops ausgestattet. „Die technische Ausrüstung macht uns mittlerweile keine Sorgen mehr“, sagt Lex Folscheid. Dennoch offenbarte die Corona-Krise, dass auch in Luxemburg die soziale Lage von Familien die Möglichkeiten zur Teilnahme am digitalen Unterricht beeinflusste. Auch vor der Pandemie konnte sich bei weitem nicht jeder Haushalt die zunehmende Digitalisierung leisten.

Lernrückstände, die kaum aufzuholen sind

Die Verantwortung, auch in einer Krise ungeahnten Ausmaßes den Unterricht zu gewährleisten, liegt laut dem Lehrpersonal letztlich beim Staat. „Wir können nicht darauf bauen, die Verantwortung der Ausbildung an die Familien abzugeben“, sagt Patrick Arendt, der Vorsitzende des „Syndikat Erziehung und Wissenschaft“ des OGBL (SEW). Bereits im März sei offensichtlich gewesen, dass verschiedene Kinder nicht die gleichen Chancen erhalten würden, so der Grundschullehrer.

Aus den unterschiedlichen Ausgangspositionen resultierten schnell wesentliche Lernrückstände. Die Gewerkschaften forderten deshalb, Beamte aus dem Ministerium abzuziehen, um Nachhilfestunden anzubieten. Allerdings mussten diese kurzfristig abgesagt werden: Das Personal wurde für das Krisenmanagement der zweiten Welle benötigt. In der Sekundarstufe zeigt sich vor allem im „enseignement général“ das Ausmaß der Krise. Auch hier berichten mehrere Lehrer von großen Rückständen.

Laptop oder kein Laptop? Die rein materiellen Engpässe hat das Ministerium mittlerweile geregelt. Doch in Luxemburgs Bildungssystem bleiben strukturelle Ungleichheiten bestehen. (Foto: Shutterstock.com)

In den oberen Klassen fand der Unterricht in den letzten Wochen erneut abwechselnd zu Hause und in der Schule statt. Dabei sollen die Lehrer laut dem Ministerium „ein besonderes Augenmerk auf Schüler richten, die Gefahr laufen, sitzenzubleiben.“ Wie sie dies allerdings im Fernunterricht umsetzen sollen, ist unklar. „Letztlich bleibt es an jedem einzelnen Lehrer hängen, eine Lösung zu finden“, sagt Vera Dockendorf vom SEW.

Lex Folscheid entgegnet, dass Schüler mit Schwierigkeiten vom Fernunterricht befreit werden könnten. Allerdings bestehe die Gefahr, dass die Betroffenen durch die Maßnahme stigmatisiert werden, so der hohe Beamte. Das Ministerium will die Schulleitungen dennoch erneut auf diese Möglichkeit hinweisen. Mit dem neuen Lockdown, der mindestens bis zum 10. Januar dauern soll, hat sich diese Alternative aber vorerst erübrigt.

Die Schule als Spiegelbild der Gesellschaft

Der Lernrückstand durch die Pandemie kann kaum wettgemacht werden. Denn die zugrunde liegenden Probleme sind ein konstanter Bestandteil des Bildungswesens. Das luxemburgische Schulsystem reproduziert gewissermaßen die Ungleichheiten, die in der Gesellschaft bestehen. Vor allem Schüler aus einkommensschwachen Familien oder mit Migrationshintergrund drohen oft an den sprachlichen Hürden des Systems zu scheitern.

„Das klassische Schulsystem wurde für luxemburgische Kinder erstellt“, sagt Vicky Reichling. Kinder mit Migrationshintergrund könnten nur selten auf die Unterstützung ihrer Eltern beim Lernen hoffen, denn oft sprächen diese die Unterrichtssprache nicht, so die Sprecherin der Schüler- und Studierendenunion (UNEL).

Gerät eine Familie durch die Krise in finanzielle Schwierigkeiten, macht sich das auch bei den Kindern bemerkbar. Die Belastung steigt und die Schulnoten fallen.“Vicky Reichling, UNEL-Sprecherin

Im Frühjahr hatte dies verheerende Folgen. „Man kann nicht wirklich von ‚Homeschooling‘ reden, es war und ist ein Fernunterricht, der den Lebenssituationen der Eltern nicht gerecht werden kann“, sagt Alain Massen, Vorsitzender der nationalen Elternvertretung. Neben den sprachlichen Anforderungen ist auch der zeitliche Aufwand ein Problem. Nicht alle Eltern haben neben ihrer Arbeit ausreichend Zeit, mit den Kindern den Unterricht durchzugehen. „Es kann nicht sein, dass wir eine Schule haben, die eine Elite schafft. Die Pandemie hat vielen Schülern Aufstiegschancen genommen, die sie sonst vielleicht gehabt hätten“, so Alain Massen.

Das Problem lässt sich auch ganz konkret verdeutlichen. „Im Alter von 15 Jahren haben portugiesischsprachige Kinder einen Rückstand von zwei Schuljahren“, sagt Bob Reuter. „Man sollte nicht naiv sein. Dieser Rückstand kann durch digitale Bildung nicht aus der Welt geschafft werden“, so der Universitätsdozent, der zu digitalen Lehrmethoden forscht. Es ist ein Befund, der auch seit Jahren in der PISA-Studie offenbar wird. Bereits bei acht- und neunjährigen Kindern zeigen sich demnach Unterschiede in den schulischen Leistungen der Schüler mit und ohne Migrationshintergrund.

Benachteiligungen mit vielen Facetten

Die Ungerechtigkeiten sind also bekannt, das Ausmaß ist laut den Lehrenden dennoch neu. Das zeige sich etwa bei Schülern, die vor der Krise gut abschnitten, doch dann plötzlich abstürzten. „Die Benachteiligung hat sich auf weitere Gesellschaftsschichten ausgebreitet“, sagt Vicky Reichling. Während der Pandemie würden bestimmte Berufsgruppen besonders beansprucht. Kinder von Krankenpflegern hätten ihre Eltern etwa weniger gesehen, so die Sprecherin der UNEL. Zudem soll die psychische Belastung vor allem in benachteiligten Familien zugenommen haben. „Gerät eine Familie durch die Krise in finanzielle Schwierigkeiten, macht sich das auch bei den Kindern bemerkbar. Die Belastung steigt und die Schulnoten fallen“, so Vicky Reichling.

Ganz beseitigt kriegen wir die Ungleichheiten wohl nie. Wenn die Krise hinter uns liegt, müssen wir das Problem aber mit einem klaren Kopf angehen.“Jean Theis, „Collège des directeurs“

Doch auch in anderen Bereichen verschärft die Krise bestehende Probleme. Im Ausland zeigten mehrere Studien, dass Kinder aus einem sozial benachteiligten Haushalt während des Lockdowns wenig Sport betrieben haben. Gleichzeitig berichten Experten, dass die motorischen Fähigkeiten der Schüler ohnehin seit Jahren abnehmen. Im Interview mit dem „Tageblatt“ berichtete der Vorsitzende der Sportlehrervereinigung, Claude Schumacher, dass selbst das Rückwärtslaufen verschiedenen 13-jährigen Schwierigkeiten bereiten würde.

Für Luxemburg gibt es allerdings keine entsprechenden Studien oder Statistiken. Im Frühjahr erstellte das Ministerium die Webseite „kannerdoheem.lu„. Die Seite schlägt mehrere Spiele vor, die die Kinder zu mehr Bewegung anregen sollen. „Wir machen uns aber keine Illusionen, dass wir damit große Massen erreicht haben“, sagt Lex Folscheid. Auch deshalb soll der Schulsport weiterhin stattfinden – wenn auch unter strengen sanitären Auflagen.

Vertane Chance für einen Paradigmenwechsel

Obwohl die Krise bestehende Probleme in fast allen Schulbereichen verschärft hat, rücken grundlegende Fragen nicht nur in der Politik zunehmend in den Hintergrund. Für Grundsatzdebatten ist während der Krise kaum Zeit. „Ganz beseitigt kriegen wir die Ungleichheiten wohl nie. Wenn die Krise hinter uns liegt, müssen wir das Problem aber mit einem klaren Kopf angehen“, fordert der Vorsitzende des „Collège des directeurs“, Jean Theis.

Dabei liegen die Diskussionsansätze seit geraumer Zeit auf dem Tisch. Der Anteil von Nicht-Luxemburgern im „enseignement classique“ liegt seit jeher unter 20 Prozent. Dabei lässt sich nicht behaupten, dass die Politik untätig wäre. Sowohl durch die Grundschul- als auch die Sekundarschulreform sollte mehr Chancengleichheit geschaffen werden. Auch das Konzept der öffentlichen europäischen bzw. internationalen Schulen zielt auf die Lösung dieses strukturellen Problems ab. Ob das System sich bewährt, muss sich noch zeigen.

Viele politische Ansätze hatten zum Ziel, die strukturellen Ungleichheiten im Bildungssystem aufzulösen. Doch bisher scheiterte der große Wurf einer Reform. (Foto: Christian Peckels)

Bereits mehrmals boten sich Gelegenheiten für eine Reform, die allerdings stets scheiterten. Als 1979 das damalige „enseignement technique“ gegründet wurde, drehte sich die Debatte um die Einführung eines „tronc commun“. Die Idee: Schüler sollten erst in den oberen Klassen aufgeteilt werden. Bis zur 4ème sollten die Schüler eine Klassengemeinschaft bilden und nur für verschiedene Förderkurse aufgeteilt werden. Der Plan setzte sich nicht durch.

Mehr als 30 Jahre später schlug die ehemalige Bildungsministerin Mady Delvaux (LSAP) eine Zwischenlösung vor. Unter anderem sollten in der Sekundarstufe die siebte und die achte Klasse in einen „Cycle“ zusammengeführt werden, um insbesondere den Übergang zwischen Grund- und Sekundarschule fließender zu gestalten. Auch dieser Vorschlag scheiterte am Druck der Lehrergewerkschaften.

Seitdem steht die Grundausrichtung des Bildungswesens nicht mehr zur Diskussion. Obwohl die Gewerkschaften das Bildungsministerium ständig zum Dialog auffordern, haben die wenigsten eigene Vorschläge für eine Reform ausgearbeitet. Im Gegenteil: Vor zwei Jahren forderte Patrick Remakel „Ruhe in der Schule.“ Es reiche mit den Reformen, so der Vorsitzende der Grundschullehrer-Gewerkschaft SNE/CGFP. Die UNEL-Sprecherin Vicky Reichling sieht das anders. „Eigentlich stellt sich die Frage nicht, ob eine Reform nötig ist. Die Frage ist nur, wann sie endlich kommt.“


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