Unter Politikern gilt es als Kamikaze-Ministerium. Claude Meisch versucht die entgegengesetzten Interessen und starken Lobbys in der Bildungspolitik taktisch zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen. Sein Politikstil wird oft als autoritär bezeichnet, doch das ist nur die halbe Wahrheit.
„So viel Zeit und Energie geht verloren, nur um zu zeigen, wer das Sagen hat“, kritisiert Raoul Scholtes im Gespräch mit Reporter.lu. Der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Feduse ist sichtlich aufgebracht über das aktuelle Verhältnis der Gewerkschaften mit dem Bildungsminister. Die Situation ist angespannt und dies nicht erst seit der Covid-19-Krise. Der politische Stil des Ministers stößt bei vielen auf Unverständnis. Claude Meisch treffe Entscheidungen zunehmend im Alleingang ohne Absprache mit den Betroffenen, so die Kritik. Selbst im Ministerium soll eine klare Hierarchie vorgegeben sein, die Macht liegt zunehmend in den Händen von wenigen, dem Minister loyalen Spitzenbeamten.
Auf den ersten Blick wirkt es paradox: Ausgerechnet der Minister, der die Autonomie der Schulleitungen aktiv fördert, bestimmt wie kaum ein Minister zuvor die Bildungspolitik mit eiserner Hand. Tatsächlich können die Zugeständnisse an die Schulleitungen für das Ministerium vorteilhaft sein. Diese fordern schon länger mehr Gestaltungsraum – und geben dem Ministerium somit die Möglichkeit, die Verantwortung bei Bedarf auf sie abzuwälzen.
Die Direktionen selbst sehen dieses Risiko allerdings nicht. „Das Ministerium hat uns zugesichert, die Direktionen bei ihren jeweiligen Entscheidungen zu unterstützen“, sagt Jean Theis, Direktor des Lycée Hubert Clement in Esch/Alzette. Im Gespräch mit Reporter.lu erklärt der Vorsitzende des „Collège des Directeurs“, dass die Sekundarschulen die zugestandenen Freiräume begrüßten und sich noch mehr Autonomie wünschten. Allerdings ist dies nicht erst seit dem Amtsantritt von Claude Meisch der Fall.
Das zweischneidige Schwert der Autonomie
Im Rückblick wird klar, dass das Verhältnis zwischen Autonomie und Verantwortung der Schulen durchaus komplex ist. Mit der Reform der Berufsausbildung im Jahr 1990 schuf das Ministerium gleichzeitig die „projets d’établissements“. In der Sekundarstufe konnten Schulen fortan neue pädagogische Projekte ins Leben rufen. Es war der erste Schritt in Richtung mehr Autonomie, weitere Gesetze folgten. Seit dem Schuljahr 2004/2005 können Schulen bis zu drei Stunden pro Woche nach Belieben gestalten.
Vor vier Jahren verabschiedete das Parlament einen weiteren Meilenstein: Grund- und Sekundarschulen sollen alle drei Jahre einen sogenannten „Plan de Développement de l’Etablissement Scolaire“ erstellen. Das Gesetz erlaubt es den Schulen, eigene Projekte umzusetzen, um die Qualität ihres Angebots zu verbessern. Allerdings laufen diese Pläne dieses Jahr aus. Bis zum Sommer sollen die Direktionen neue Vorschläge einreichen. Angesichts der aktuellen Krise fürchtet Jean Theis, dass die Zeit, um sich ausreichend Gedanken über ein neues Konzept zu machen, knapp werden könnte.
Ich würde sagen, es ist ein Erfolgsmodell, wie wir bis jetzt mit den Schulen durch die Krise gekommen sind.“
Lex Folscheid, Kabinettschef des Bildungsministers
Dieser planerische Engpass ist dabei nur eine Kehrseite der Autonomie. Dazu gehört auch: Die Schulen müssen liefern, egal unter welchen Umständen. Gerade während der Pandemie wurde die Verantwortung zunehmend vom Ministerium an die Direktionen weitergereicht. Laut Lex Folscheid war dies allerdings ein Anliegen der Direktionen selbst. „Direktoren aus Lyzeen im Norden des Landes wollten etwa keine nationale Maskenpflicht, da das Virus dort kaum zirkulierte“, so der Kabinettschef des Bildungsministers im Gespräch mit Reporter.lu.
Das Lycée Classique de Diekirch hatte bereits vor den Sommerferien eine Maskenpflicht eingeführt, die auch heute noch gilt. Für andere Lyzeen wäre dies Mitte September schwieriger zu begründen gewesen, befürchtet der Direktor Marcel Kramer. „Ich hätte mir für den Schulbeginn eigentlich eine landesweite Maskenpflicht erwartet“, sagt der Direktor im Gespräch mit Reporter.lu und widerspricht damit der Darstellung des Ministeriums. Allerdings seien eben nicht alle Schulen gleich. Er sei deshalb vom Ansatz grundsätzlich überzeugt, den Schulleitungen auch in der Pandemiebewältigung gewisse Freiheiten zu überlassen, so Marcel Kramer.
Betroffene bleiben immer öfter außen vor
Unbestritten ist: Den Direktoren kam in der Krise eine hohe Verantwortung zu. Entsprechend stark war die Kooperation mit dem Ministerium. Noch nie wurde sich in einem vergleichbaren Maße mit den Verantwortlichen ausgetauscht, berichten die Direktoren. „Für uns ist das ein positiver Nebeneffekt der Krise“, sagt Jean Theis. „Ich würde sagen, es ist ein Erfolgsmodell, wie wir bis jetzt mit den Schulen durch die Krise gekommen sind“, meint Lex Folscheid. Dennoch berichten die Direktoren von Unstimmigkeiten mit dem Ministerium.
„Es ist schwer zu erklären, warum das Ministerium nicht mit uns über die Öffnung der Direktionsposten für den Privatsektor geredet hat“, sagt Jean Theis. Doch das Ministerium habe seinen Fehler nun eingesehen und sich mehr Zeit für den Dialog gelassen, so der Direktor des Lycée Hubert Clement. Allerdings sei es nicht das erste Mal, dass das Ministerium sich nicht mit den Betroffenen absprach. Man sei „öfters mal verwundert“ über Gesetzestexte, die kurz vor der Abstimmung im Parlament stehen, sagt der Vorsitzende der Direktoren.

„Verwundert“ waren allerdings nicht nur die Schulleitungen. Tatsächlich wurden die üblichen Akteure des Bildungssektors nicht in die Arbeiten des Gesetzentwurfes eingebunden. Das Ministerium spricht von einer „Fehleinschätzung“, man habe die Relevanz der Reform für andere Direktoren und Lehrer unterschätzt.
Für die Gewerkschaften ist es hingegen das Endstadium einer längeren Entwicklung. „Es war wieder ein Versuchsballon, um zu sehen, ob man ohne Gegenwehr durchkommt. Nur dieses Mal funktionierte es nicht“, sagt Raoul Scholtes. „Die Gesprächskultur mit dem Minister ist eine andere als mit seiner Vorgängerin“, so der Lehrer für Biologie und Naturwissenschaften. Laut dem Vorsitzenden der Feduse bemühte sich Meischs Amtsvorgängerin Mady Delvaux (LSAP) redlich, Projekte mit allen Partnern gemeinsam auszuarbeiten. Der heutige Minister würde den Dialog hingegen erst suchen, wenn es für wirkliche Anpassungen bereits zu spät sei.
Vom Bottom-Up zum Top-Down-Prinzip
Der Bildungsminister lernte allerdings auch aus den Fehlern seiner Vorgängerin. Die LSAP-Ministerin versuchte 2011 den großen Wurf in der Bildungspolitik. Die Sekundarstufe sollte komplett reformiert werden. Der Entwurf stieß jedoch auf Widerstand bei Lehrern und bei Schülern. „Der Umfang des Gesetzes führte dazu, dass sich alle Vertreter aus unterschiedlichen Gründen gegen das Gesetz stellten“, erinnert sich Raoul Scholtes. Trotz langwieriger Diskussionsrunden und Anpassungen am ursprünglichen Konzept gelang es Mady Delvaux nicht, das Projekt umzusetzen. Bis heute gilt das Scheitern von Mady Delvaux als warnendes Beispiel, das die Politik von Claude Meisch von Beginn an prägte.
Anstatt ein größeres Reformprojekt zu verabschieden, hat das Bildungsministerium seit 2013 mehrere kleine Gesetzestexte ausgearbeitet. Die punktuellen Änderungen konnten meist ohne größeren Aufschrei verabschiedet werden. Gleichzeitig befeuerte der Minister die traditionelle Zerstrittenheit zwischen den Gewerkschaften. Das Ministerium erlaubte etwa den Vertretern im „Conseil Supérieur de l’Éducation Nationale“ abweichende Stellungnahmen auszuarbeiten.
Wie viel Einfluss hat das Bildungsministerium?
Mehr Autonomie soll ein vielfältigeres Bildungsangebot schaffen. Dennoch sind weder die Schulen noch das Ministerium gänzlich frei von äußeren Zwängen. Die Schulen können mehrere Unterrichtsstunden frei gestalten und somit neue Kurse anbieten. Zudem können sie sich vom Ministerium Pilotprojekte genehmigen lassen. Das Ministerium schreibt den Schulen hingegen weiterhin verschiedene Fächerkombinationen für die Oberstufe vor.
Seit der Einführung des „plan de développement de l’établissement scolaire“ wurden die Befugnisse des „Conseil de l’Education“ ausgeweitet. Das aus der Direktion, Lehrern und Schülern bestehende Gremium soll über die neuen Entwicklungspläne, aber auch über Budgets und Unterrichtsstunden beraten. Sollte es zu Konflikten kommen, behält der Direktor das letzte Wort. In anderen Fragen bleibt der Einfluss des Ministeriums nach wie vor groß. Schulprogramme werden unter der Leitung und in Zusammenarbeit mit den Lehrern ausgearbeitet. Das Ministerium ernennt die Direktion der Schulen und legt Aufgabenbereich und Arbeitszeit des Personals fest.
Das Ministerium nutzte die Uneinigkeit der anderen Akteure taktisch aus, um die eigene Position durchzusetzen, fasst Raoul Scholtes den Ansatz zusammen. Seit April letzten Jahres wurde das höchste Beratungsgremium zudem nicht mehr einberufen. Das Ministerium weist auf Probleme beim Nominierungsprozess hin und will nach der Krise eine Reform des „Conseil Supérieur de l’Éducation Nationale“ ausarbeiten. Im einzigen Gremium, in dem alle Akteure des Sektors vertreten sind, herrscht bis dahin Stille.
Doch diese Strategie hat durchaus System. In der Corona-Krise lud das Ministerium die Gewerkschaften ein, um über die Wiederöffnung der Schulen im Mai zu beraten. Während eine Gewerkschaft die Grundschule gar nicht mehr öffnen wollte, sprachen sich die anderen für eine Öffnung aus oder wollten die Entscheidung den Eltern überlassen.
Unterschiedliche Meinungen sind für Claude Meisch jedoch in der Regel kein Grund, die eigene vorgefasste Meinung zu ändern. So lautet zumindest der Vorwurf von einigen Akteuren, die mit dem Minister regelmäßig zu tun hatten. In gewisser Weise pflegt Meisch aber auch selbst sein autoritär angehauchtes Macher-Image. „Jemand muss am Ende die Entscheidung treffen. Wenn wir in einer solchen Notlage darauf warten würden, dass alle sich einig sind, machen wir gar nichts mehr“, sagte der Minister im Interview mit Reporter.lu im August.
Bildungspolitischer Dialog in der Kritik
Als am 25. September Claude Meisch mit Paulette Lenert vor die Presse trat, um weitere Erklärungen bezüglich der partiellen Quarantäne zu geben, tauschten die Gewerkschaften sich per Videokonferenz mit Beamten des Bildungsministeriums aus. „Gleichzeitig informierte man uns über die neuen Regeln, die unseren Berufsalltag betreffen“, sagt Vera Dockendorf vom Syndikat Erziehung und Wissenschaft des OGBL (SEW) im Gespräch mit Reporter.lu. Zeit für die Ausarbeitung von Empfehlungen oder Gegenvorschlägen blieb den Lehrergewerkschaften also nicht.
Laut dem Ministerium handelt es sich hier allerdings um ein Missverständnis. Die partielle Quarantäne sei „uns auf den Kopf gefallen“, sagt Lex Folscheid. Beamte aus dem Gesundheitsministerium sollen für die missverständliche Regel verantwortlich gewesen sein, deshalb wollte man den Fehler schnell beheben. Ob Missverständnis oder nicht: Auch in diesem Punkt fühlen die Gewerkschaften sich übergangen.

Aus einem „Konsultieren“ werde oft genug ein reines Informieren, und selbst das finde nicht immer statt, wie die Gewerkschaften kritisieren. Das SEW etwa sucht seit Monaten den Dialog mit dem Minister. Im Sommer wollten sie gemeinsam einen Plan für den Schulbeginn ausarbeiten, stießen allerdings auf taube Ohren. Erst kürzlich meldeten sich auch alle Gewerkschaften des erziehungs- und psycho-sozialen Personals zu Wort. Auch sie kritisierten die fehlende Dialogbereitschaft des Ministers und stellten die rhetorische Frage: „Mécht den Educatiounsminister de Geck mat eis?“
Selten ist das Unverständnis bei allen Betroffenen so stark spürbar. Selbst Akteure, die sonst eher auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Ministerium zurückblicken, zeigen sich zunehmend enttäuscht. „Zwar hat das Ministerium für unsere Anliegen ein offenes Ohr, das bedeutet jedoch nicht, dass das Besprochene dann auch umgesetzt wird“, sagt Kimon Leners im Gespräch mit Reporter.lu. Der Vorsitzende der nationalen Schülerkonferenz (CNEL) berichtet von einer konstruktiven Zusammenarbeit vor der Krise. Damals tauschten die Schülervertreter sich einmal pro Trimester mit dem Bildungsminister aus. Heute würden die Vorschläge allerdings kaum noch berücksichtigt, so Kimon Leners.
Ministerium weist Verantwortung von sich
Der Schülervertreter zeigt wenig Verständnis für das Vorgehen des Ministers. Mehrmals habe die CNEL das Bildungsministerium auf die Ansteckungsgefahr im Schulbus aufmerksam gemacht. Immer wieder verwies Claude Meisch auf das Verkehrsministerium. Die Schüler hofften, dass der für sie zuständige Minister dies mit seinem Kabinettskollegen François Bausch (Déi Gréng) klären würde. Allerdings mussten mehrere Monate vergehen, bis eine Lösung gefunden wurde.
Jemand muss am Ende die Entscheidung treffen. Wenn wir in einer solchen Notlage darauf warten würden, dass alle sich einig sind, machen wir gar nichts mehr.“
Bildungsminister Claude Meisch
Auch die Kooperation zwischen dem Bildungs- und dem Gesundheitsministerium erweist sich als schwierig. Die Schulleitungen forderten, ein Paket von Standard-Testeinladungen zu erhalten, um diese gleich an die Kontaktpersonen eines positiv getesteten Schülers oder Lehrers weiterzureichen. Der Vorschlag scheiterte allerdings an Bedenken des Gesundheitsministeriums, erinnert sich der Direktor des Lycée Classique de Diekirch, Marcel Kramer.
Im Gespräch mit Reporter.lu verweist Lex Folscheid mehrmals auf die Kompetenzen der „Santé“. Beim öffentlichen Transport sei man an materielle und personelle Grenzen gestoßen, so der Erste Regierungsrat. In anderen Bereichen war das Ministerium auch schlicht mit der neuen Situation überfordert. Oder wie es Lex Folscheid formuliert: „Wir sind Experten der Bildung und Pädagogik und nicht von Entlüftungsanlagen.“
Vertrauensverlust und neue Kooperationen
Das gegenseitige Ballzuspielen findet allerdings auch innerhalb des Ministeriums statt. Die Lehrergewerkschaften haben in den unterschiedlichen Abteilungen des Bildungsministeriums ihre direkten Gesprächspartner verloren. Diese müssten nun alle Entscheidungen von ihren Vorgesetzten absegnen lassen. „Ich habe keinen Befehl gegeben, dass alle Kontakte mit Gewerkschaften über mich laufen sollen“, erklärt hingegen Lex Folscheid. Das Ministerium habe zudem während der Krise den jeweiligen Abteilungen mehr Verantwortung übertragen. Er könne allerdings nicht bewerten, inwiefern sich die Kooperation verändert habe, da er erst unter Claude Meisch in das Bildungsministerium gewechselt sei, so der frühere DP-Fraktionsmitarbeiter.
Auf die Frage, warum das Ministerium sich nur unzureichend mit den Gewerkschaften über neue Texte austauscht, erklärt Lex Folscheid: „Wir haben in dieser Legislaturperiode keine größeren Projekte auf den Instanzenweg gebracht.“ Zuvor habe man allerdings die größeren Reformen mit den Gewerkschaften diskutiert und ausgehandelt, so der Kabinettschef.
Dabei wollen die Vertreter der Lehrerschaften auch unabhängig von anstehenden Reformen über die Grundausrichtung des Bildungssystems diskutieren. Trotz aller Ernüchterung bemühen sich die Gewerkschaften weiter, den Dialog mit den politisch Verantwortlichen aufrechtzuerhalten. Einige Vertreter berichten allerdings von Schwierigkeiten, überhaupt ein Treffen mit dem Minister zu erhalten. Mehrmals wurden Gesprächstermine abgesagt. „Kommt es einmal vor, ist es Zufall. Beim zweiten Mal ist es Absicht“, sagt Raoul Scholtes.
Sie haben allerdings auch aus dem Politikstil und den taktischen Manövern des Claude Meisch gelernt. Die Vertreter der Interessen der Lehrenden wollen ihre Differenzen überwinden und stärker zusammenarbeiten. Bereits im Mai forderten alle Lehrergewerkschaften gemeinsam mit der Schülerkonferenz und der Studentenunion UNEL Anpassungen am Hygienekonzept in den Schulen. Nun wolle man diese pragmatische Kooperation weiterführen. Weitere gemeinsame Stellungnahmen seien bereits in Ausarbeitung, heißt es. Abzuwarten bleibt dabei nicht nur, wie lange ein solcher, aus der Not geborener Konsens anhält, sondern auch, wie das System Meisch darauf reagieren wird.
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