Die Mehrsprachigkeit gilt als Vorteil des Luxemburger Bildungssystems, aber gleichzeitig als große Hürde für viele Schüler. Die Politik setzt deswegen verstärkt auf Internationalisierung. Die Zufriedenheit mit den neuen Schulen ist groß, doch Beweise für die Wirksamkeit des Systems fehlen noch.
„Unterschiedliche Schulen für unterschiedliche Kinder“, lautet das Motto von Bildungsminister Claude Meisch (DP). Was wie eine Floskel aus dem Wahlkampf klingt, beschreibt zumindest in einer Hinsicht eine kleine Revolution der luxemburgischen Schullandschaft: der Weg zu immer mehr öffentlichen Schulen mit internationaler Ausrichtung.
Bereits mehr als 14 Prozent aller Schüler werden heute nicht im klassischen Bildungssystem unterrichtet – Tendenz steigend. Immer mehr Eltern greifen für ihre Kinder auf das Angebot von internationalen Klassen oder Schulen zurück. Das Ministerium erhofft sich dadurch letztlich die Lösung eines der grundlegenden Probleme des Schulsystems, nämlich, dass die Erfolgschancen von Schülern durch die besondere Sprachensituation an Luxemburgs Schulen determiniert wird. Mit gerade Mal 24 Prozent sind Kinder mit Migrationshintergrund im klassischen Sekundarschulunterricht („Classique“) weiterhin stark unterrepräsentiert.
Die Regierung verpflichtet sich deshalb im Koalitionsprogramm, die Chancengleichheit wieder herzustellen. Die Strategie: Die Autonomie der Schulen soll ein größeres Angebot von unterschiedlichen Programmen schaffen und öffentliche internationale Schulen sollen eine mehrsprachige Einschulung ermöglichen.
Die Abkehr von Deutsch als Alphabetisierungssprache hat man bereits in Differdingen, Esch, Junglinster, Mondorf, Clerf und demnächst auch Mersch gewagt. Die neuen Schulen orientieren sich am Modell der Europäischen Schule – mit dem Unterschied, dass sie vom Staat finanziert werden und sich an alle richten. Zusätzlich bieten auch das Athenée, das Lycée Technique du Centre und das Lycée Michel Lucius neue internationale Programme an. Das Angebot vergrößert sich jährlich.
Eine Schule für alle Schüler?
„Wir wollen eine Lösung für alle Schüler anbieten“, sagt Gérard Zens im Gespräch mit REPORTER. Seit 2016 leitet er die „École internationale“ in Differdingen und Esch. Es ist die erste von mittlerweile vier öffentlichen europäischen Schulen des Landes. Im Gegensatz zur klassischen Schule, können die Eltern auswählen, ob die Kinder auf Deutsch, Französisch, Englisch oder Portugiesisch alphabetisiert werden. „Auch die öffentlichen Schulen müssen ein breit gefächertes Angebot anbieten können“, meint der Direktor.
Im Gespräch mit REPORTER äußern sich mehrere Lehrer positiv über das neue europäische Angebot. Vor allem die größere Auswahl an Fächern und die höhere Flexibilität in der Förderung von gängigen Sprachen werden durchgehend gelobt. Das Konzept erlaube, aus der Rigidität des luxemburgischen Systems auszubrechen, so das fast einhellig geteilte Fazit.
Das Angebot könnte auch als Fluchtmöglichkeit verstanden werden.“Vera Dockendorf, SEW-OGBL
Durch die Alphabetisierung auf Deutsch haben vor allem Kinder mit Migrationshintergrund Schwierigkeiten im luxemburgischen Schulsystem. Deshalb sollten die neuen Kurse eigentlich vor allem für Nicht-Luxemburger eine neue Möglichkeit bieten, in einer Sprache ihrer Wahl eingeschult zu werden. Jedoch wollte das Ministerium auch verhindern, dass die Schulen abgeschottet von der luxemburgischen Gesellschaft funktionieren. Wie sich herausstellt, eine unbegründete Sorge. Die meisten Schüler der europäischen Grundschulen sind Franzosen, der zweitgrößte Anteil ist luxemburgischer Herkunft. Zudem müssen die Kinder bis zur 5ème einen Luxemburgisch-Kurs besuchen.
Zunehmende Attraktivität, anhaltende Skepsis
Auch in der Sekundarstufe scheint das System zunehmend an Attraktivität zu gewinnen. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage erklärte Claude Meisch (DP) 2018, dass fast ein Viertel der Schüler der Sekundarstufe von internationalen Klassen, die luxemburgische Nationalität besitzt. Die Luxemburger Schüler stellten damit weiterhin den größten Anteil dar. Dabei sind es allerdings nicht unbedingt Schüler mit Schwierigkeiten, die auf das Angebot zurückgreifen. Die Förderung des Englischen wird in vielen Fällen für die Kinder als Chance begriffen.
„Allerdings könnte das Angebot auch als Fluchtmöglichkeit verstanden werden“, warnt Vera Dockendorf im Gespräch mit REPORTER. Schüler, die zum Beispiel Schwierigkeiten im Französischunterricht hätten, könnten auf das englischsprachige Angebot zurückgreifen, um den hohen Anforderungen auszuweichen, fürchtet das Mitglied des Vorstandes der Sekundarschulsektion des SEW-OGBL.
Tatsächlich sind die Lernziele in den Fremdsprachen von den jeweiligen Systemen abhängig. Während bei den Europaschulen und dem „International Baccalaureate“ die Mehrsprachigkeit weiterhin im Mittelpunkt steht, müssen die Schüler im „A-Level“-System nicht zwingend ein hohes Niveau in allen Fremdsprachen erreichen.
Englischsprachiges System steht in Kritik
Für Schüler des sogenannten A-Level-Systems könnte das längerfristig allerdings zum Problem werden. Das System ist mit einem Abschluss von einem britischen Gymnasium vergleichbar und soll demnach vor allem auf Universitäten auf der Insel vorbereiten. Durch den Brexit werden die Studiengebühren für EU-Bürger allerdings steigen, was die Universitätswahl für manche Abgänger eingrenzen könnte, fürchtet ein Teil der Lehrerschaft. „Auch außerhalb von Großbritannien setzen Universitäten vermehrt auf englischsprachige Kurse“, entgegnet Pascale Petry im Gespräch mit REPORTER. Laut der Direktorin des Michel Lucius studieren die Absolventen vermehrt in den Niederlanden oder den Skandinavischen Ländern.
Internationale Schulsysteme
Öffentliche Europaschule: Seit 2016 bietet der Staat in mehreren Lyzeen Kurse an, die dem Modell der Europaschule folgen. Die neuen Schulen sind kostenlos und haben im Gegensatz zur bestehenden Europaschule keine Zugangsbeschränkungen. Das Schulprogramm wird auf europäischer Ebene festgelegt, wo Luxemburg durch zwei Inspektoren vertreten wird.
International Baccalaureate: Der internationale Abschluss wird seit 1994 in der privaten International School of Luxembourg angeboten. Vor zwölf Jahren erhielten das Athenée du Luxembourg und das Lycée Technique du Centre die Erlaubnis ein englisch- und ein französischsprachiges Diplom anzubieten. Das Programm wird von einer Schweizer Stiftung festgelegt.
A-Level: Seit bereits neun Jahren bietet das Lycée Michel Lucius einen englischsprachigen Abschluss an. Das Programm ist vergleichbar mit einem englischen Abschluss und stützt sich auf Schulprogramme von „Cambridge Assessment“ und dem Unternehmen „Pearson“.
Sorge bereiten Vera Dockendorf jedoch vor allem jene Schüler, die nach einem Wechsel in das internationale System den Anforderungen nicht gerecht werden. „Der Weg zurück in das Luxemburgische System wird dann allerdings beschwerlich, da man den Rückstand im Deutsch und Französisch Kurs aufholen müsste“, so die Pädagogin. Zudem besteht für Schüler kaum ein internationales Angebot bei der Berufsausbildung. Zurzeit bietet lediglich das Lycée Technique Privé Emil Metz, drei englischsprachige Ausbildungen an.
Das Ministerium ist sich allerdings des Problems bewusst. Bereits für das nächste Schuljahr sollen 38 weitere Kurse der Berufsausbildung in einer der beiden Sprachen abgehalten werden.
Privater Anbieter für öffentliche Schule
Allerdings ist es nicht der einzige Punkt, der die Lehrergewerkschaft am englischsprachigen System stört. „Das Ministerium kauft die Programme bei kommerziellen Anbietern ein, anstatt selbst Alternativen anzubieten“, sagt Vera Dockendorf. Die Gewerkschaft fürchtet sich vor einer zunehmenden Privatisierung des Schulsystems. Durch das Zurückgreifen auf den Anbieter „Pearson“ müssen die Schüler auch dessen Schulbücher kaufen, somit werde die Bildung zu einem lukrativen Geschäft, sagt die Deutsch-Lehrerin. Petry verneint das, die Schule sei nicht an die Bücher des Unternehmens gebunden.
Ich bezweifele ob wir es selbst so gut hingekriegt hätten“Pascale Petry, Direktorin des Lycée Michel Lucius
Auf Nachfrage entgegnet das Ministerium, man wolle international anerkannte Angebote nutzen, die sich bereits bewährt haben. „Schüler, die während ihrer schulischen Laufbahn ins Ausland ziehen sollten, könnten so ihre Ausbildung fortsetzen, so das Ministerium. „Ich bezweifele, ob wir es selbst so gut hingekriegt hätten“, sagt Pascale Petry. Für die Direktorin des Michel Lucius stand außer Frage, ein eigenes Programm zu entwickeln. Die englischen Schulprogramme würden den neuesten Entwicklungen der Forschung folgen und seien somit qualitativ hochwertig, so die Direktorin.
Neues Konzept mit unklaren Erfolgschancen
Ob die neuen europäischen Schulen und internationalen Klassen allerdings ihr Versprechen besserer Karrierechancen einhalten können, bleibt noch abzuwarten. „Wir arbeiten noch daran, die neuen Schulen in die Épreuves Standardisées einzubauen“, sagt Antoine Fischbach, Direktor des „Luxembourg Centre for Educational Testing“ (LUCET). Für die Wissenschaftler ist es allerdings schwierig, Systeme mit verschiedenen Programmen und Sprachen miteinander zu vergleichen.
Bis jetzt seien lediglich die Resultate von PISA ein Indiz für das Abschneiden der Schulen. Bereits bei der vergangenen Vorstellung der Ergebnisse, stellte das Ministerium die neuen Schulsysteme als Hoffnungsschimmer für ein zukünftig besseres Abschneiden dar. Inwiefern das jedoch auf Fakten basiert, ist nicht klar.
Für Antoine Fischbach sei es jetzt auf jeden Fall noch zu früh für eine Bilanz. Er findet die neuen Konzepte aber „hoch interessant“ und hofft in ein paar Jahren erste wissenschaftliche Ergebnisse zu liefern. Die Erhebungen von Daten aus Differdingen und Esch haben bereits begonnen. Ob die ersten Studien auch schon das große politische Ziel von mehr Chancengleichheit dank mehrsprachigem Unterricht untermauern können, bleibt allerdings abzuwarten.