Die EU-Kommission will, dass Konzerne europaweit nach den gleichen Regeln besteuert werden. Das würde Luxemburg ein Viertel aller Steuereinnahmen kosten, so eine neue Studie. Ihre Ergebnisse sorgen hierzulande für Furore. Doch die Faktenlage ist nicht so klar, wie es scheint.

Wie jedes Jahr gibt die „Cour des comptes“ eine Stellungnahme zum Haushaltsgesetz ab. 2019 enthielt der Bericht ein Kapitel über die Anfälligkeit der Steuereinnahmen. Darin geht es etwa um die Frage, wie nachhaltig die Ausbeute aus dem Tanktourismus ist. Thema ist aber auch das Projekt „Accis“ der EU-Kommission, die die Steuerregeln für Konzerne harmonisieren will. Die Experten des Rechnungshofes warnen, dass diese Pläne den Luxemburger Staat 3,5 Milliarden Euro kosten könnten – pro Jahr. Oder anders gesagt: knapp ein Viertel aller Steuereinnahmen.

„Die Situation erinnert mich an die Titanic. Der Eisberg ist bereits in Sicht, aber wir feiern weiter“, sagte Laurent Mosar im Rahmen der vergangenen Haushaltsdebatte. Der CSV-Abgeordnete verwies dabei ausdrücklich auf die Zahl von 3,5 Milliarden – die er allerdings als zu hoch einschätzte. Auch riefen die Zahlen die Finanz- und Budgetkommission im Parlament auf den Plan: Der Ausschuss beauftragte den Rechnungshof, die Angaben noch einmal zu prüfen. Zurecht, wie sich herausstellt.

Eine Studie und ihre Wirkung

Sind die befürchteten fehlenden Milliarden im Luxemburger Staatshaushalt realistisch? Woher kommt diese Schätzung der 3,5 Milliarden Euro an Einnahmeverlusten? Der Rechnungshof gibt als Quelle eine Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, kurz WIFO, an. Im Auftrag der „Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien“ untersuchten drei Forscher des Instituts, wie sich die Pläne zur Steuerharmonisierung der EU auf Österreich auswirken würden. Um Luxemburg geht es dabei nur marginal.

Auf Seite 53 der Studie findet sich eine Tabelle, die angibt, welche Folgen die „Assiette Commune Consolidée pour l’Impôt sur les Sociétés“ (Accis oder CCCTB auf Englisch) auf die Einnahmen aller Mitgliedstaaten hätte. In der Zeile „Luxemburg“ steht 77,6 Prozent. Das heißt, Luxemburg würde 22,4 Prozent seiner Einnahmen verlieren, sollte Accis Wirklichkeit werden. Der Rechnungshof multiplizierte diese Zahl mit den Einnahmen Stand 2017 und kam so auf 3,5 Milliarden Euro.

Wie konnte eine österreichische Studie es bis in die Luxemburger Haushaltsdebatte schaffen? Daran war wohl ein Artikel aus „Alternatives économiques“ nicht ganz unschuldig. Unter dem Titel „Accis ou l’enfer pour les paradis fiscaux“ griff der Journalist Christian Chavagneux die genannte Tabelle aus der WIFO-Studie auf. Sein Schluss: „Sans surprise, les paradis fiscaux seraient fortement touchés, les Pays-Bas perdant au passage environ 35% de leurs recettes sur l’impôt sur les sociétés, l’Irlande et le Luxembourg un quart.“

Der grobe Schnitzer des Rechnungshofs

Allerdings unterlief den Experten des Rechnungshofes ein folgenschwerer Denkfehler. Sie rechneten den Ausfall von knapp einem Viertel auf die gesamten Staatseinnahmen Luxemburgs. Doch die WIFO-Studie mit dem wohlklingenden Titel „Die Auswirkungen der gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage auf Österreich“ bezieht sich eben nur auf die Körperschaftssteuer („impôt sur le revenu des collectivités“, IRC), die von Accis betroffen wäre.

Bezieht man die WIFO-Schätzung von einem Minus von 22,4 Prozent nur auf die Einnahmen aus der IRC, dann geht es nicht um einen Ausfall von 3,5 Milliarden Euro, sondern von 444 Millionen Euro – Stand 2017. Auf der Grundlage der Zahlen 2019 wären es knapp 590 Millionen Euro.

Damit ist auch ein weiteres Rätsel gelöst: Die Abgeordneten fragten sich, warum die EU-Kommission vor drei Jahren rechnete, dass Luxemburg „nur“ etwa 500 Millionen Euro (ein Prozent des BIP) verlieren wird. Nimmt man die richtigen Zahlen liegen beide Studien dann doch recht nahe beieinander.

Warum Luxemburg schlecht wegkommt

Doch wie kommt es zu diesen Schätzungen? Der Grund ist, dass Accis die Steuerregeln für Konzerne komplett auf den Kopf stellen würde. Wenn heute Fiat oder Amazon in ihrer Steuererklärung angeben, nach Anwendung aller Tricks den Betrag X in Luxemburg als Gewinn erwirtschaftet zu haben, dann müssen sie hierzulande darauf Steuern zahlen. Unter den neuen Regeln wird die Bemessungsgrundlage – also der Betrag, auf dem Steuern gezahlt werden – völlig anders berechnet.

Die Bemessungsgrundlage wird gemeinsam und konsolidiert ausgerechnet, sprich sie wird nach EU-weiten Regeln festgelegt und dann nach bestimmten Kriterien je nach dem Land verteilt, in dem das Unternehmen aktiv ist. Diese Kriterien sind die Zahl der Beschäftigten, der Umsatz und das Vermögen, die ein Konzern pro Land verzeichnet.

Die Forscher berechnen auf Grundlage dieser Kriterien, wie sich die Steuern etwa für Luxemburg ändern. Klar ist: Konzerne haben in Luxemburg meist ein hohes Vermögen geparkt, aber vergleichsweise wenig Beschäftigte. In Frankreich ist dagegen der Umsatz höher und es arbeiten meist mehr Menschen für das Unternehmen. Also würde Luxemburg nach dieser Formel weniger Steuern erhalten, Frankreich aber mehr.

Eine grobe Schätzung

Unbestritten ist, dass Luxemburg nicht zu den Gewinnern einer solchen Steuerharmonisierung zählen würde – zumindest nicht kurzfristig. Allerdings sind die Studien mit äußerster Vorsicht zu genießen, wie die Autoren auch selbst zugeben. Zudem ist die WIFO-Studie auf Österreich bezogen und hat nicht den Anspruch, genaue Resultate für andere Staaten, wie z.B. Luxemburg, zu liefern.

Unbestritten ist auch, dass der Luxemburger Staat extrem abhängig von den Steuern ausländischer Unternehmen ist. Beteiligungsgesellschaften und Holdings zahlen knapp ein Drittel aller Körperschaftssteuern. Der Finanzsektor (mit Banken, Fonds und Dienstleistern) zahlt über drei Viertel aller Unternehmenssteuern. 2018 waren das 1,88 Milliarden Euro.

Dazu kommt, dass sehr wenige Unternehmen einen sehr hohen Anteil der Steuern zahlen, wie das „Comité économique et financier national“ 2018 betonte. Es schätzte die Folgen von Accis und anderen neuen Steuerregeln als sehr bedeutsam ein. Finanzminister Pierre Gramegna (DP) weigert sich allerdings bisher, die möglichen Effekte genauer untersuchen zu lassen.

Parlament ist dagegen, die Unternehmen nicht

Politisch sind diese Zahlenspiele sehr bedeutsam. Ende 2016 sprachen sich im Parlament alle Parteien außer Déi Lénk gegen Accis aus. Es sei ein Angriff auf die Souveränität des Landes, so der Tenor. Der angenommene Einnahmeverlust war dabei ein wichtiges Argument.

Der Industrieverband Fedil gab jedoch eine deutlich nuancierte Stellungnahme ab: Die Vorschläge zur Steuerharmonisierung seien für Unternehmen durchaus interessant. Allerdings müsse sichergestellt sein, dass die Folgen für den Luxemburger Staatshaushalt nicht allzu negativ seien.

Alle Studien haben ein wesentliches Manko: Sie berechnen die Folgen ohne Rücksicht darauf, wie sich Unternehmen an die neue Lage anpassen würden. Accis sieht etwa sehr attraktive Vorteile für Investitionen in Forschung vor. Und das könnte der Luxemburger Wirtschaft zugutekommen – auch wenn der warme Geldregen für den Staat in der Tat ausbleiben könnte.


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