In den Tripartite-Verhandlungen wurden pauschale Hilfen für die gesamte Bevölkerung beschlossen. Zusätzliche Unterstützung für die Ärmsten der Gesellschaft spielte kaum eine Rolle. Das liegt auch am Selbstverständnis der Gewerkschaften. Eine Analyse.
„Wir brauchen keine Lektionen darüber, wie man eine gerechte Steuerpolitik umsetzt. Es war immerhin diese Regierung, die in den letzten Jahren mehr als eine Steuermaßnahme erfolgreich umgesetzt hat. Darunter auch Steuererleichterungen für die Mehrheit der Einwohner Luxemburgs“, sagte Xavier Bettel (DP) während seiner Rede zur Lage der Nation. Gerechte Steuerpolitik ist demnach eine, die allen zugute kommt, so die Devise der Regierung.
Genau dafür erntete sie bei der Tripartite auch Kritik von den Umwelt- und den sozialen Hilfsorganisationen. Doch nicht nur das Gießkannenprinzip von Luxemburgs Sozialpolitik missfällt den Organisationen. Vor allem helfe das Übereinkommen den Ärmsten der Gesellschaft nicht ausreichend, kritisierte etwa die Caritas.
„Die Ärmsten werden stets vergessen“
Bei den Verhandlungen wurde viel Wert darauf gelegt, den Indexmechanismus zu bewahren, indem die Inflation abgeschwächt wird. Damit soll allen Haushalten geholfen werden. Menschen mit geringem Einkommen wurden bereits beim „Energiedësch“ und bei der vorherigen Tripartite einige Hilfen versprochen. Für Empfänger der Teuerungszulage („Allocation de vie chère“) wurde etwa die Energieprämie eingeführt. Auch Menschen, die 25 Prozent mehr verdienen als den sozialen Mindestlohn, haben einen Anspruch auf diese Unterstützung. Die zusätzliche Hilfe kann je nach Größe des Haushalts zwischen 200 und 400 Euro betragen.
Beschlossen wurde diese Maßnahme jedoch ohne die Sozialpartner. Auch 2020 hat die Regierung die Teuerungszulage im Alleingang verdoppelt. Die Entscheidung wurde für das Jahr 2021 rückgängig gemacht. Dennoch stiegen die Zulagen im Vergleich zu 2019 um insgesamt 25 Prozent.
Studierende oder Sozialhilfeempfänger gehören schlicht nicht zur Zielgruppe der Luxemburger Gewerkschaften.“
Während der Tripartite vom vergangenen März wurde zusätzlich beschlossen, die Studienbeihilfen und die Sozialhilfe (Revis) zu erhöhen. Wie der OGBL in seinem Bericht über die Verhandlungen schrieb, sei dies „ohne weitere Erklärungen vorgestellt worden“. Eine Forderung von den Gewerkschaften war es jedenfalls nicht. In der letzten Tripartite war eine weitere Erhöhung des Revis oder der Studienbeihilfen auch nicht Teil des Forderungskatalogs der Gewerkschaften. „Das war kein Thema bei dieser Tripartite“, sagte der Premier während der Pressekonferenz nach den Verhandlungen auf Schloss Senningen.
Dabei haben ausgerechnet die Gewerkschaften den Ruf, die sozial Schwächsten zu verteidigen. Für ihr Scheitern in dieser Rolle während der Tripartite werden sie nun von der Caritas kritisiert. „Wir sehen, dass die Ärmsten hier im Land nicht wirklich jemanden haben, der sich für ihre Rechte einsetzt. Sie werden stets vergessen“, sagte Carole Reckinger, zuständig für die politische Arbeit der Caritas, im Interview mit „Radio 100,7“.
Darauf angesprochen, erklärte Partrick Dury ebenfalls bei „Radio 100,7“, man würde „seit Jahren eine Politik betreiben, in der der Mindestlohn nie vergessen wird“. Man habe nicht das Gefühl, Menschen zu vergessen, so der Vorsitzende des LCGB weiter. Die Aussage ist bezeichnend für das Selbstverständnis der Gewerkschaften. Sozialpolitik definiert sich demzufolge durch den Kampf für einen gerechteren Mindestlohn. Dabei beziehen rund acht Prozent der Haushalte nicht mal den Mindestlohn. Weitere 13 Prozent verdienen als Haushalt zwischen 1.500 und 2.000 Euro monatlich. Währenddessen ist die Kundschaft der „Epiceries sociales“ in den letzten Monaten um 30 Prozent gestiegen.
Ein anderes Selbstverständnis
Angesichts dieser Zahlen sollte es für die Gewerkschaften offensichtlich sein, dass es nicht ausreicht, für einen höheren Mindestlohn zu kämpfen. Dieser kurzsichtige Blick hat jedoch auch mit der Gesetzgebung der Sozialleistungen zu tun: Steigt der Mindestlohn, steigen etwa auch der Revis oder das Einkommen für schwerbehinderte Personen (RPGH) automatisch um den gleichen Prozentsatz. Setzen die Gewerkschaften sich also für eine Mindestlohnerhöhung ein, werden auch Sozialhilfeempfänger davon profitieren. Dennoch bleibt das stets nur ein Nebenprodukt ihrer Forderung. Das zeigte sich auch während der Tripartite. In absoluten Zahlen wird die zukünftige Anpassung des Mindestlohns rund 76 Euro monatlich mehr bedeuten, während es für den Revis rund 54 Euro für eine Person sind.
Im März drehten sich die Verhandlungen in erster Linie um den Indexmechanismus. Bis zum Schluss wollten die Gewerkschaften an diesem festhalten. Die Folgen einer Nicht-Indexierung und der Einführung eines Steuerkredits haben sie deshalb nicht berücksichtigt, da sie diese Prämisse prinzipiell ablehnten. Erst kurz vor Verhandlungsschluss lenkten LCGB und CGFP ein, um dem Übereinkommen doch noch zuzustimmen. Für eine Analyse der Maßnahmen war es zu dem Zeitpunkt zu spät. Ohne Einschreiten der Regierung hätte eine Anpassung des Revis und der Studienbeihilfen, damit diese trotz ausfallender Indextranche steigen, nicht stattgefunden.
Der Grund, warum der Index so eine große Rolle für die Gewerkschaften spielt, ist jedoch auch, dass ihre Bedeutung schwindet. In Luxemburg sind 43 Prozent der Beschäftigten nicht über einen Tarifvertrag geschützt. Fassen die Gewerkschaften in diesen Sektoren keinen Fuß, ist der Index für die betroffenen Arbeitnehmer oft die einzig garantierte Gehaltserhöhung in ihrer Karriere. Und genau diese gilt es zu vertreten: die Arbeitnehmer. Sinn und Zweck einer Gewerkschaft ist es, die Arbeitsbedingungen und Absicherung der Beschäftigten zu verbessern. Oder mit anderen Worten, sich für ihre Mitglieder einzusetzen. Studierende oder Sozialhilfeempfänger gehören schlicht nicht zur Zielgruppe der Luxemburger Gewerkschaften.
Strategiewechsel in der Tripartite
Auch bei den letzten Verhandlungen wurde dies wieder offensichtlich. Den Gewerkschaften ist es nicht nur gelungen, den Indexmechanismus beizubehalten und den Mindestlohn zu erhöhen, sondern auch die Preise für Alten- und Pflegeheime einzufrieren. Denn anders als Studierende oder Sozialhilfeempfänger sind Rentner durchaus Mitglieder von Gewerkschaften. In der Arbeitnehmerkammer stehen ihnen zehn Prozent der Sitze zu. Zusätzlich ist mit der CGFP eine der drei nationalen Gewerkschaften für die Vertretung eines Teils der Arbeitnehmerschaft verantwortlich, in der nur ein Bruchteil knapp mehr als den qualifizierten Mindestlohn bezieht.
Das Luxemburger Modell des Sozialdialogs soll eigentlich alle gesellschaftlichen Interessen abbilden, doch das ist längst nicht mehr der Fall.“
Die Forderung eines Einfrierens der Preise stellten die drei Gewerkschaften bereits im März, doch damals ging sie im langen Forderungskatalog, der etwa auch die Indexierung der Steuertabelle und eine Steuerreform umfasste, unter. Für die vergangenen Verhandlungen hatten die drei Gewerkschaften ihr Vorgehen also angepasst. Die Forderungen wurden auf ein Minimum reduziert. Dazu zählte etwa erneut das Nicht-Infragestellen des Index und offenbar auch das Einfrieren des Preises für Alten- und Pflegeheime.
Im direkten Kontrast war das Einfrieren der Mieten nicht Teil des Forderungskatalogs. Diese Maßnahme wurde 2020 vor dem Hintergrund der Coronakrise eingeführt und soll Ende dieses Jahres auslaufen. Aus Gewerkschaftskreisen lautet die Begründung, dass dies nur kurzfristig Abhilfe leisten würde und vielmehr eine größere Reform des Mietgesetzes angestrebt werden müsste. Ein entsprechendes Gesetzesprojekt hat Henri Kox (Déi Gréng) nun auch dem Parlament vorgelegt. Das Projekt muss jedoch noch vom Parlament angenommen werden und gilt nur für zukünftige Mietverträge. Gerade in der jetzigen Krise wäre eine Verlängerung der Einfrierung der Mieten für von Armut Betroffene nötig gewesen.
Betroffene bleiben unzugänglich
Den Gewerkschaften genügt es also, in der Armutsbekämpfung das bisher Erreichte zu verteidigen. Dazu gehört die Verlängerung der Energieprämie über das kommende Jahr. Dabei sind die Hilfen nur auf dem Papier nützlich. Im letzten Jahr hat etwa nur ein Fünftel der Berechtigten die Teuerungszulage erhalten. Obwohl die Energieprämie auch für Menschen, die etwas mehr als den Mindestlohn beziehen, zugänglich ist, haben bis August nur rund 1.000 weitere Haushalte diese erhalten. Die Hilfen kommen also nicht da an, wo sie eigentlich gebraucht werden.
Das bedauerte auch Patrick Dury bei „Radio 100,7“. „Da müssen wir alle schauen, wie wir das verbessern könnten. Vielleicht hat die Caritas Überlegungen, wie man diese Menschen besser aufklären kann“, so der Vorsitzende des LCGB. Damit wird deutlich, wer in den Augen der Gewerkschaften der eigentliche Vertreter der sozial schwachen Bevölkerung ist. Doch sowohl für Gewerkschaften als auch soziale Hilfsorganisationen bleiben die Betroffenen unzugänglich. Während die Caritas oder das Rote Kreuz oft erst bei Extremfällen einschreiten, richten die Gewerkschaften ihren Blick auf Mindestlohnempfänger. Die Menschen, die zwischen diesen beiden Schwellen mit Armut ringen, finden kein Gehör.
Darunter leidet am Ende auch die Legitimität der Tripartite-Verhandlungen. Das Luxemburger Modell des Sozialdialogs soll eigentlich alle gesellschaftlichen Interessen abbilden, doch das ist längst nicht mehr der Fall. Und das gilt nicht nur für von Armut Betroffene. Es ist nicht verwunderlich, dass auch Umweltverbände das Übereinkommen kritisierten. Auch in diesem Bereich hätten die Gewerkschaften sich nicht ausreichend eingesetzt, so die Kritik. Zwar liefern sie stets ein Lippenbekenntnis für mehr Klimaschutz, aber letzten Endes geht es auch hier um die eigenen Interessen. Und die sind in erster Linie das Erhalten von Arbeitsplätzen. Demnach werden die Gewerkschaften ihrer Rolle gerecht. Nur die Erwartungen an sie sind falsch.


