Online werden Kinder millionenfach Opfer von sexueller Gewalt. Die EU-Kommission schlägt nun umfassende Kontrollen in Apps vor. Datenschützer warnen vor Überwachung auf jedem Handy. Der Streit um wirksame Maßnahmen beginnt erst.
Es passierte im Messenger: Ein Erwachsener verleitete eine 15-Jährige aus Luxemburg dazu, sexuell eindeutige Bilder von sich zu machen und sie ihm zu schicken. In einem weiteren Luxemburger Fall stellten Eltern fest, dass ein Mann aus den USA ihr 15-jähriges Kind dazu bringen wollte, mit ihm eine sexuelle Beziehung einzugehen. Auch dies geschah über die Chatfunktion eines Social-Media-Dienstes.
Beide Fälle zitierte die EU-Kommission als Beispiele für den sexuellen Missbrauch von Kindern, der online stattfindet. Um gegen dieses Phänomen vorzugehen, präsentierte die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, am 11. Mai einen Gesetzesvorschlag. Anbieter von Onlinediensten sollen verpflichtet werden, sexuelle Gewalt gegen Kinder aufzudecken und zu melden.
Doch wie kann sexuelle Gewalt gegen Kinder im Internet gestoppt werden? Kinderschutzorganisationen begrüßen die weitreichenden Vorschläge aus Brüssel als „entscheidenden Schritt“, um die Rechte der Kinder zu wahren. Datenschützer warnen jedoch vor unverhältnismäßiger, aber wenig wirksamer Massenüberwachung. Vor allem geraten die Versäumnisse der Regierungen vermehrt in den Fokus der Debatte. In Luxemburg nimmt die Debatte erst langsam Fahrt auf.
Schwemme an selbst gemachten Nacktbildern
Dabei ist das Problem hierzulande mehr als präsent: „Sexuelle Ausbeutung von Kindern findet in Luxemburg vor allem online statt. Das hat in den vergangenen Jahren extrem zugenommen“, sagt Noémie Losch. Sie ist Projektmanagerin bei der Luxemburger Zweigstelle des internationalen Netzwerks „Ecpat“, das sich gegen Ausbeutung von Kindern engagiert. Knapp 3.300 Darstellungen von Missbrauch wurden der Luxemburger „Stopline“ von „Bee Secure“ im vergangenen Schuljahr gemeldet.
Das ist, als ob die Post verpflichtet wäre, alle Briefe zu öffnen und gegebenenfalls an die Polizei weiterzuleiten.“Datenschützer Tom Jennissen zur Chatkontrolle
Den Kinderschutzorganisationen bereitet vor allem Sorgen, dass eine Kategorie des sogenannten „child sexual abuse material“ (CSAM) regelrecht explodiert. Es geht dabei um Videos und Fotos, die vor allem elf- bis 13-jährige Mädchen selbst von sich machen – meist zu Hause im Kinderzimmer.
Zwischen 2020 und 2021 nahm die Zahl der gemeldeten selbst gemachten Aufnahmen um 168 Prozent zu, verzeichnete die „Internet Watch Foundation“. Dieses Material macht zwei Drittel des gesamten illegalen Materials aus, das vergangenes Jahr gelöscht wurde. Diese Entwicklung thematisierte auch der internationale Verband der Meldestellen, die „International Association of Internet Hotlines“ (Inhope), im jüngsten Bericht.
Von „Grooming“ und Erpressung
Diese Bilder entstehen größtenteils freiwillig als Teil von „Sexting“, also das Teilen von expliziten Fotos unter Gleichaltrigen. Die Luxemburger Polizei berichtete von einer „Schwemme“ an Nacktbildern, die Jugendliche sich gegenseitig zusenden. Das Problem ist allerdings, dass Täter diese Fotos und Videos in vielen Fällen illegal weiterverbreiten.
Täter erpressen Jugendliche mit diesen Bildern, um weiteres Material oder sexuelle Handlungen zu erhalten. Ausgangspunkt ist häufig das sogenannte „Grooming“. Erwachsene knüpfen unter falscher Identität Kontakte mit Minderjährigen, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. „Es ist sehr einfach, über Apps wie Snapchat, TikTok oder auch Videospiele Kontakt mit jungen Menschen aufzunehmen“, erklärt Noémie Losch. Dazu kommt, dass die Kinder in immer jüngerem Alter ein Smartphone besitzen.
Die eingangs genannten Fälle aus Luxemburg sind in dieser Hinsicht repräsentativ. Das Arbeitsdokument der EU-Kommission enthält zehn Seiten an Beispielen aus ganz Europa. Teils läuft der Missbrauch rein online ab, teils ist es eine Kombination einer Annäherung im Internet und dem Missbrauch im vertrauten Umfeld.
EU unter Handlungsdruck
Viele dieser Fälle wurden über die freiwilligen Maßnahmen der Onlinedienste, wie etwa Facebook, entdeckt. Die US-Konzerne melden verdächtige Aktivitäten an die unabhängige US-Organisation „National Center for Missing and Exploited Children“ (NCMEC), die sie an die zuständigen nationalen Behörden weiterleitet.
Das Problem: Dass die Konzerne die Inhalte auf ihren Plattformen überwachen, verstößt gegen den EU-Datenschutz – vor allem die „e-Privacy“-Richtlinie. Die EU beschloss deshalb eine Ausnahmeregelung, die zwar die Suche nach Darstellungen von sexueller Gewalt weiter ermöglicht, die aber 2024 ausläuft.
Es braucht deshalb eine dauerhafte und rechtlich sichere Lösung. Dazu kommt, dass viele Anbieter nicht nach möglichen illegalen Inhalten suchen, weil sie dazu nicht gesetzlich verpflichtet sind. Und schließlich bieten immer mehr Anbieter verschlüsselte Nachrichtendienste an. Dieser Trend senkt für die Täter das Risiko, entdeckt zu werden, warnt Europol.
Die Durchleuchtung jeglicher digitalen Kommunikation
Der Entwurf aus Brüssel will all diese Probleme angehen und geht deshalb sehr weit. Anbieter müssen ihre Plattformen nach sexuellem Missbrauch von Kindern durchsuchen und Verdachtsfälle melden. Die Kommission plant ein unabhängiges „EU-Zentrum für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“, das die Meldungen entgegennimmt und Software zur Verfügung stellt, die die Durchleuchtung von digitalen Inhalten ermöglicht.
Das reicht sehr weit, erklärt Tom Jennissen, Co-Leiter des deutschen Vereins „Digitale Gesellschaft“. Die Kommission will, dass bekanntes illegales Material entdeckt werden muss, aber auch neue Darstellungen, die über eine künstliche Intelligenz gefunden werden sollen. Schließlich soll auch das „Grooming“ über die Analyse von Texten entdeckt und gemeldet werden.
Experten warnen allerdings vor dieser automatisierten Überwachung: „Da die zugrunde liegenden informatischen Systeme und algorithmischen Entscheidungsverfahren in der Erkennung strafrechtlicher Inhalte immer fehlerbehaftet sind, wird es zu massenhaft unrechtmäßigen Ermittlungsverfahren kommen“, schreibt die deutsche „Gesellschaft für Informatik“ in einer Stellungnahme.
Vor allem die sogenannte „Chatkontrolle“ bereitet dem Datenschützer Tom Jennissen und den zuständigen Organisationen europaweit Sorgen. „Das ist, als ob die Post verpflichtet wäre, alle Briefe zu öffnen und gegebenenfalls an die Polizei weiterzuleiten“, führt er ein Beispiel aus der analogen Welt an.
Die Frage der Verhältnismäßigkeit
Die EU-Kommission schreibt zwar keine konkrete Methode der Überwachung vor, aber die Datenschützer gehen davon aus, dass es um ein sogenanntes „Client-side scanning“ gehe. Das heißt im Falle eines Messengers, dass die App auf dem Smartphone die Nachrichten mitliest, bevor sie verschlüsselt an den Empfänger gehen. „Bei einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung hat der Anbieter keinen Zugriff auf die Kommunikation. Wenn sie verpflichtet werden, die Inhalte zu prüfen, dann muss entweder die Verschlüsselung aufgebrochen werden oder eben auf dem Gerät des Nutzers geprüft werden“, erklärt Tom Jennissen. Das Urteil des Datenschützers ist klar: „Die Maßnahmen sind völlig unverhältnismäßig und zugleich ist ihre Effektivität mehr als fraglich.“
Dazu kommt die Gefahr, dass die Aufweichung der Verschlüsselung und die Überwachungsmechanismen in den Apps es anderen Kriminellen einfacher machen, sich Zugang zu den Smartphones zu verschaffen. Und autoritäre Regierungen in aller Welt könnten die neuen Möglichkeiten nutzen, um ihre Bürger zu überwachen und gegen politische Gegner vorzugehen.
Es ist keine politische Priorität.“Noémie Losch, „Ecpat“
Die Frage der Verhältnismäßigkeit stellt sich auch die Luxemburger Regierung. Die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die EU-Grundrechtecharta sehen vor, dass jeder Eingriff in die Privatsphäre legitim und proportional sein muss, heißt es auf Nachfrage von Reporter.lu aus dem Justizministerium. „In den Verhandlungen über die Vorlage werden diese Fragen auch diskutiert werden, um eine Lösung zu finden, die die Bekämpfung von sexuellem Missbrauchsmaterial von Kindern im Rahmen dieser Kriterien garantiert“, so die Pressestelle von Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng). Den Ausbau der Mittel im Kampf gegen Kindermissbrauch im Netz begrüßt die grüne Ministerin aber ausdrücklich.
Die Versäumnisse der Politik
Auch wenn ihre Bewertung der Vorschläge der EU-Kommission sich unterscheidet, so sind Kinderschützer und Datenschützer sich in einem Punkt einig: In den vergangenen Jahren setzten die Staaten nicht ausreichend Mittel ein, um Kinder zu schützen.
In Luxemburg arbeiten nur 16 Ermittler an der Bekämpfung jeglicher Form von sexuellem Missbrauch – für die digitalen Verbrechen gibt es keine spezialisierte Einheit. Das obwohl Luxemburg ein Hotspot ist: Ein Prozent des europaweit entdeckten illegalen Materials lag vergangenes Jahr auf Luxemburger Servern, verzeichnet der internationale Verband der Helplines. 2020 war Luxemburg sogar noch in der Top Ten weltweit. Dazu kommen die am Finanzplatz angesiedelten digitalen Zahlungsdienste, über die Täter sich etwa für Livestreams von Kindesmissbrauch bezahlen lassen. 2020 meldeten die Zahlungsdienste der „Cellule de renseignement financier“ (CRF) knapp 300 Verdachtsfälle im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung von Kindern.
Das Thema beschäftigt aber zunehmend die Parlamentarier. Sven Clement (Piraten) beantragte eine Aktualitätsstunde, um die Position der Regierung zur Chatkontrolle zu erfahren. Die CSV-Abgeordneten Viviane Reding und Nancy Kemp-Arendt forderten eine „dringende“ Umsetzung der EU-Vorschläge.
„Es ist keine politische Priorität“, betont Noémie Losch von „Ecpat“. Das Justizministerium arbeite durchaus in diesem Feld, aber der Rückstand sei enorm. Ein Beispiel ist die Reform des Sexualstrafrechts. Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass es keine Rolle mehr spielt, ob Straftaten digital oder in der realen Welt verübt werden. Allerdings setzt Luxemburg mit dieser Reform unter anderem die EU-Richtlinie von 2011 über sexuellen Missbrauch um – mit elf Jahren Verzögerung.

