Um Minderjährige vor sexuellen Übergriffen zu schützen, hat Luxemburg eine der strengsten Gesetzgebungen Europas. Allerdings fallen die tatsächlichen Strafen häufig deutlich milder aus. Die juristische Praxis wird den wirklichen Herausforderungen des Sexualstrafrechts kaum gerecht.

„Bei keiner anderen Straftat ist die Vertuschung so einfach, der Täterschutz so hoch und das Leid der Betroffenen so folgenschwer“, sagte die CSV-Abgeordnete Nancy Kemp-Arendt in einer Debatte über Sexualstraftaten an Minderjährigen Ende Juni im Parlament. Für ihre Forderungen nach einer Stärkung des Jugendschutzes und einer Verschärfung des Strafrechtes bekam sie nicht nur aus den eigenen Reihen, sondern auch von den Abgeordneten der Regierungsparteien Unterstützung.

Die Justizministerin gab an diesem Tag erste Einblicke in die geplante Reform des Strafrechtes. In diesem Zusammenhang unterstrich Sam Tanson (Déi Gréng) die Unverhandelbarkeit des Schutzalters bis zum 16. Lebensjahr. „Bei sexuellen Handlungen zwischen einem Erwachsenen und einem Minderjährigen unter 16 Jahren stellt sich die Frage nach einvernehmlichem Handeln nicht“, sagte sie. „Das muss klar in unseren Gesetzestexten verankert sein“, so die Justizministerin weiter.

Die Stilisierung vom Täter zum Opfer

Ein aktueller Fall zeigt jedoch, dass eine stark restriktive Gesetzgebung auch das Gegenteil ihrer Intention bewirken kann. Sie kann sogar wie ein Bumerang zurückschlagen, indem sie einem Täter hilft, sich als Opfer darzustellen. Damit riskiert das Gesetz, auch dem politischen Willen eines nachhaltigen Jugendschutzes zuwiderzulaufen. Besonders auch dann, wenn sich das in der Gesetzgebung festgelegte Strafmaß nicht in der tatsächlich verhängten Bestrafung widerspiegelt.

Der Hintergrund des Falles: Ein Mann über 40 wird wegen Vergewaltigung verurteilt, da er Geschlechtsverkehr mit einem 15-Jährigen hatte. Der Artikel 375 des Strafgesetzbuches ist eindeutig: Bei Minderjährigen unter 16 Jahren setzt der Gesetzgeber voraus, dass sie außerstande sind, einer sexuellen Handlung zuzustimmen. Folglich wird diese als Vergewaltigung betrachtet, das Strafmaß liegt bei 10 bis 15 Jahren Gefängnis. Ein nachgewiesenes Abhängigkeitsverhältnis oder das Ausnutzen einer besonderen Vulnerabilität wirken zudem strafverschärfend.

Eine Inkohärenz zwischen Tat, Strafmaß und tatsächlicher Bestrafung ist ein falsches Signal an die Gesellschaft und riskiert, der Intention des Gesetzgebers zuwiderzulaufen.“Charel Schmit, Ombudsman für Kinder und Jugendliche

Der Mann ist in erster und zweiter Instanz unter Auflagen zu acht Jahren auf Bewährung verurteilt worden und hat Kassation gegen das Urteil eingelegt. Es sind diese zwei Aspekte des Falles, die Schwächen der geltenden Gesetzgebung offenlegen: Die Diskrepanz zwischen dem im Gesetz festgelegten Strafmaß und der tatsächlich ausgesprochenen Bestrafung ist das eine. Hinzu kommt die Möglichkeit der Verteidigung, sich eine zwar eindeutige, deshalb aber auch undifferenzierte und womöglich problematische Gesetzgebung zunutze zu machen.

Verteidigung sieht Rechte eingeschränkt

Die Verteidigung des verurteilten Mannes hat eine Disproportionalität in der Luxemburger Gesetzgebung festgestellt, die mit internationalen Normen nicht vereinbar sein könnte. Sie hat angekündigt, bei Zurückweisung des Kassationsgesuchs bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Straßburg zu ziehen. Von dem Fall losgelöste Rechtsgutachten stützen die Argumentation der Verteidigung.

Verkürzt dargestellt lautet diese wie folgt: Artikel 375 des Strafgesetzbuches, der Geschlechtsverkehr mit einem Minderjährigen unter 16 Jahren ausnahmslos als Vergewaltigung einstuft, sei zu absolut. Er lasse keine Differenzierung und keine Abstufungen zu. Diese „unwiderlegbare Vermutung“, wie der juristische Terminus lautet, nehme der Verteidigung das Recht, den Einzelfall darzulegen und gegebenenfalls Gegenteiliges zu beweisen. Weder eine Zustimmung des Opfers noch das Alter von Täter und Opfer würden in der Luxemburger Gesetzgebung eine Rolle spielen, lauten die Vorwürfe der Verteidigung. Sie sieht das Recht auf die Unschuldsvermutung dabei nicht hinreichend respektiert.

Differenziertere Gesetzgebung im Ausland

Die geltende Gesetzgebung sieht tatsächlich keine Differenzierung vor. Ebenso wenig verfügt Luxemburg über ein Jugendstrafrecht, das sexuelle Übergriffe unter Heranwachsenden gesondert behandelt. Im internationalen Vergleich ist das Luxemburger Strafrecht in dieser Hinsicht also eines der restriktivsten.

Deutschland zum Beispiel unterscheidet bei der sexuellen Mündigkeit zwischen den 14- bis 16-Jährigen und den über 16-Jährigen. In Frankreich spielt etwa der Altersabstand zwischen Täter und Opfer eine entscheidende Rolle, liegt er unter drei Jahren greift die Gesetzgebung nicht. Und in der Schweiz kann der Tatbestand der Vergewaltigung unter Umständen auf den Tatbestand der Gefährdung der Entwicklung eines Minderjährigen, und damit von einem Verbrechen zu einem Vergehen, herabgestuft werden.

Ich plädiere seit Jahren für einen freien und einfachen Zugang zu allen Gerichtsurteilen, speziell in puncto Geschlechterdiskriminierung und sexueller Gewalt.“Anik Raskin, Direktorin des Nationalen Frauenrates

Doch das Problem einer stark restriktiven Gesetzgebung liegt nicht nur darin, dass sie eventuelle Rechte des Täters verletzen könnte. Sie bietet Tätern auch Möglichkeiten, sich zum Opfer zu stilisieren, indem sie keine Grauzonen und keinen Interpretationsspielraum zulässt. Verstärkt wird dies dadurch, dass Diskussionen um das Alter der sexuellen Mündigkeit, die im Ausland immer wieder auch öffentlich und kontrovers ausgetragen werden, in Luxemburg bisher nur hinter verschlossenen Türen stattfinden.

Wenn der Täter sich selbst als Opfer wahrnimmt und durch Schlupflöcher einer undifferenzierten Gesetzgebung darin bestärkt wird, ungerecht behandelt worden zu sein, könnte er sich weiter von der Einsicht entfernen, Unrecht getan zu haben. Statt Verantwortung für seine Tat zu übernehmen, fühlt er sich in seiner Haltung und in seinem Verhalten bestärkt. Die für eine erfolgreiche Reintegration in die Gesellschaft unabdingbare Täterarbeit wird weiter erschwert.

Bewährungsstrafen werden zur Regel

Das tatsächlich verhängte Strafmaß bei Vergewaltigungen sorgt in diesem Zusammenhang für ein weiteres Ungleichgewicht. Wenn ein Gesetzestext 10 bis 15 Jahre Haft vorschreibt, diese aber nicht konsequent angewendet werden, riskiert der Artikel, seine Wirkung zu verlieren. Eine strenge Linie in der Gesetzgebung zu Sexualstraftaten kann ihre Intention nur dann erfüllen, wenn sie sich auch in der tatsächlichen Bestrafung ihrer Täter widerspiegelt.

„Luxemburg hat im internationalen Vergleich eine der repressivsten Gesetzgebungen, gleichzeitig aber auch enormen Spielraum in der Anwendung des Strafmaßes“, beschreibt ein mit dem Fall betrauter Anwalt im Gespräch mit Reporter.lu die aktuelle Situation.

Der Spielraum, der Richterinnen und Richtern zur Verfügung steht, um mildernde Umstände geltend zu machen und das Strafmaß zu reduzieren, geht unter anderem auf ein Gesetz vom 20. Juli 2018 zurück. Das Strafrecht wurde so reformiert, dass ein Gericht eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung „nur nach besonderer Begründung dieser Wahl“, wie es im Artikel 195 des „Code de procédure pénale“ nachzulesen ist, verhängen darf. Das heißt, nicht die Bewährung muss begründet werden, sondern der geschlossene Vollzug. Damit droht das Strafmaß auf Bewährung zur Regel und der geschlossene Vollzug zur Ausnahme zu werden. Und es führt dazu, dass sich auch Sexualstraftäter nach einer Verurteilung unter Auflagen auf freiem Fuß befinden können.

Dünne Datenlage, fehlende Instrumente

Opfer können diese Realität oft nicht nachvollziehen, wie die Geschichten von Betroffenen zum Ausdruck bringen. „Bei der Bestrafung von Sexualstraftätern muss die abschreckende Wirkung hoch genug sein“, sagt auch Charel Schmit. „Eine Inkohärenz zwischen Tat, Strafmaß und tatsächlicher Bestrafung ist ein falsches Signal an die Gesellschaft und riskiert, der Intention des Gesetzgebers zuwiderzulaufen“, so der Ombudsman für Kinder und Jugendliche.

Hinzu kommt, dass es kaum Daten zu Sexualstraftaten gibt, weder zu Durchschnittswerten des tatsächlich verhängten Strafmaßes noch zu Erfolgen oder Misserfolgen der Täterarbeit. „Nur eine Analyse der Rechtsprechungen würde Aufschluss darüber geben, wie mit Sexualstraftätern tatsächlich umgegangen wird“, sagt Charel Schmit.

Auch Anik Raskin, Direktorin des Nationalen Frauenrates, sieht in der Unzugänglichkeit von verlässlichen Informationen ein Problem. „Ich plädiere seit Jahren für einen freien und einfachen Zugang zu allen Gerichtsurteilen, speziell in puncto Geschlechterdiskriminierung und sexueller Gewalt. Dies würde uns erlauben, unsere Argumentationsstruktur zu stärken“, sagt sie.

Eine repressive Gesetzgebung alleine führt demnach nur selten zum beabsichtigten Ziel. Repressive Formulierungen riskieren, die wirklichen Herausforderungen im Strafrecht, also die Notwendigkeit einer schwierigen und anspruchsvollen Vollzugsarbeit, zu verdecken. Fehlt es an adäquaten Instrumenten, an Behandlungskonzepten für Sexualstraftäter sowie an effizienter Präventionsarbeit, könnte am Ende neben den Opfern auch die generelle Idee eines nachhaltigen Jugendschutzes die Leidtragende sein.


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