Hilfsorganisationen schlagen Alarm: Die Darstellungen von sexuellem Kindesmissbrauch im Internet nehmen ständig zu. Zur Bekämpfung plant das Justizministerium, das Strafrecht zu reformieren. Doch die Politik hinkt den Entwicklungen im Netz hinterher. 

„Oh nein. Jetzt haben die mich nackt gesehen.“ Ein junges Mädchen, vielleicht 13, fasst sich mit der Hand an die Stirn. Sie blickt auf ihr Handy. Aus ihren Augen sprechen Hilflosigkeit und Angst. Wahrscheinlich sieht sie gerade ein Foto oder ein Video von sich selbst, das im Internet kursiert. Aufgenommen in der Umkleidekabine des Schwimmbads oder zu Hause vor dem Spiegel. Heimlich von Mitschülern. Oder auch von ihr selbst. Vielleicht als Geschenk für einen Freund. Und jetzt kann es jeder sehen – und weiter teilen. Die Kontrolle über das eigene intime Bild ist dahin.

Die Situation, die das Kinder- und Jugendtelefon auf seiner Homepage beschreibt, ist längst kein Randphänomen mehr. Immer mehr sexualisierte Bilder bis hin zu expliziten Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen häufen sich im Internet.

Hohe Dunkelziffer

Der sicherste Opferschutz liegt in der Prävention. Um ein Kind nach einer Veröffentlichung vor weiteren Demütigungen zu schützen, muss die Polizei das Bildmaterial entfernen lassen. Doch nur ein Bruchteil der Darstellungen wird auch tatsächlich aufgespürt, zurückverfolgt und endgültig vom Server gelöscht. Datenschutzregelungen machen eine pro-aktive Suche schwierig, nur auf Verdacht darf ermittelt werden. Jeder und jede kann als verdächtig eingestufte Inhalte an international vernetzte Hotlines, wie der „Stopline“ von „Bee Secure“, melden. Mitarbeiter der Hotline prüfen die Meldungen und geben sie dann gegebenenfalls an die Polizei weiter.

Hilfsorganisationen sprechen von einer Dunkelziffer von sogenanntem „CSAM“ („Child sexual abuse material“) im Internet, die die gemeldeten Inhalte um ein Vielfaches übersteigt. Doch auch die Meldungen an Hotlines nehmen seit Jahren stetig zu, wie im Tätigkeitsbericht der Bee-Secure-Stopline nachzulesen ist. So wurden ihr im Jahr 2020 mit über 4.000 Webseiten ein Drittel mehr gemeldet als noch im Vorjahr.

Das Internet wächst täglich. Der Jugendschutz müsste hier zumindest mitwachsen. Doch das tut er nicht. Er hinkt den Entwicklungen hinterher.“Barbara Gorges-Wagner, Leiterin des Kinder- und Jugendtelefons

Während der Pandemie, und besonders in den Monaten des Lockdowns, haben die Hotlines besonders viele Meldungen erreicht. Aus einem Bericht von Europol geht hervor, dass sich das detektierte, bei der Polizei gemeldete Material in den Monaten März und April 2020 vervierfacht haben soll. Besonders zugenommen hat das Live-Streaming von Inhalten mit sexuellem Kindesmissbrauch, also sexuelle Handlungen mit, von und an Kindern, die in Echtzeit gefilmt und übertragen wurden.

Europäische Verantwortung

Die Verantwortung ist in Europa besonders hoch, weil sich mittlerweile 90 Prozent der weltweit verbreiteten, illegalen Inhalte mit sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen bei europäischen Providern befinden. Die meisten der Hosting-Firmen haben ihren Sitz in den Niederlanden (77 Prozent), aber auch Luxemburg gehört zu den attraktiven Standorten, um illegales Material im Internet zu speichern. Laut der „International Watch Foundation“ belegt das Großherzogtum weltweit den sechsten Platz. Dank einer restriktiven Gesetzgebung konnte in den USA währenddessen trotz hoher Konzentration an Internetunternehmen ein deutlicher Rückgang an CSAM festgestellt werden.

Dass Handlungsbedarf besteht, wurde auf vielen Ebenen erkannt. Mit einer Strategie der Europäischen Kommission von Juli 2020, geplanten Änderungen im nationalen Sexualstrafrecht sowie lokalen Sensibilisierungskampagnen will die Politik dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen den Kampf ansagen.

Doch Kriminalitätsbekämpfung wird im Internet komplexer. Fälle erhalten schnell eine internationale Dimension. Provider ziehen problemlos von einem Land ins andere, Inhalte sind teilweise hochverschlüsselt und undurchsichtige Firmenkonstrukte, wie jene des „Pornokönigs“ Bernd Bergmair, über das Reporter.lu berichtete, stellen Hürden dar, wenn es darum geht, die Verantwortlichen zu ermitteln.

Strategie der Regierung fehlt

„Das Internet wächst täglich. Und mit ihm auch die Mechanismen, um CSAM zu verbreiten“, erklärt Barbara Gorges-Wagner. „Der Jugendschutz müsste hier mitgehen. Doch das tut er nicht. Er hinkt den Entwicklungen hinterher“, so die Leiterin des Kinder- und Jugendtelefons, das auch die Stopline betreut, im Gespräch mit Reporter.lu. „Der Täter ist uns immer einen Schritt voraus.“

Eine zukunftsorientierte Strategie der Regierung, um den sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet wirksam zu bekämpfen, fehlt trotz geplanter Reformen weiterhin. Eine klare Position zu der Angemessenheit der Mittel ist schwer zu erkennen. Spannungsfelder, wie jene zwischen Jugendschutz und Datenschutz, aber auch zwischen Jugendschutz und freiem Markt, bremsen die Politik.

Genaue Sprache

Hilfsorganisationen machen Druck und werfen der Politik vor, bei der Bekämpfung von „Child sexual abuse material“ nicht am Puls der Zeit zu sein. Das lasse sich nicht nur bei der geplanten Reform des Sexualstrafrechts oder beim Ressourcenmangel, sondern auch beim gängigen Sprachgebrauch erkennen.

„Das Wort ‚Kinderpornografie‘ ist irreführend“, sagt Noémie Losch, Projektmanagerin bei der Luxemburger Zweigstelle des internationalen Netzwerkes „Ecpat“, das sich gegen CSAM, Prostitution von Minderjährigen und Kinderhandel engagiert. Sie bedauert, dass in offiziellen Texten, wie etwa dem vorläufigen Gesetzesprojekt zum Sexualstrafrecht, den das Justizministerium ausgearbeitet hat, weiterhin nicht von CSAM, sondern von „pédopornographie“ die Rede ist. „Pornografie zeigt eine legale Handlung von erwachsenen Personen, die ihr Einverständnis gegeben haben. Das ist bei CSAM nicht der Fall. Verbrechen müssen als solche benannt werden. Damit fängt alles an“, sagt Noémie Losch im Gespräch mit Reporter.lu.

Aus kinderrechtlicher Perspektive dürfen technische Möglichkeiten nicht dem Datenschutz geopfert werden.“Charel Schmit, Ombudsman für Kinder- und Jugendrechte

Gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendtelefon organisiert Ecpat zum „Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“ am Donnerstag ein Rundtischgespräch, bei dem auch Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng) Stellung beziehen soll.

Die Forderungen der Hilfsorganisationen an die Politik sind klar: „Wir brauchen eine eindeutige Sprache, eine stärkere Kontrolle der Hosting-Unternehmen, mehr Strenge im Sexualstrafrecht, die Entkriminalisierung der Jugendlichen und die Aufstockung der Ressourcen bei der Polizei“, erklärt Noémie Losch. Man könne die Flut an sexualisierten Bildern im Netz nur stoppen, wenn verschiedene Maßnahmen ineinandergreifen und einzelne Akteure sowohl national als auch international vernetzt arbeiten würden. Das sei in Luxemburg bis heute leider nicht hinreichend der Fall. „Die Problematiken um CSAM werden von vielen Seiten nicht ernst genug genommen“, schlussfolgert die Mitarbeiterin von Ecpat. Im Reformtext zum Sexualstrafrecht werde CSAM nicht explizit genannt, sondern allenfalls mitgedacht.

Reform des Sexualstrafrechts

Das Justizministerium hingegen sieht in den geplanten Reformen wichtige Schritte zur Bekämpfung von CSAM. „Das geplante Gesetz zur Reform des Sexualstrafrechts verschärft die Bestrafung der Herstellung, des Transports und der Verbreitung von pornografischem Material, welches Minderjährige darstellt, da es die Bedingung aufhebt, dass Herstellung, Transport und Verbreitung nur bestraft werden können, wenn dieses Material von einem Minderjährigen gesehen werden kann“, heißt es aus dem Justizministerium auf Nachfrage von Reporter.lu.

Darüber hinaus würde ein Strafrecht für Minderjährige eingeführt, das zur Entkriminalisierung der Kinder und Jugendlichen beitragen solle. Im Rahmen der Reformen zum Jugendschutz sollen die Rechte minderjähriger Opfer, etwa durch erhöhte Schutzmaßnahmen, gestärkt werden, so das Justizministerium weiter.

Zur Fragestellung, eventuell eine Filter-Software für eine pro-aktive Suche nach CSAM einzusetzen, erklärte sich das Justizministerium als nicht kompetent und verweist auf das Ministerium für Innere Sicherheit. Dort weiß man auf Nachfrage von Reporter.lu nichts von Plänen zu einer Filter-Software. Das Ministerium sei nicht in die Bekämpfung von CSAM einbezogen, heißt es von der dortigen Pressestelle.

Technische Möglichkeiten

Technisch wäre eine pro-aktive Suche durchaus möglich. Große Internetunternehmen wie Google, Facebook oder Apple benutzen intern bereits Filter-Software, um illegales Material zu detektieren und sich somit selbst vor Strafverfolgung zu schützen. Datenschützer und Internetaktivisten kritisieren diese Vorgehensweisen jedoch regelmäßig, warnen vor Massenüberwachung und berufen sich auf den juristischen Grundsatz, dass ohne begründeten Anfangsverdacht nicht ermittelt werden darf.

Doch abgesehen von juristischen Hürden würde eine pro-aktive Suche in Luxemburg bereits an Personalmangel scheitern, müsste sie in jedem Fall von einer neutralen Instanz, etwa der Polizei, durchgeführt werden. Derzeit fällt die Bekämpfung von CSAM in den Kompetenzbereich der Einheit „Jugendschutz und Sexualverbrechen“, deren Einsatzbereich jedoch vielfältig ist und von Vergewaltigungen, über häusliche Gewalt bis hin zu Vermisstenmeldungen reicht. „Eine Stelle oder Person, welche sich rein spezifisch um CSAM kümmert, gibt es zurzeit nicht. Sicherlich ließen sich die Aktivitäten in vielen Ermittlungsbereichen ausbauen“, so die Pressestelle der Polizei auf Nachfrage.

Gesellschaftliche Verantwortung

„Natürlich sind diese Recherchen, besonders die pro-aktive Suche nach CSAM, sehr personalintensiv“, räumt Barbara Gorges-Wagner vom Kinder- und Jugendtelefon ein. „Doch wenn du genau hinsiehst, dann findest du auch etwas“, ist sie überzeugt.

„Wir brauchen eine andere gesetzliche Grundlage, um eine proaktive und reaktive Bekämpfung von CSAM möglich zu machen“, sagt auch Charel Schmit. „Aus kinderrechtlicher Perspektive dürfen technische Möglichkeiten nicht dem Datenschutz geopfert werden“, so der Ombudsman für Kinder- und Jugendrechte.

„Unsere Arbeit ähnelt dem Schicksal des Sisyphus“, sagt Barbara Gorges-Wagner abschließend. Doch jedes Bild und jedes Video, das entfernt werde, leiste einen wichtigen Beitrag zum Jugendschutz. „Es handelt sich hierbei auch um eine gesellschaftliche Verantwortung, verdächtiges Material bei Anlaufstellen wie der Stopline zu melden.“


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