Die medizinische Versorgung befindet sich am Scheideweg: Ärzte rütteln am aktuellen System und fordern eine Liberalisierung ihres Berufs. Laut Verfassung steht ihnen das auch zu. Die Politik will dagegen eine Zwei-Klassen-Medizin verhindern – und versucht auf Zeit zu spielen.
Ein Radiologe sorgt seit Monaten für Aufruhr. In den vergangenen Wochen mehr denn je. Warum? Er will ein MRT-Gerät (IRM) und einen Scanner für seine künftige Privatpraxis im Ban de Gasperich. Das „Nein“ des Gesundheitsministeriums akzeptierte er nicht. Stattdessen klagte er.
Wahrscheinlich war es das Wissen, dass er im Recht ist, das ihn dazu ermutigte. „Es ist schon lange bekannt, dass die Verordnung, auf die sich das Ministerium beruft, verfassungswidrig ist. Das wussten die Ärzte. Und das wusste der Staat. Getan wurde dennoch nichts“, sagt der Kläger Dr. Renzo Del Fabbro im Gespräch mit REPORTER. „Ganz nach der Devise: Mir wëlle bleiwe, wat mir sinn.“
Was war geschehen? Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) lehnte seinen Antrag ab. Sie verwies auf eine großherzogliche Verordnung von 1993, in der alle Apparate aufgelistet werden, die ausschließlich innerhalb von Krankenhausstrukturen genutzt werden dürfen. Darunter auch MRT und Scanner. Im Juli erklärte das Verfassungsgericht diese Verordnung für verfassungswidrig. Der Grund: Laut Verfassung sei die Medizin ein freier Beruf – und die Liste für Krankenhäuser würde diese Freiheit eingrenzen. Daraufhin erklärte das Verwaltungsgericht im Dezember die Entscheidung von Lydia Mutsch für ungültig.
Der Anwalt des Arztes, André Lutgen, ist sich sicher: „Das Ministerium darf die Anschaffung eines Scanners oder MRT jetzt nicht mehr verbieten.“ Der Arzt kann sich demnach freuen. Und er ist nicht der Einzige.
Einer für alle, alle für einen
„Wir sind nun einmal Freiberufler“, sagt Renzo Del Fabbro. „Nur, weil ich nicht in einem Krankenhaus arbeite, kann ich momentan meinen Beruf nicht richtig ausüben.“
Er selbst war rund 35 Jahre in einer Luxemburger Klinik aktiv. „MRT-Untersuchungen werden allesamt im Krankenhaus gemacht. Allerdings auch bei Patienten, die gar nicht hospitalisiert sind“, so der Facharzt. Ein System, das für ihn – und andere Mediziner – nicht nachvollziehbar ist.
Denn gleich mehrere Ärzte stehen hinter Renzo Del Fabbro und stärken ihm den Rücken. Namen will er keine nennen. Doch auch ihnen ist das Monopol der Krankenhäuser ein Dorn im Auge. Sie kämpfen alle für das Gleiche: Mehr Unabhängigkeit vom Staat. Und nicht nur sie.
Auch der Geschäftsmann Flavio Becca unterstützt den Radiologen – und das nicht ganz uneigennützig. Denn Becca gehört der Teil des Ban de Gasperich, auf dem das Radiologiezentrum entstehen soll.
„Da gibt es die Einzelperson, die klagt. Eigentlich steht aber eine ganze Gruppe dahinter“, so Anwalt André Lutgen. Die meisten der Mediziner seien im Rentenalter – ein Vorteil. „Sie können es sich leisten, gegen das Gesundheitsministerium vorzugehen. Sie haben sozusagen nichts mehr zu verlieren. Und sie haben den Willen, dass sich endlich etwas ändert.“
Andere ziehen nach
Das Urteil vom Dezember zieht nicht nur unter Radiologen weite Kreise. Wie es heißt, hätten auch Anästhesisten bereits beim Gesundheitsministerium angefragt, ihre Dienste künftig ebenfalls außerhalb von Krankenhausstrukturen anzubieten. Sinnvoll wäre dies, wenn beispielsweise auch Chirurgen die Möglichkeit bekämen, kleine Operationen ambulant statt in einer Klinik durchführen zu können.
Was wollen die Menschen wirklich? Das ist die Frage, die die Politik sich stellen muss.“Yves Lasar, Société Luxembourgeoise de Radiologie
Allgemein herrscht in den Kliniken Unruhe, weil es aussieht, als könnte in Zukunft einiges an Behandlungen auf ambulante Strukturen verlagert werden. Das hat auch finanzielle Auswirkungen auf die Krankenhäuser.
Denn vor allem Dienstleistungen wie Röntgen, kleine chirurgische Eingriffe oder eben MRT-Untersuchungen sind am rentabelsten. Je länger ein Patient sich im Krankenhaus befindet, desto weniger Geld bringt er ein.
Erst einmal abwarten
Während einige Ärzte sich sicher sind, dass es Zeit für einen Wechsel des Gesundheitssystems wird, ist die „Société Luxembourgeoise de Radiologie“ da vorsichtiger. Für sie steht noch nicht fest, welche Auswirkungen das Urteil auf den Beruf der Radiologen haben wird, geschweige denn auf das gesamte Gesundheitssystem.
Vieles sei momentan noch unklar, so der Präsident der Vereinigung, Yves Lasar. Ganz unbefangen ist er bei diesem Thema nicht – er arbeitet selbst in einem Luxemburger Krankenhaus.
Was er sich vorstellen kann, ist eine Mischung aus freiberuflicher Arbeit inner- und außerhalb des Krankenhauses: „Es wäre natürlich auch eine Möglichkeit, dass radiologische Gruppen parallel auch in Praxen arbeiten, die als private Strukturen oder als Antennen der Spitäler funktionieren.“
Eine Öffnung hin zu einem liberalen System könnte gar einen Paradigmenwechsel für Luxemburg bedeuten, sagt Yves Lasar. „Es liegt nun an der Politik und an der Gesellschaft, wie es weitergehen soll. Was wollen die Menschen wirklich? Das ist die Frage, die die Politik sich stellen muss.“
Zwar verfassungswidrig, aber …
Das muss sie tatsächlich – und zwar möglichst schnell. Ob sie das will, ist allerdings fraglich. Das Urteil erfordert aber ohnehin ein neues Gesetz, da die Verordnung von 1993 dem Grundgesetz widerspricht.
Für Mars Di Bartolomeo (LSAP), Präsident der Gesundheitskommission, steht bereits fest, dass in Zukunft „kein Wildwuchs“ an MRT im Land entstehen darf. „Durch das Urteil ist sicher, dass die Entscheidung des Gesundheitsministeriums zwar annulliert wurde. Nicht sicher ist aber, dass jetzt alles erlaubt und nichts mehr reguliert ist.“
Die Zwei-Klassen-Medizin gibt es bereits.“Dr. Renzo Del Fabbro
Mars Di Bartolomeos Meinung teilt auch Sozialminister und Parteikollege Romain Schneider: „Man muss sich jetzt die Frage stellen, wie viele Apparate das Land braucht und wo diese stehen sollen.“
Für beide steht fest: Statt der Verordnung muss nun ein Gesetz her – und darin müssen neue Regeln definiert werden. Nur so kann das aktuelle System weiterhin Bestand haben. Geschehen ist bisher allerdings noch nichts – die Ausarbeitung eines Gesetzes lässt erst einmal auf sich warten.
Rolle der CNS entscheidend
Neben der Politik hat aber auch die Gesundheitskasse CNS noch ein Wort mitzureden. Denn eine wichtige Frage bleibt zu klären: Wer für die ambulanten Behandlungen zahlen wird. In den Krankenhäusern ist es die CNS. Ob sie auch Tarife für Privatpraxen aufstellen wird, bleibt abzuwarten.
Bisher heißt es von der CNS, dass erst ein neues Gesetz kommen muss, damit Gespräche überhaupt stattfinden können. Doch ohne einen Tarif können sich die Ärzte die Anschaffung eines millionenschweren MRT kaum leisten.
Hinzu kommt, dass Ärzte ohne Tarif nichts für die Untersuchung in Rechnung stellen dürfen – abgesehen von den sogenannten CP-Codes. Für den Patienten gibt es dann auch keine Erstattung von der CNS.
Im Umkehrschluss bedeutet dies: Nur wenn die Fachärzte einen Tarif erhalten, können sie auch wirklich mit den Krankenhäusern konkurrieren.
Die Frage nach der Zwei-Klassen-Medizin
Noch-Gesundheitsminister Etienne Schneider (LSAP) steht einer Liberalisierung nicht im Weg. Wie das „Lëtzebuerger Land“ ihn zitiert, kann er sich ein System vorstellen „das für Ärzte, die anderen Berufe und für die Patienten attraktiver wird.“ Dieses könnte dann aber auch „ein bisschen teurer“ werden. Was das genau bedeutet, weiß niemand. Letztlich spielt es auch keine Rolle mehr, denn das Dossier wird ohnehin auf dem Schreibtisch seiner Nachfolgerin Paulette Lenert (LSAP) landen.
Dennoch beschäftigt schon jetzt die Frage einer Zwei-Klassen-Medizin viele Akteure und die Politik. Durch eine Liberalisierung droht sie, wahrscheinlicher zu werden. Renzo Del Fabbro sieht das natürlich anders: „Die Zwei-Klassen-Medizin gibt es bereits.“
Und ganz Unrecht hat er damit nicht. Vor allem im Bereich der Radiologie. Manche Menschen gehen heute bereits für ein MRT ins Ausland. Dort müssen sie zwar mehr zahlen, bekommen aber innerhalb kurzer Zeit einen Termin. Eben, weil sie wie Privatpatienten behandelt werden. Da mag das Luxemburger Versicherungssystem nach außen hin noch so solidarisch sein.
Die lange Untätigkeit der Politik
Klar ist: Die Ärzte drängen mehr denn je auf größere Behandlungsfreiheit. Die Politik versucht dem so gut wie möglich entgegen zu halten. Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen? Es reicht ein Blick in die Vergangenheit.
1993 war es der LSAP-Gesundheitsminister und ehemalige Gewerkschafter Johny Lahure, der die Liste festlegte, welche Apparate ausschließlich in Krankenhäusern genutzt werden dürfen. Es wurde als sozialistische Maßnahme angesehen, um das Monopol der Krankenhäuser zu festigen. Ein solidarisches System, in dem jeder gleich behandelt werden sollte – und das für die Patienten dadurch auch günstiger wurde.
Das lief so lange gut, bis die Wartezeiten in den Krankenhäusern für ein MRT immer länger – und der Frust von Patienten und Ärzten immer größer wurden.
Eine politische Kurzschlussreaktion
Die Politik handelte erst, als es zu spät war: Im Juni 2018 – also kurz vor den Parlamentswahlen – versprach Ministerin Lydia Mutsch den vier großen Luxemburger Krankenhausgruppen je ein zusätzliches MRT-Gerät. Preis pro Apparat: rund eine Million Euro. Viele sprachen von einem Wahlgeschenk.
Zu diesem Zeitpunkt klagte Renzo Del Fabbro bereits gegen die Entscheidung der Gesundheitsministerin für sein MRT-Gerät. Die Politik handelte in letzter Minute. Die Krankenhäuser wurden mit MRT-Geräten aufgestockt – so als wollte die Politik etwas gegen den Willen der Ärzte in der Hand haben.
Renzo Del Fabbro hat das allerdings nicht von seinem Vorhaben abgehalten. Er versteht zwar, dass das System der Krankenhäuser jetzt endlich überprüft werden müsse. Die Sorge um die Zukunft der Krankenhäuser versteht er allerdings nicht: „Wenn wir ein medizinisches Zentrum in Cloche d’Or eröffnen, wird das nicht den geringsten Einfluss auf die Krankenhäuser haben. Dort wird es immer mehr als genug zu tun geben.“