Die Neuordnung des Krankenhauswesens sorgt für Unsicherheit in der Branche. Besonders schwierig ist die Lage im CHEM. Krankenpfleger der Psychiatrie beklagen immer mehr Verwaltungsaufwand und ein schlechtes Arbeitsklima. Die Direktion wehrt sich gegen die Vorwürfe.
Der Beruf erklärt sich eigentlich von selbst: Der Krankenpfleger kümmert sich um den Kranken. Heute ist das allerdings nicht mehr so einfach. Den Job richtig machen, das bedeutet mittlerweile auch die Pflege eines Patienten vollständig und möglichst schnell zu dokumentieren. Auf den administrativen Aspekt legen Krankenhäuser viel Wert – und damit tun sich manche Pfleger schwer.
Pfleger kritisieren insbesondere den intensiven Arbeitsaufwand, den sie für die Dokumentation aufbringen müssen. „Das ist alles innerhalb von acht Stunden gar nicht machbar. Also werden wir vor die Wahl gestellt: Entweder die Dokumentation oder der Patient“, so ein Mitarbeiter des Centre Hospitalier Emile Mayrisch (CHEM) in Esch.
Dass die Pflegedokumentation beim Personal unbeliebt ist, berichten auch Pfleger aus anderen Krankenhäusern. Im CHEM scheinen sich die Probleme rund um diese Arbeitsweise allerdings zuzuspitzen. Mehrere Krankenpfleger der psychiatrischen Abteilung sprechen im Interview mit REPORTER gar von regelrechten Missständen. „Der Patient spielt keine Rolle mehr, es geht nur noch um die Dokumentation. Dabei ist doch gerade in einer psychiatrischen Abteilung der Kontakt zum Patienten so wichtig“, so ein Mitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden will.
Die Dokumentation soll dabei helfen, die individuelle Situation des Patienten zu beschreiben und die Handlungen des Krankenpflegepersonals zu begründen und zu planen. Die auszufüllenden Formulare erweisen sich aber als besonders langwierig: Momentan wird jeder Arbeitsschritt einzeln aufgeschrieben. Das kostet Zeit und ist mühselig.
Interne Kritik ist unerwünscht
REPORTER hat mit vier Personen gesprochen. Sie wollen anonym bleiben, zeichnen aber ein ähnliches Bild: Die Dokumentation würde genutzt, um Druck auf das Personal auszuüben und es zu erpressen. Wer nicht tut, was verlangt wird oder Kritik äußert, der wird vor die Leitung der psychiatrischen Abteilung zitiert – und muss mit Konsequenzen rechnen. Man wird in eine andere Abteilung versetzt, der Schichtplan wird plötzlich umgeschrieben und im schlimmsten Fall droht die Kündigung.
„Wir arbeiten in der psychiatrischen Abteilung mit traumatisierten Menschen. Dabei sind wir selbst traumatisiert“, sagt eine betroffene Person. „Es geht letztlich nur noch um Profit. Aus dem Krankenhaus ist ein Unternehmen geworden.“ Laut den Betroffenen macht die Direktion bei Kritik kurzen Prozess. Wem es nicht gefalle, der solle doch einfach gehen. Ersatz gebe es ohnehin mehr als genug.
Die Situation scheint extrem, die Fronten verhärtet. In einem solchen Ausmaß, dass auch andere Akteure längst von den Interna mitbekommen haben. Öffentlich will sich dazu kaum jemand äußern. Auch wenn mehrere befragte Experten aus dem Gesundheitssektor ein Führungsproblem erkennen, lautet das Credo: Das CHEM soll seine internen Probleme selbst lösen.
Probleme bekannt, Lösungen offen
Chantal Gantrel arbeitet im Escher Krankenhaus und ist Präsidentin der Personaldelegation. Sie bestätigt, dass seit einiger Zeit Probleme in der psychiatrischen Abteilung bestehen. Die Lage sei mittlerweile untersucht und die Gewerkschaft sowie die Klinikleitung in diesen Prozess mit einbezogen worden. Man sei bemüht, mithilfe von Teamcoachings durch externe Experten und Einzelgesprächen mit den Betroffenen, nach Lösungen zu suchen.
Wird die notwendige Zeit für die Dokumentation nicht durch das Management im Tagesablauf vorgesehen, geht das meist auf Kosten des Patienten.“Anne-Marie Hanff, Berufsverband der Krankenpfleger
„Wir wollen die Situation verbessern“, sagt Chantal Gantrel im Gespräch mit REPORTER. „Ich bedauere, dass dieser Prozess so langwierig ist, doch bei einem Team von 60 Leuten ist die Lage komplex.“ Man müsse auf die Bedürfnisse eines jeden eingehen und das erfordere Zeit.
Mittlerweile habe man aber Lösungsvorschläge ausgearbeitet, die dem Team präsentiert werden sollen. Die Personalvertretung hofft, dass diese „zu einer substanziellen Verbesserung der Lage“ in der psychiatrischen Abteilung führen. Details darüber, wie diese ausfallen sollen, kann sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht geben.
Wandel des Krankenhauswesens
Fest steht, dass es in den Krankenhäusern große organisatorische Umwälzungen gibt. Ihr Monopol wird infrage gestellt und einige Bereiche könnten in Zukunft ausgelagert werden. Ärzte fordern zudem mehr therapeutische Freiheit- und damit auch mehr Unabhängigkeit von den großen klinischen Strukturen.
Auch die zunehmende Digitalisierung und das Spitalgesetz von 2018 sorgen für viele Veränderungen. Durch das Gesetz musste das CHEM einen Teilbereich seiner Psychiatrie nach Niederkorn verlegen, damit die vorgegebene Anzahl an Notfallbetten in Esch garantiert ist. Die psychiatrische Abteilung wurde dadurch aufgeteilt.

Dieser Wandel bereitet den Krankenhausleitungen Kopfzerbrechen. Den Wandel spürt aber auch das Personal. Sie merken es vor allem an ihrem Aufgabenbereich, der zunehmend komplexer und umfangreicher wird.
„Vom Personal wird heute viel abverlangt. Es muss vielseitig sein – auch, weil das Gesetz es so vorsieht“, sagt Chantal Gantrel. Das sei nicht für jeden einfach. Man müsse aber versuchen, nach vorne zu schauen und das Beste daraus zu machen.
Direktion verteidigt ihre Strategie
Ähnlich sieht es der CHEM-Generaldirektor Dr. Hansjörg Reimer: „Eine Dokumentation ist heute einfach unerlässlich.“ Sie würde nicht nur dem Krankenhaus, sondern auch der Sicherheit des Patienten dienen – eben, weil anhand der Dokumentation jeder Schritt nachweisbar und nachvollziehbar ist.
Ich kann nicht zulassen, dass Lügen über das CHEM verbreitet werden.“Hansjörg Reimer, CHEM-Generaldirektor
Hansjörg Reimer streitet nicht ab, dass dadurch Druck bei den Mitarbeitern entstanden sei. Richtig sei aber auch, dass nicht jeder gleich gut mit Änderungen umgehen kann. Aber: „Ich kann nicht zulassen, dass Lügen über das CHEM verbreitet werden.“ Im Jahr 2019 kam es zu einem Suizid. Dieser sei von einigen Mitarbeitern dazu genutzt worden, um „gewisse Umstände“ an den Pranger zu stellen. Der Fall habe aber nichts mit der Arbeit zu tun gehabt, behauptet der Direktor. „Gegen Leute, die Fake News verbreiten, sind wir disziplinarisch vorgegangen.“
Der Generaldirektor des CHEM weist auch darauf hin, dass andere Einrichtungen den Wandel besser umgesetzt hätten: „Auch andere Teams und Krankenhäuser mussten sich umstellen – die hatten aber weniger Probleme damit.“ Warum gerade die psychiatrische Abteilung seines Krankenhauses sich damit schwer tut, kann er nicht erklären. „Wenn ich das wüsste, hätte ich es ja verhindern können.“
Mehr Dokumentation, mehr Mittel
Generaldirektor Hansjörg Reimer bestreitet auch nicht, dass die Dokumentation für das Krankenhaus finanziell von Bedeutung ist. „Dadurch, dass wir seit drei bis vier Jahren dokumentieren, konnten wir etwa 50 neue Krankenpfleger einstellen.“ Mehr Geld bedeutet auch mehr Personal – und das würde am Ende das gesamte Team bei seiner Arbeit entlasten.
Seit 1994 gibt es bei der CNS eine Kostenkontrolle für die Krankenhaus-Gruppen. Das Jahresbudget und die Dokumentation sollen der Kasse dabei helfen, die Personalkosten unter Kontrolle zu halten. Wer aber heute mehr dokumentiert – also offiziell mehr arbeitet – der bekommt in Zukunft vielleicht mehr Budget für mehr Arbeitskräfte. Damit wird die Arbeit der Pfleger zunehmend an die Anforderungen des Abrechnungssystems gekoppelt.
„Die Dokumentation hat mittlerweile einen negativen Beigeschmack“, sagt Anne-Marie Hanff vom Berufsverband der Krankenpfleger ANIL im Gespräch mit REPORTER. „Sie verlangt den Krankenpflegern einiges an Zeit und Energie ab. Wird die notwendige Zeit hierfür nicht durch das Management im Tagesablauf vorgesehen, geht das meist auf Kosten des Patienten.“
„Aus internationalen Studien wissen wir, dass Pflegende bei Zeitdruck der Dokumentation die geringste Priorität zuschreiben. Dies ist verständlich, wird hierdurch die Pflegequalität eher indirekt beeinflusst“, so die ANIL-Präsidentin.
Arbeitsabläufe sind noch optimierbar
Der Conseil Supérieur de Certaines Professions de Santé (CSCPS) will sich nicht zur Lage im CHEM äußern. Man weiß aber, dass die Dokumentation einen höheren Arbeitsaufwand für die Pfleger bedeutet. Wie es in einem Artikel des „Lëtzebuerger Land“ heißt, verbringen Pfleger etwa ein Drittel ihrer Arbeitszeit damit.
Brigitte Schmitz, Vizepräsidentin des Conseil Supérieur sagt, dass das Programm den Krankenpflegern aber auch etwas gebracht hat – nämlich mehr Professionalismus. „Die Arbeit des Pflegers war früher praktisch unsichtbar“, sagt sie. „Durch das neue System wird sie endlich gesehen.“ Damit sei der Pfleger nicht mehr nur eine Art Befehlsempfänger des Arztes. Es kommt zum Vorschein, dass auch er eine spezifische und wichtige Rolle innerhalb des Krankenhauses einnimmt.
An der Umsetzung der Dokumentation muss aber noch gearbeitet werden. So, dass ein Krankenpfleger nicht mehr zwischen administrativer Arbeit und Patient wählen muss. So, dass die Dokumentation nicht erst nach Schichtende eingetragen wird, weil davor keine Zeit war und das Personal dadurch Überstunden machen muss.
Der ewige Kampf um das Budget
An der Pflegedokumentation führt aber kein Weg vorbei. Vereinfachte Dokumentationsprozesse sind dabei möglich. So wäre es beispielsweise möglich, für bestimmte Krankheitsbilder oder Prozeduren Pflegestandards festzulegen und deren Anwendung zu dokumentieren. So zumindest der Vorschlag von CSCPS-Vizepräsidentin Brigitte Schmitz. „Wenn es festgelegte Module gäbe, müsste der Pfleger nicht immer wieder aufs Neue jeden Schritt einzeln eintragen.“
Das würde die Verwaltungsvorgänge wesentlich vereinfachen. Vereinheitlichte Pflegeprozeduren für alle Krankenhausgruppen könnten aber durch die CNS-Finanzierung für Probleme sorgen. Denn immerhin will am Ende doch jedes Krankenhaus das größte Budget für sich herausschlagen. Und das gelingt nur mit einer möglichst aufwendigen Dokumentation.
Letztlich liegt die Verantwortung bei den Krankenhäusern selbst. Die Direktionen müssen gemeinsam mit dem Personal dafür sorgen, dass eine ausführliche Dokumentation nicht auf Kosten des Patienten geht. Lösungsansätze liegen bereits auf dem Tisch.
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