Suizide sind ein Tabuthema unserer Gesellschaft. Zusätzlich erschwert wird der Umgang damit, wenn die Selbsttötung am Arbeitsplatz stattfindet. Psychologen raten betroffenen Unternehmen zur Aufarbeitung des Geschehenen – und bieten gezielte fachliche Unterstützung an.

Die Kollegin von Isabelle W.* sollte letztes Jahr gegen ihren Willen in eine andere Abteilung versetzt werden. Einen Tag davor nahm sie sich das Leben. „Sie hat gelitten – das hat man gespürt. Und dieses Leiden hatte viel mit der Arbeit zu tun“, sagt Isabelle W.

Die Arbeitsbedingungen hätten sich für die Mitarbeiter seit Monaten verschlechtert, berichtet Isabelle W., die im Gesundheitsbereich tätig ist. Psychologischer Druck der Chefetage bei gleichzeitig geringer persönlicher Entscheidungsfreiheit hätten bei allen für Stress, Unbehagen und Verzweiflung gesorgt. Ihre Kollegin sei schließlich daran zerbrochen.

Unterschiedliche Ursachen und Auslöser

Die geschilderte Geschichte der Kollegin von Isabelle W. ist jedoch kein Einzelfall. Auch in Luxemburg kam es in den vergangenen Jahren zu Suiziden am Arbeitsplatz. Laut Experten kann eine solche Selbsttötung auf besondere Umstände hindeuten. Der Suizid findet im öffentlichen Raum statt, also dort, wo man einen Großteil seines Alltags verbringt. Wer sich dort das Leben nimmt, der will womöglich ein Zeichen setzen – sei es aus Angst oder Verzweiflung.

Es ist eine natürliche Strategie, nicht über einen Suizid sprechen zu wollen. Es ist aber nicht die beste.“Fränz D’Onghia, Psychologe

„Am Arbeitsplatz ist die Resonanz natürlich eine ganz andere, als wenn man einen zurückgelegenen Ort wählt“, sagt Dr. Fränz D’Onghia von der Vereinigung „Ligue Luxembourgeoise d’Hygiène Mentale“. Der Psychologe betont jedoch, dass ein Suizid am Arbeitsplatz nicht immer oder ausschließlich mit der Arbeit zu tun haben muss. „Die Auslöser sind meist multifaktoriell“, so der Psychologe. „Als Grundlage gilt in der Regel immer ein sehr hohes Stresslevel.“

Zudem liegt das Risiko, am Arbeitsplatz an einer Depression zu erkranken, in Luxemburg bei 21,4 Prozent. Das Großherzogtum liegt hier im europäischen Vergleich auf Platz sieben von insgesamt 35 Ländern. Suizidgedanken gelten laut der Forschung wiederum als häufiges Symptom bei Depressionen.

Stressbewältigung und private Belastungen

Der Beruf kann dagegen auch ein Schutzfaktor bei Suizidgedanken sein. Menschen, die keine Arbeit haben, sind einem höheren Risiko ausgesetzt, sich das Leben zu nehmen als Berufstätige. Denn Arbeitslosigkeit führt zu einer Verringerung sozialer Kontakte, zu einem Gefühl der Einsamkeit und vielleicht gar zu einer Depression.

Sterblichkeit durch Suizid leicht gesunken

Die Zahl der Suizidtoten in Luxemburg lag 2017 bei 66, ein Jahr zuvor bei 61. Zwischen 2010 und 2015 lag die Zahl noch bei durchschnittlich 80 pro Jahr. Die meisten betroffenen Menschen waren zwischen 35 und 59 Jahre alt. Mit etwa zwölf Fällen pro 100.000 Menschen liegt der Wert in Luxemburg unter dem europäischen Durchschnitt. Wie viele Suizide im Zusammenhang mit der Arbeit stehen, geht nicht aus den Statistiken hervor.

In Frankreich wurde etwa festgestellt, dass bei einer Steigerung der Arbeitslosenquote um zehn Prozent auch die Suizidquote um 1,5 Prozent steigt. „Man schaut natürlich besonders auf diese Fälle, bei denen sich Menschen am Arbeitsplatz das Leben nehmen“, sagt Fränz D’Onghia im Gespräch mit REPORTER. „Man könnte aber auch andersherum fragen, warum andere im gleichen Berufsfeld keinen Suizid begehen.“

Es seien meist persönliche Faktoren, die auch eine Rolle spielen, so der Experte. Kommen zur Verzweiflung im Beruf etwa noch private Sorgen hinzu, finanzielle Probleme, eine erhöhte Sensibilität oder Mobbing, können Menschen an den Umständen zerbrechen.

Auch scheint in manchen Branchen die Situation akuter und der Level an Stress und Belastung höher zu sein als in anderen. Viele Berufe sind im Wandel, die Zukunft im Job ungewiss, neue Technologien werden eingeführt und Arbeitnehmer wie Arbeitgeber stehen unter Druck.

„France Télécom“ als mahnendes Beispiel

In einer Frage sind sich psychologische Berater einig: Ein Suizid am Arbeitsplatz sollte von der Chefetage immer ernst genommen werden – auch wenn gegebenenfalls persönliche Gründe mitwirkten. Doch um offen über Probleme, Sorgen oder vielleicht sogar Missstände zu sprechen, muss ein Unternehmen ein gewisses Selbstbewusstsein an den Tag legen. Die Herausforderung, sich selbst infrage zu stellen, ist keine einfache.

Nur so kann sich eine vielleicht schwierige Situation für die Mitarbeiter langfristig bessern und ein Nachahmungseffekt verhindert werden. Als mahnendes Beispiel gelten dabei die Vorkommnisse bei France Télécom: Dort haben sich in den Jahren 2008 und 2009 etwa 35 Mitarbeiter das Leben genommen. Der Fall landete 2019 schließlich vor Gericht. Drei Ex-Chefs wurden zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt.

Zu den Gründen hieß es im Urteil, dass anhand toxischer Methoden Stellen drastisch abgebaut wurden. Es habe ein „Management par la terreur“ geherrscht. Die Firmenchefs hätten den Plan verfolgt, die Arbeitsbedingungen absichtlich zu verschlechtern und das Ausscheiden von Mitarbeitern zu beschleunigen. Sie wurden wegen „systematischen Mobbings“ verurteilt.

Unternehmen stehen in der Verantwortung

Damit es erst gar nicht zu solchen Situationen kommt, beschäftigt sich Claudine Schmitt und das Team von „Wellbeing at Work“ mit präventiven Maßnahmen gegen Mobbing, Burn-Out oder Stress. Sie erstellen unabhängige Gutachten in Firmen, bieten Beratung und Leadership-Coachings an sowie Workshops zur Sensibilisierung – wenn die Betriebe das denn auch wollen.

Oft werden die Mitarbeiter vernachlässigt, denen es vielleicht auch nicht gut geht. Auch sie müssen betreut werden.“

Fränz D’Onghia, Psychologe

Claudine Schmitt sagt, dass nur wenige Betriebe sich eingestehen, dass interne Probleme bestehen: „Wir sind noch weit davon entfernt, dass wir zugeben, wenn etwas nicht gut läuft. Wenn Probleme bestehen, müsste ein Betrieb eigentlich ein umfangreiches „Check Up“ machen, um herauszufinden was die Ursache des Leidens ist.“ Dazu seien aber nur wenige bereit. Stattdessen würden Schwierigkeiten oft verharmlost – so wie das Leid der Betroffenen.

Eine Aufarbeitung auf freiwilliger Basis

„Es ist eine natürliche Strategie, nicht über einen Suizid sprechen zu wollen“, sagt auch Fränz D’Onghia. „Es ist aber nicht die beste. Denn wenn man nicht kommuniziert, verliert man die Kontrolle. Es entstehen Gerüchte und die sind nur noch schwer zu korrigieren, wenn sie erst einmal im Umlauf sind.“ Seiner Meinung nach muss ein solcher Fall aufgeklärt werden – und zwar richtig und transparent.

Bei der Aufarbeitung eines Suizids sollten deshalb die Arbeitskollegen nicht außen vor gelassen werden. Fränz D’Onghia hat schon Betriebe nach einem Suizid begleitet und beraten. „Die Menschen müssen bei ihrer Trauerverarbeitung richtig betreut werden“, so der Experte.

Betroffen sind aber längst nicht nur die Mitarbeiter, die eine persönliche Beziehung zur Person hatten. „Oft werden die Mitarbeiter vernachlässigt, denen es vielleicht auch nicht gut geht“, so der Experte. „Auch sie müssen betreut werden.“ Außerdem müsse man sich besonders um das Sicherheits- oder Reinigungspersonal kümmern, denn oft sind sie es, die eine Person nach einem Suizid finden.

Ein Prozess zur Aufarbeitung soll zwar vom Unternehmen unterstützt werden – er darf aber nicht aufgezwungen und schon gar nicht kontrolliert werden. „Das muss auf freiwilliger Basis passieren“, sagt Fränz D’Onghia.

„Eine große Hilfe für die Hinterbliebenen“

Wie wichtig eine richtige Aufarbeitung eigentlich wäre, weiß auch der ehemalige Präsident von Amnesty International Luxembourg, David Pereira. Er hat im vergangenen November eine Petition im Parlament eingereicht und fordert, dass ein Suizid mit Bezug zum Arbeitsplatz als Arbeitsunfall anerkannt werden soll.

Er handelte aus seiner Beobachtung des Arbeitsklimas in Unternehmen – aber auch aus einer persönlichen Situation heraus. Eine Person aus dem familiären Umfeld hatte sich das Leben genommen. Wie aus einem hinterlassenen Brief hervorging, habe die Entscheidung auch mit den Arbeitsbedingungen zu tun gehabt, sagt David Pereira. Zu viel Verantwortung für die berufliche Position, zu viel Druck und Stress.

Ein Gesetz würde laut David Pereira nicht nur dem Thema an sich mehr Sichtbarkeit geben, es würde auch eine detaillierte, neutrale und objektive Aufarbeitung der Fälle ermöglichen. Dafür bräuchte es allerdings externe Experten, die die Umstände in den Unternehmen prüfen. „Das wäre eine große Hilfe für die Hinterbliebenen und für die Mitarbeiter des Unternehmens.“ Aus Selbstschutz würden viele Arbeitgeber sich aber der Verantwortung einer transparenten Aufarbeitung entziehen.

Die nötigen 4.500 Stimmen hat David Pereiras Petition nicht erhalten. Am Ende waren es 235. Trotzdem sei es eine gute Möglichkeit gewesen, auf das Tabuthema aufmerksam zu machen, sagt David Pereira. „Ein Management muss lernen, wie man mit Menschen umgeht.“

* Name von der Redaktion geändert


Wer Suizidgedanken hat, sollte sich Hilfe suchen – sei es bei einer vertrauten Person, bei einem Psychologen oder bei einer Hilfestelle wie SOS Détresse (Telefonnummer: +352 454545). Weitere Informationen gibt es auch auf dieser Webseite.