Die Regierung erhöht den Druck auf die Ungeimpften. Damit bleibt sie zwar ihrer bisherigen Krisenstrategie treu. Gleichzeitig beschwört sie aber eine tiefere Spaltung der Gesellschaft herauf, die letztlich dem Ziel der Pandemiebewältigung zuwiderläuft. Ein Kommentar.
„Es ist nicht mehr vertretbar, dass die Allgemeinheit bezahlt, weil eine Minderheit sich nicht impfen lassen will.“ Es ist ein Satz, der aufhorchen lässt. Er stammt von Premierminister Xavier Bettel (DP), der damit die Entscheidung seiner Regierung rechtfertigen wollte, dass PCR-Tests künftig nicht mehr kostenlos angeboten werden sollen. Das starke Statement soll offensichtlich den Druck auf alle Menschen erhöhen, die noch nicht gegen das Coronavirus geimpft wurden. Das Machtwort des Premiers ist aber auch problematisch, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
Zunächst zementieren die Worte eine ohnehin schon spürbare Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Von Beginn der Pandemie an gibt es einen nicht unwesentlichen Anteil der Bevölkerung, der mit der Krisenpolitik nicht einverstanden ist. Das ist auch normal, denn keine Politik, sei sie noch so richtig und werde sie noch so alternativlos dargestellt, wird jemals 100 Prozent der Bürgerinnen und Bürger hinter sich versammeln.
In der aktuellen Phase der Pandemie kommen aber noch jene Menschen hinzu, die sich aus ganz anderen Gründen nicht impfen lassen wollen; die sich bisher vielleicht an den Anstrengungen zur Eindämmung des Virus beteiligt haben, aber diesen Schritt – aus welchen Gründen auch immer – nicht ohne Weiteres mitgehen wollen. Manche von ihnen sind wohl ohnehin nicht mehr zu überzeugen. Andere werden sich wegen des steigenden gesellschaftlichen Drucks in Zukunft vielleicht noch umentscheiden. Wiederum andere werden wohl eher in ihrer kritischen Einschätzung und ihrem Widerstand gegen den zunehmenden Impfdruck bestärkt.
Besser überzeugen statt Schuld zuweisen
Das starke Statement, in dem die „Allgemeinheit“ einer „Minderheit“ gegenüber gestellt wird, könnte am Ende also den gegenteiligen Effekt haben, den sich der Regierungschef wohl davon erhoffte. Dabei zeigen weitere Äußerungen von Xavier Bettel in der gleichen Pressekonferenz, dass es auch anders geht. „Denken Sie an sich, an Ihre Gesundheit. Aber denken Sie auch an die anderen Menschen, an alle, die Ihnen wichtig sind“, richtete der Premier seinen „warmen Appell“ an alle Unentschlossenen.
Es sei noch nie so einfach gewesen wie heute, eine Impfdosis zu erhalten, so Bettel weiter, der den Menschen alle diesbezüglichen Möglichkeiten nochmals wärmstens ans Herz legte. All jenen, die sich dennoch Sorgen vor eventuellen Nebenwirkungen der Impfungen machen, riet der Premier zu einem aufklärenden Gespräch mit ihrem Hausarzt. „Hier kann sich jeder über seine Fragen, Zweifel und Ängste austauschen, bevor man eine Impfung erhält.“
Bisher beschränkte sich die Überzeugungsarbeit der Regierung auf ein halbherziges ‚Lasst euch impfen, weil es wichtig ist‘. Das reicht als Argumentation aber offensichtlich nicht aus.“
An dieser Stelle wird deutlich, dass auch die Regierung eine Verantwortung für die immer noch suboptimale Impfquote im Land trägt. Denn dieser Diskurs, also der ernsthafte Versuch, die Menschen mit rationalen Argumenten zu überzeugen, kam in den vergangenen Wochen und Monaten definitiv zu kurz. Bisher beschränkte sich die Überzeugungsarbeit der Regierung auf ein halbherziges „Lasst euch impfen, weil es wichtig ist“. Das reicht als Argumentation aber offensichtlich nicht aus.
Ebenso ist die staatliche Kampagne in dieser Hinsicht noch immer ausbaufähig. Es gab zwar immer wieder öffentliche Aufrufe und per Post verschickte Broschüren, Fotos und Videoclips in den sozialen Medien, die sicher einen Großteil der Bevölkerung erreichten. Doch spätestens ab dem Moment, in dem man merkt, dass nicht so viele Leute auf die Kampagne ansprechen, wie erhofft, sollte man die Anstrengungen steigern. Das gilt weniger für die Form als für die Substanz der Botschaft. Denn ein nettes Selfie mit dem „Geimpft“-Pflaster ist an sich noch kein Argument, mit dem man Impfskeptiker überzeugen könnte.
Herdenimmunität kein abstraktes Konzept
Warum sollte sich jemand impfen lassen, der dies bisher trotz allen Appellen und Angeboten nicht getan hat? Die Beantwortung dieser Frage sollte im Vordergrund der politischen Bemühungen stehen. Ob ein kostenpflichtiger PCR-Test die Meinung eines erwachsenen Menschen grundlegend ändern kann, sei dahin gestellt. Gleiches gilt für die Annahme, dass sich die immer wieder betonte Alternativlosigkeit der Krisenpolitik jedem Bürger und jeder Bürgerin auf Anhieb oder selbst nach einer knapp eineinhalb Jahre dauernden Pandemie erschließt. Wenn die Impfung so fundamental wichtig für die Erreichung ihrer politischen Ziele ist, dann muss sich die Regierung schon etwas mehr anstrengen.
Jene, die sich am meisten gegen die sanitären Auflagen und staatlichen Empfehlungen wehren, sind letztlich am verantwortlichsten dafür, dass die Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit beibehalten werden.“
Das gilt vor allem für die längerfristige Perspektive der Impfstrategie. Nur wer sich impfen lässt, kann sich selbst und andere gegen die Verbreitung des Virus wirksam schützen, heißt das erste und naheliegendste Argument der Impfbefürworter. Doch hinzu kommt: Nur wer sich impfen lässt, trägt dazu bei, dass diese Pandemie irgendwann einmal enden oder zumindest nicht mehr den Alltag der Menschen bestimmen kann.
Im Umkehrschluss heißt das natürlich: Wer sich einer Impfung verweigert, trägt notgedrungen dazu bei, dass die sanitäre Krise und damit die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung andauern. Es ist eines der großen Paradoxe dieser Pandemie: Jene, die sich am meisten gegen die sanitären Auflagen und staatlichen Empfehlungen wehren, sind letztlich am verantwortlichsten dafür, dass die Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit beibehalten werden.
Doch das ultimative Pro-Impfung-Argument wird bisher noch unterschätzt bzw. eher abstrakt behandelt. Konkret geht es aber darum, dass man bei einer höheren Impfquote die ganze Pandemie inklusive Einschränkungen der Handlungsfreiheit der Menschen hinter sich lassen kann. „Man kann sich da schon rausimpfen“, drückte es jüngst der deutsche Virologe Christian Drosten im NDR-Podcast „Coronavirus-Update“ aus. „Die Impfung ist der beste Weg zurück in die Normalität“, lautet Xavier Bettels Variante der gleichen Aussage.
Zwischen Rausimpfen und Durchseuchen
Der Nachdruck, mit dem die Politik das Volk dahingehend überreden will, ist also nachvollziehbar. Denn in der Logik der bisherigen Pandemiebekämpfung ist die Impfung in der Tat der einzige Weg. Eine natürliche „Durchseuchung“, also per Ansteckung statt Impfung, wäre mit zu vielen Risiken verbunden. Das gilt auch heute noch, obwohl die große Mehrheit der älteren und vulnerablen Bevölkerung durchgeimpft ist. Solange eine höhere Inzidenz sich auf die Belegung der Intensivstationen des Landes auswirken kann, ist das Ziel noch nicht erreicht.
Was man aber auch konstatieren muss: Bisher hält sich der Erfolg dieser Strategie in Luxemburg noch immer in Grenzen. Knapp zwei Drittel der erwachsenen Einwohner haben mittlerweile den vollen Immunschutz, 74 Prozent wurden mindestens einmal geimpft. Laut gängiger epidemiologischer Meinung reicht diese Quote bei weitem nicht aus, um in naher Zukunft die sogenannte Herdenimmunität gegen das Coronavirus zu erreichen.
Wenn die Impfung so fundamental wichtig für die Erreichung ihrer politischen Ziele ist, dann muss sich die Regierung in diesem Punkt schon etwas mehr anstrengen.“
Dabei sind einzelne Länder und Regionen, etwa das Vereinigte Königreich, schon weiter. Die Zahlen in England, Nordirland, Schottland und Wales zeigen, dass die Kombination aus einer hohen Impfquote und der Anzahl von Genesenen die Länder nah an die magische Grenze der kollektiven Immunität bringt. Die britische Regierung geht heute davon aus, dass deutlich über 90 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Antikörper gegen Sars-CoV-2 aufweist.
Allerdings gehört zur Wahrheit, dass diese Situation in Großbritannien einen hohen Preis hatte, da dort verhältnismäßig viele Menschen an den Folgen von Covid-19 gestorben sind. Besonders England verfolgte am Anfang der Pandemie, ähnlich wie Schweden, eine Strategie der „Durchseuchung“ seiner Bevölkerung. Es ist ein weiteres grundlegendes Paradox dieser Pandemie: Eben weil man alles daran setzt, die Verbreitung des Virus und Todesopfer zu vermeiden, wird der Kampf gegen die Pandemie in die Länge gezogen.
Kein leichter Ausweg aus der Krise
„Da könnte man zumindest, wenn man jetzt die Kinder mal ignorieren wollte, selbst bei der Delta-Variante von einer Herdenimmunität sprechen“, kommentierte übrigens auch der Virologe Christian Drosten die Situation in Großbritannien. Mittlerweile sind aber die meisten Staaten in einer Lage, in der die Kinder nicht länger „ignoriert“ werden können. Selbst wenn die erwachsene Bevölkerung Immunisierungsquoten von über 90 Prozent aufweist, ist damit noch nicht die gesamte Bevölkerung geschützt. Und damit wird auch das ultimative Ziel der Strategie weiter verfehlt.
Das zeigt sich etwa in manchen US-Bundesstaaten, in denen die Zahlen von hospitalisierten Kindern merklich steigen. Die Gründe liegen auf der Hand: Wegen der aggressiveren Deltavariante und dem Fakt, dass Kinder unter zwölf Jahren noch nicht für eine Impfung in Frage kommen, steigt für diese Bevölkerungsgruppe das Infektions- und Krankheitsrisiko. Gleiches gilt natürlich für alle anderen Menschen, die noch nicht geimpft wurden, deren Anzahl alleine ausreicht, dass manche Krankenhäuser in den USA wieder in den Krisenmodus schalten müssen.
Eine ‚Durchseuchung auf eigene Gefahr‘ ist immer noch keine Alternative. Zumindest nicht für jene, die die Gefahren, die von diesem Virus ausgehen, nach wie vor begrenzen wollen.“
Erschwert wird die Lage dadurch, dass eine Impfung zwar vor einer schweren Covid-Erkrankung, aber nicht vergleichbar vor einer Ansteckung mit dem Virus schützt. Diese Tatsache führt sogar dazu, dass manche Experten davon ausgehen, dass das klassische Konzept der Herdenimmunität nicht auf die Covid-19-Pandemie anwendbar sei. Da sich auch Geimpfte weiter mit dem Virus anstecken können, könne selbst eine hohe Impfquote die Verbreitung des Virus nicht stoppen, so die Argumentation.
Stoppen ließen sich allerdings die schweren Krankheitsverläufe und damit die Folgen für die Gesundheitssysteme. Und genau das ist der letztlich entscheidende Faktor in der Pandemiebekämpfung, wie auch Premierminister Xavier Bettel und Gesundheitsministerin Paulette Lenert vergangene Woche noch einmal betonten. Angesichts der unzureichenden Luxemburger Impfquote ist ein Ausweg aus der Krise aber immer noch nicht in Sicht.
Eine „Durchseuchung auf eigene Gefahr“ ist dabei immer noch keine Alternative. Zumindest nicht für jene, die die Gefahren, die von diesem Virus ausgehen, nach wie vor begrenzen wollen. Die Impfskeptiker sollten sich also zur Sicherheit auf weitere Umstimmungsversuche und spontane Schuldzuweisungen seitens der Politik einstellen. Spätestens bei der erwartbaren Kontroverse über die Impfung bei Kindern darf die Regierung dann aber die Qualität ihrer Überzeugungsarbeit erneut unter Beweis stellen.


