Die anstehende Öffnung der Terrassen ist ein erster Schritt zurück zu Normalität. Experten sind sich einig: Sars-Cov-2 wird uns erhalten bleiben. Selbst eine erfolgreiche Impfkampagne wird für eine Ausrottung vermutlich nicht reichen. Doch das Virus wird beherrschbar.
Im Oktober 1889 wurde plötzlich ein Großteil der Bevölkerung von Sankt-Petersburg krank. Die Menschen litten an Husten, Fieber und Gliederschmerzen. Zwei Monate später schossen die Todeszahlen in der damaligen russischen Hauptstadt in die Höhe. Das Virus breitete sich binnen weniger Monate weltweit aus und wurde von den Zeitungen als „Russische Grippe“ bezeichnet. Bis 1895 schlug sie in mehreren Wellen zu und forderte etwa eine Million Opfer. Lange Zeit galt sie als zweitgrößte Influenzapandemie, nur die sogenannte „Spanische Grippe“ forderte knapp dreißig Jahre später mehr Tote.
Seit mehreren Jahren zweifeln Forscher daran, dass tatsächlich ein Influenza-Virus die Pandemie Ende des 19. Jahrhunderts ausgelöst hat. Im Verdacht steht nun ein Virus eines anderen Typs. Es könnte sich um ein Coronavirus handeln, das somit aus der gleichen Familie stammt wie Sars-Cov-2. Auch die üblichen Erkältungskrankheiten im Herbst und Winter können durch eines von vier saisonal wiederkehrenden Coronaviren ausgelöst werden. Diese gelten für den Großteil der Bevölkerung als harmlos, könnten allerdings in der Vergangenheit für tödliche Ausbrüche verantwortlich gewesen sein.
Sollte sich diese Hypothese bestätigen, könnte sich die Geschichte nun mit Sars-Cov-2 wiederholen. Zukünftig könnte sich das tödliche Virus in ein alltägliches Erkältungsvirus verwandeln.
Das russische Coronavirus
„Die OC43- und 229E-Coronaviren wurden lange stiefmütterlich behandelt“, sagte Marc Van Ranst im „New Scientist“. Hinter den beiden sperrigen Codenamen verstecken sich zwei der vier bei Menschen vorkommenden Coronaviren. Der belgische Virologe gehört zu den Forschern, die 2003 das Coronavirus OC43 erstmals sequenziert haben. Das Team stellte fest, dass das Virus vermutlich um 1890 von Tieren auf Menschen übergesprungen ist. Also etwa zum gleichen Zeitpunkt wie der Ausbruch der „Russischen Grippe“.
Zudem griff das damalige Virus unter anderem das Nervensystem an. Die Betroffenen berichteten auch nach den Erkrankungen von Schlafstörungen, gekoppelt mit einer ständigen Müdigkeit. Auch bei den Opfern gibt es Parallelen zur aktuellen Pandemie: Demnach war die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verlaufs der Krankheit bei älteren Menschen weitaus größer als bei jüngeren.
Nach fünf Jahren galt die Pandemie als beendet, vermutlich bestand das Virus allerdings weiter. „Das stimmt mich sehr optimistisch. Das Virus forderte damals Tausende Opfer und jetzt ist es nur noch ein Schnupfen, den wir bereits als Kinder kriegen“, sagt Jennie Lavine im Podcast von „Fivethirtyeight“. Die Wissenschaftlerin der „Emory University“ rechnet damit, dass auch Sars-Cov-2 dieser Entwicklung folgt. Dafür müsste die Impfkampagne sich allerdings deutlich beschleunigen.
Auf dem langen Weg zur Herdenimmunität
Erst wenn ausreichend Menschen eine Immunantwort gegen das Virus entwickelt haben, kann es sich nicht mehr weiter ausbreiten. Trifft ein Infizierter auf eine Gruppe von Menschen, von denen eine große Mehrheit bereits infiziert war oder geimpft ist, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung. Durch die entstandene Herdenimmunität sind somit auch Nichtgeimpfte indirekt geschützt.
Wir rechneten eingangs nicht damit, dass ein Coronavirus mit dieser Geschwindigkeit mutieren würde.“Joël Mossong, Epidemiologe
Um diesen Zustand zu erreichen, müssen vermutlich mehr als 70 Prozent der Bevölkerung geimpft werden. Allerdings äußerte der Luxemburger Epidemiologe Joël Mossong Bedenken, ob dieses Ziel erreicht werden kann. „Im Falle der Impfungen und nach überstandener Krankheit bräuchte man hierzu eine sogenannte ’sterile Immunität‘ – die bewirkt, dass Geimpfte andere nicht mehr anstecken können. Zwar gibt es vielversprechende Ergebnisse, dass Impfstoffe die Wahrscheinlichkeit der Transmission senken. Aber um wie viel Prozent ist noch nicht sicher geklärt“, sagte er in einem Interview mit „science.lu“.
Es ist nur einer der Gründe für berechtigte Zweifel an der Herdenimmunität. Da es zurzeit noch keine Impfung für Kinder gibt, können somit 17 Prozent der Bevölkerung nicht immunisiert werden. Die Bereitschaft sich impfen zu lassen, muss in der Restbevölkerung also umso größer sein. Nur so erreiche man den Schwellenwert der Herdenimmunität, so Joël Mossong. Neue Varianten des Sars-Cov-2 könnten die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung erhöhen, was wiederum eine höhere Impfbereitschaft erfordert.
Die Rolle des globalen Südens
Diese Varianten könnten die Bemühungen um eine Auslöschung des Virus untergraben. Die üblichen Impfungen könnten eine geringere Effizienz gegen sogenannte Fluchtmutationen aufweisen. „In Afrika haben wir zurzeit ein riesiges Reservoir, in dem wir nicht wissen, wie stark das Virus sich verbreitet“, sagt Joël Mossong im Gespräch mit Reporter.lu.
Erst kürzlich hätten sich Reisende in Tansania mit einer neuen Variante infiziert, die weitaus mehr Mutationen aufweise als die südafrikanische Variante, so der Epidemiologe des Gesundheitsministeriums.
Um dies zu verhindern, müsste die Inzidenz fallen, um dadurch weniger Möglichkeiten für Mutationen zu schaffen. Gleichzeitig müsste schnellstmöglich ein Großteil der Weltbevölkerung geimpft werden. Es wäre eine Mammutaufgabe, die angesichts der aktuellen Kapazitäten für die Herstellung des Impfstoffes und dem in den meisten Ländern fehlenden politischen Willen, die Maßnahmen zu verschärfen, unmöglich scheint.
Hygienemaßnahmen weiterhin nötig
Was passieren könnte, wenn zu früh gelockert wird, veranschaulicht eine erst kürzlich im Fachjournal „The Lancet Infectious Diseases“ veröffentlichte Studie. Wenn alle Maßnahmen rückgängig gemacht würden, würde selbst bei einem 85-prozentigen Impfschutz und einer Impfbereitschaft von über 75 Prozent der R-Wert auf 1,58 steigen, so die Schlussfolgerung der Forscher.
Demnach ist der Zeitpunkt für Lockerungen für den Pandemieverlauf ausschlaggebend. Basierend auf britischen Daten berechnen die Autoren, wie groß der Einfluss einer frühzeitigen Lockerung ist. Selbst im optimistischsten Szenario würde eine Lockerung im April zu etwa 60.000 Toten in Großbritannien führen. Laut der Modellrechnung hätte zu diesem Zeitpunkt bereits die Gesamtbevölkerung eine erste Dosis erhalten und fast die komplette über 80-jährige Population die zweite Dosis.
Die Forscher rechnen deshalb damit, dass die Impfung allein nicht ausreichen wird, das Virus unter Kontrolle zu bekommen. „Niedrige Infektionszahlen sind wahrscheinlich der Schlüssel zum Erfolg der Test-, Rückverfolgungs- und Isolierungsstrategie und würden das Risiko einer Fluchtmutante verringern“, schreiben die Wissenschaftler. Eine Ausrottung einzig über den Weg der Impfung gilt als unwahrscheinlich.
Kurzlebige Immunität
Immer weniger Wissenschaftler rechnen deshalb damit, dass das Virus ausgerottet werden kann. Tatsächlich ist es der Menschheit bis jetzt nur einmal gelungen, mit einem Impfstoff die Ausbreitung eines Virus vollständig zu beenden. 1980 hat die Weltgesundheitsorganisation die Welt als pockenfrei erklärt.
Allerdings war die Ausgangslage weitaus besser. „Die Symptome von Pocken waren sehr leicht erkennbar und die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung weitaus geringer als bei respiratorischen Viren“, erklärt Joël Mossong. Zudem erwies sich der Impfstoff als äußerst wirksam und bot einen lebenslangen Schutz.
Für die Sars-Cov-2-Impfstoffe muss sich dies noch zeigen. „Wenn ich eine Zahl benennen müsste, würde ich sagen, dass man mindestens drei Jahre immun ist“, sagte Markus Ollert des „Luxembourg Institute of Health“ (LIH) vor einer Woche im Gespräch mit dem „Luxemburger Wort“. Da es sich um die ersten Impfstoffe gegen ein Coronavirus handelt, ist dies jedoch nur eine Schätzung. „Wir rechneten eingangs nicht damit, dass ein Coronavirus mit dieser Geschwindigkeit mutieren würde. Ich glaube deshalb, dass wir wohl periodisch den Impfstoff anpassen müssen, so wie wir das auch für die Grippeimpfung machen“, erklärt Joël Mossong.
Von der Pandemie zur Endemie
Solange jedoch nicht ausreichend Menschen eine Immunantwort entwickelt haben, verbreitet sich das Virus konstant, aber nicht mehr explosionsartig. „Sars-Cov-2 wäre dann endemisch. Sprich, es könnte das fünfte saisonal wiederkehrende Coronavirus werden“, erklärt Joël Mossong. Je nach Tempo der Impfkampagne könnte dies allerdings noch Jahre dauern. Ein endemisches Virus würde bedeuten, dass die Fallzahlen von Jahr zu Jahr nur leicht schwanken würden. In verschiedenen Jahreszeiten sind die Bedingungen für eine Übertragung besser, so dass die Infektionen in den Wintermonaten vermutlich steigen würden, wie es etwa bei der Grippe der Fall ist.
Der Krankheitsverlauf könnte allerdings milder ausfallen. „Ein Virus hat aus einer evolutionären Sicht die Tendenz, weniger virulent zu werden, um sich besser ausbreiten zu können“, so Joël Mossong. Zurzeit geht es hingegen in die andere Richtung. „Die Sterblichkeitsrate und die Infektiosität der britischen Variante sind etwa 60 Prozent höher. Zudem ist das Virus kaum einem evolutionären Druck ausgesetzt, da es ausreichend Menschen gibt, die noch nicht infiziert wurden“, sagt Joël Mossong.
Langfristig rechnen die Forscher damit, dass sich nach der Impfkampagne hauptsächlich Kinder mit dem Virus infizieren könnten. Die entstandene Immunantwort könnte sie dann vor schweren Krankheitsverläufen im Erwachsenenalter schützen. Offen bleibt, ab wann dies der Fall sein wird.
Lesen Sie mehr zum Thema


