Was uns heute einzigartig erscheint, ist es nicht: Auch vor knapp 100 Jahren schlossen wegen einer Pandemie Schulen, Kinos und Cafés. Tausende Menschen starben. Einblicke in ein unbekanntes Kapitel der Luxemburger Geschichte und was wir daraus lernen können.
„Die Grippe greift mit einer unheimlichen Schnelligkeit und einer großen Hartnäckigkeit um sich“, schrieb das „Escher Tageblatt“ am 18. Oktober 1918. Zu diesem Zeitpunkt schlossen gerade die Schulen – erst die Gymnasien in Diekirch und Echternach, in den folgenden Tagen auch Primärschulen in mehreren Orten.
Covid-19 ist nicht die „Spanische Grippe“. Die Krankheit ist eine andere. Zwischen der heutigen Medizin und jener vor hundert Jahren liegen Galaxien. Auch ist die Gesellschaft nicht durch einen mörderischen Weltkrieg geschwächt. Und doch scheinen aus den Berichten über die „Mutter aller Pandemien“ von vor hundert Jahren Sorgen und Probleme durch, die uns heute sehr vertraut sind.
„Social distancing“ ist in diesen Tagen unser Alltag. Doch 1918 wurden diese Maßnahmen eher halbherzig umgesetzt. Das „Containment“ scheiterte, das Virus schwappte in drei Wellen über Luxemburg. Die Pandemie hinterließ zwischen 1918 und 1919 unzählige Tote. Wie viele genau, wissen wir nicht – Schätzungen gehen von bis zu zweitausend Opfern aus. Dabei zählte das Land damals gerade einmal 260.000 Einwohner.
Die erste Welle kam im Sommer 1918
Zu Beginn war es nur eine kurze Lokalnotiz: „Die sogenannte spanische Krankheit hat ihren Weg nun auch zu uns gefunden. Zahlreiche Fälle sind bereits ärztlicherseits festgestellt“, schrieb das „Escher Tageblatt“ am 9. Juli 1918. Die „Obermosel-Zeitung“ meldete am 23. Juli, dass der 35-jährige Eisenbahnbeamte Johann Nilles an der „spanischen Krankheit“ gestorben sei. Bisher gingen Historiker davon aus, dass die ersten Fälle erst im Oktober 1918 auftauchten.
Die Krankheit, die Fieber und allgemeine Müdigkeit hervorruft, ist nicht gefährlich und dauert höchstens zwei Wochen.“Obermosel-Zeitung, Anfang Juli 1918
Die Epidemie wurde im Sommer 1918 nicht so recht ernst genommen – so scheint es. Das ist auch wenig überraschend, denn der Große Krieg dauerte an und es fielen in diesen Monaten Fliegerbomben auf Hollerich und Bonneweg. Dazu kam der Hunger – Fleisch, Kartoffeln und Brot waren rationiert.
Vom amerikanischen Midwest nach Hollerich
Trotzdem war diese neuartige Grippe der Luxemburger Öffentlichkeit nicht fremd. Die Zeitungen hatten bereits über den Ausbruch in anderen Ländern berichtet. Am 27. Mai schreckte eine Reuters-Meldung aus Spanien ganz Europa auf: „Der König, der Ministerpräsident und andere Minister sind unter rätselhaften Erscheinungen erkrankt“. Das war die Nachricht, die dazu führte, dass die Pandemie fortan als „spanische“ Grippe bezeichnet wurde.

Was man in Luxemburg im Sommer 1918 nicht wusste: Nicht in Spanien lag der Ursprung der Grippe, sondern im amerikanischen Mittleren Westen. Die heute vorherrschende Theorie ist, dass das entsprechende Virus H1N1 im März 1918 von Vögeln auf den Menschen übersprang. Ungeklärt ist, ob ein anderes Säugetier – möglicherweise das Schwein – als Zwischenwirt diente, so die US-Behörde „Centers for Disease Control and Prevention“.
Als „Patient Zero“ gilt ein Armeekoch, der in Fort Riley im US-Staat Kansas stationiert war. Das Fatale: Von diesem Lager aus brachen im Frühjahr Tausende US-Soldaten nach Europa auf, um in den Krieg einzugreifen.
So nahm die erste Welle der Pandemie ihren Lauf. Im April tauchte die neuartige Grippe erstmals in Schützengräben nahe dem französischen Compiègne auf. Doch die Öffentlichkeit erfuhr davon nichts: Die Zeitungen wurden in Kriegszeiten zensiert und eine gefährliche Krankheit war nichts, was Regierungen die Bevölkerung wissen lassen wollten. Nur im neutralen Spanien durften Journalisten frei berichten – was den Eindruck weiter verstärkte, dass es sich um eine „spanische“ Grippe handelte.
Zweite Welle trifft das Land unvorbereitet
Dazu kommt, dass ausländische Zeitungen die Erkrankung verharmlosten. „Le Matin“ schrieb im Juli 1918, dass die Grippe in Frankreich kein Problem darstelle und gerade die französischen Truppen sich gut halten würden. Anders sei das bei den bereits geschwächten deutschen Truppen. Ihrerseits spielten deutsche Zeitungen die Gefahr herunter, was in Luxemburg dann übernommen wurde. „Die Krankheit, die Fieber und allgemeine Müdigkeit hervorruft, ist nicht gefährlich und dauert höchstens zwei Wochen“, schrieb die „Obermosel-Zeitung“ Anfang Juli.
Autant d’écoles, autant de foyers dangereux pour les maîtres et les parents.“Schularzt Dr. Giver
Niemand traf besondere Vorkehrungen und so begann die Schule ganz normal im Oktober. Doch die Spanische Grippe war inzwischen gefährlicher geworden, da sind sich die Historiker heute sicher.
Die Ursache ist aber umstritten. Eine Theorie besagt, dass das Virus in den Sommermonaten mutierte und dadurch ansteckender wurde. Die Hypothese des französischen Medizinhistorikers Pierre Darmon lautet, dass sich besonders bösartige Pneumokokken mit dieser zweiten Welle verbanden. Diese Bakterien verbreiteten sich unter den grippegeschwächten Kranken und führten zu Lungenentzündungen, die oft tödlich endeten.
Nachzüchtungen des Virus vor 15 Jahren zeigen aber auch, dass es sich im Körper seiner Opfer schneller ausbreitet als alle andere bekannten Grippevarianten. Bei Versuchen an Mäusen war es hundertmal tödlicher.
Schulen als Ansteckungsherde
Mitte Oktober 1918 tauchte die Spanische Grippe wieder in Luxemburg auf. Und tatsächlich waren die Erkrankungen nun deutlich heftiger und die Todesfälle mehrten sich.
In den Limpertsberger Primärschulen fehlten am 16. Oktober 174 von 378 Schülern. In Diekirch war es in jenen Tagen ein Drittel, berichtete die „Obermosel-Zeitung“. Trotz dieser Ausbreitung zögerten die Behörden. Die Zeitungen berichteten, dass Schulen erst durch den Sänitärinspektor geschlossen wurden, als bereits ein Großteil der Schüler erkrankt war. In manchen Gemeinden schlossen die Schulen erst Anfang November.
Es steht viel, sehr viel auf dem Spiel und könnten sich Gleichgültigkeit und Bürokratismus bitter rächen.“Escher Tageblatt, Oktober 1918
„Au début de l’épidémie et plus tard encore, au moment où elle battait son plein, nous n’avons pas préconisé de mesures extraordinaires à prendre, assistant plutôt en spectateur attentif et laissant aux événements leur cours“, schreibt der Schularzt der Stadt Luxemburg 1920 in einem Bericht. Für die Schüler sei die Grippe kaum gefährlich gewesen, anders aber für die Erwachsenen: „Autant d’écoles, autant de foyers dangereux pour les maîtres et les parents“, so Doktor Giver. Schließlich wurden die städtischen Schulen geschlossen – offenbar zunächst für einen Monat.
Kritik am Zögern der Behörden
Zwar war den Medizinern vor 100 Jahren nicht klar, dass ein Virus diese Pandemie verursachte. Die Übertragung der Grippe über die Atemwege war aber bekannt. Und so lesen sich die Empfehlungen ähnlich wie heute: Hände waschen, die Mitmenschen nicht anhusten oder anniesen, geschlossene Räume meiden und – nicht vergessen – „küssen während der Epidemie ist zu unterlassen“. So fasste es das „Lëtzebuerger Land“ kürzlich zusammen.
Alle öffentlichen Veranstaltungen, wie Theater, Kinoaufführungen, Konzerte, Tanzbelustigungen usw. sind untersagt.“Polizeireglement der Stadt Luxemburg
Das zögerliche Handeln der Behörden kritisierten die Zeitgenossen aber offen. Das „Tageblatt“ klagt am 18. Oktober: „Es stellt sich die Frage, ob bei uns die Regierung durch Vermittelung des Medizinalkollegiums nicht eingreifen sollte, um 1. einer Ausbreitung der Krankheit vorzubeugen und 2. durch Aufklärung und Bestimmung von Vorsichtsmaßregeln die nicht Infektierten zu schützen. Es steht viel, sehr viel auf dem Spiel und könnten sich Gleichgültigkeit und Bürokratismus bitter rächen. Es heißt rasch handeln.“
Kinoaufführungen, Theater und Konzerte untersagt
Ein Beschluss der Regierung vom 19. Oktober sollte erste Vorsichtsmaßnahmen durchsetzen. Doch der Sanitätsinspektor des Kantons Capellen beschwerte sich, dass die Gemeindeverantwortlichen nicht durchgreifen würden. Tanzsäle blieben auf, es wurden weiter Theaterstücke aufgeführt. Und die Gendarmerie weigerte sich einzugreifen, zitiert der Historiker Denis Scuto in Radio 100,7 aus dem Brief des Beamten an die Regierung.
Erst am 26. Oktober 1918 handelte die Gemeindeverwaltung der Stadt Luxemburg. „Da die Grippe epidemisch auf dem Gemeindegebiete aufgetreten ist und bereits zahlreiche Opfer unter der Bevölkerung gefordert hat, so daß geeignete Maßnahmen gegen deren Verbreitung angezeigt erscheinen“, hieß es im Polizeireglement.
Es wäre ja eine schöne Sache, wenn das Betreten der [Kirchen] gegen Krankheitserreger immunisieren würde.“Escher Tageblatt
Tatsächlich war die Lage bereits ernst. Innerhalb von zwei Wochen starben auf dem Stadtgebiet 54 Menschen an der Krankheit, berichtete die „Obermosel-Zeitung“ am 29. Oktober. Die Maßnahmen der Gemeinde: „Bis auf weiteres sind alle Ansammlungen von Menschen tunlichst zu vermeiden. Alle öffentlichen Veranstaltungen, wie Theater, Kinoaufführungen, Konzerte, Tanzbelustigungen usw. sind untersagt.“

Es gab aber eine besondere Ausnahme: Die Kirchen blieben geöffnet und offenbar gab es an Allerheiligen große Ansammlungen in den Gottesdiensten. Das laizistische „Escher Tageblatt“ hatte dafür wenig Verständnis: „Es wäre ja eine schöne Sache, wenn das Betreten der [Kirchen] gegen Krankheitserreger immunisieren würde“, spottete die Zeitung.
„Die Volkstribüne“ wurde deutlicher und kritisierte die „einseitigen Beschlüsse“. „Der Sanitätsinspektor glaubt es verantworten zu können, dass einer Anzahl kleiner Steuerzahler wie Artisten, Musiker usw. […] aller Erwerb gesperrt wird.“
Unternehmen und Verwaltungen sind gelähmt
Zwar gab es 1918 kein „Lockdown“ des Arbeitslebens, doch die Grippe führte zu massiven Einschränkungen. „In den Verwaltungen und größeren Betrieben sind zahlreiche Erkrankungen. Das miserable Wetter trägt viel zur Verbreitung der Krankheit bei“, berichtete das „Tageblatt“. Die Journalisten drückten echte Sorge aus: „Man schaudert, wenn man die Todesanzeigen der Zeitungen überblickt“.
Die rapide Ausbreitung spüren die Journalisten des „Tageblatt“ nur wenige Tage später am eigenen Leib. Am 28. Oktober entschuldigt sich die Zeitung bei ihren Lesern für die teils späte Zustellung: „Unser gesamtes Personal [ist] an der Grippe erkrankt und wir [können] unsern Betrieb nur mit der größten Mühe aufrecht halten.“
Das Düdelinger Arbed-Werk meldete am 4. November an den Hauptsitz, dass knapp ein Fünftel der Belegschaft krank sei. Innerhalb von vier Tagen stieg die Zahl der Infizierten von 389 auf 415, zeigt das Dokument.

In Luxemburg bestätigte sich, was in anderen Ländern beobachtet wurde: Es waren junge Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, die an der Spanischen Grippe starben. Warum das so war, ist bis heute ungeklärt.
Die grassierende Pandemie hielt aber die Menschen nicht davon ab, Ende November dicht gedrängt den Einzug der US-Truppen zu verfolgen. Das zeigen Fotos aus der virtuellen Ausstellung zum Ersten Weltkrieg der Universität Luxemburg. Doch die Soldaten wurden oder waren ebenfalls krank. Fotos der US-Armee zeigen junge Männer mit Masken bewehrt, die in einem improvisierten Krankenhaus in Hollerich auf Bahren liegen.
Eine dritte Welle und die „Herdenimmunität“
Die Schulen blieben bis Neujahr 1919 geschlossen. Das hatte allerdings nicht allein mit der Grippe-Pandemie zu tun. Die nach dem Krieg durchziehenden Soldaten wurden unter anderem in den Schulen einquartiert. Es waren „lange Schulferien“, schrieb die „Obermosel-Zeitung“.
Im Februar 1919 traf die dritte Welle der „Spanischen Grippe“ Luxemburg. In der Hauptstadt erkrankte ein Drittel der Schüler, schrieb der Schularzt Dr. Giver in seinem Bericht.
„L’origine de cette nouvelle recrudescence de l’épidémie se trouve sans nul doute parmi les enfants des écoles“, schrieb die Zeitung „L’indépendance luxembourgeoise“. Die Schüler würden die Eltern anstecken, die dann – anders als die Kinder – ernsthaft erkranken, so die Zeitung weiter.
Die Grippe, oder Influenza, […], ist in diesem Berichtsjahre viel seltener und gelinder aufgetreten.“Bericht des Sanitätsinspektors
Allerdings war diese dritte Welle offenbar weniger gefährlich, denn es kam seltener zu den oft tödlichen Lungenentzündungen. „Die Grippe, oder Influenza, […], ist in diesem Berichtsjahre viel seltener und gelinder aufgetreten ; jedenfalls erforderte sie keine strengeren Maßregeln wie Schließung sämtlicher Schulen und aller öffentlichen Versammlungslokale“, schrieb der Sanitätsinpektor des Kantons Esch/Alzette in einem Bericht.
Vor den Osterferien war alles wieder vorbei, notierte der Schularzt Dr. Giver. Er ging davon aus, dass mit den Erkrankten vom Herbst zuvor, nun knapp 80 Prozent der Schüler die Grippe durchgemacht hatten. Das wäre ein Hinweis, dass die Bevölkerung die sogenannte „Herdenimmunität“ erreicht hatte. Sprich, das Virus konnte sich nicht mehr ausbreiten. Doch wissenschaftlich untermauert ist das nicht: Es fehlen schlicht die Nachweise, inwiefern das Virus zwischen den einzelnen Wellen mutierte, so eine Überblicksstudie.
Die Lehren aus der „Mutter aller Pandemien“
Laut den neuesten Schätzungen starben weltweit zwischen 40 und 50 Millionen Menschen an der „Spanischen Grippe“. Das entsprach damals ungeheuren zwei Prozent der Weltbevölkerung.
Die gewaltigen Fortschritte der Medizin in den letzten hundert Jahren werden uns vor einem ähnlichen Horrorszenario wohl bewahren. Und doch sind wir heute den Erfahrungen von 1918 und 1919 deutlich näher, als wir das noch vor wenigen Wochen je erwartet hätten.
Die Masken, die wir die kommenden Monate tragen werden, sind auf Fotos aus den USA von vor 100 Jahren allgegenwärtig. Die Frage, ob uns eine zweite oder gar dritte Welle von Covid-19 droht, wird auch uns begleiten, bis ein Impfstoff gefunden wurde.
Die letzte große Pandemie, die Luxemburg erlebte, ist jedoch ein weißer Fleck in der Geschichtsschreibung – hierzulande, aber auch in vielen anderen Ländern. Erst in den letzten Wochen hat sich das Interesse gesteigert. Die Parallelen sind offensichtlich: Wie sollen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens aussehen? Handelt die Regierung richtig? Sind manche Ausnahmen gerecht oder einfach gefährlich?
Doch die Frage nach den Folgen einer Pandemie auf eine Gesellschaft ist schwieriger zu beantworten. Die Luxemburger erlebten 1918 und 1919 tief greifende Veränderungen: Es kam zu Massenstreiks, eine Wirtschaftskrise griff um sich, der Achtstunden-Tag wurde eingeführt, die Monarchie stand auf der Kippe, der Kampf um die Unabhängigkeit tobte und alle Frauen und Männer durften wählen.
Diese Umwälzungen hatten eine offensichtliche Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg. Welche Rolle die Erfahrung der schrecklichen Epidemie in all diesen Ereignissen spielte, ist allerdings bis heute weitgehend ungeklärt. Und doch wären Antworten auf diese Frage für uns jetzt lehrreicher als je zuvor.