Online-Desinformation sei eine neue Kriegswaffe und eine Gefahr für die soziale Kohäsion, warnt die EU-Kommission. Um dem Problem entgegenzuwirken, hat sie deshalb eine Reihe von Maßnahmen vorgestellt. Doch der politische Lösungsansatz hat mindestens einen Haken.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Das war einer der Leitsätze der EU-Kommissare Julian King (Sicherheitsunion) und  Marija Gabriel (Digitale Wirtschaft und Gesellschaft) am vergangenen Donnerstag. Es ging um den Kommissionsvorschlag zur Bekämpfung von Online-Desinformation – im Volksmund „Fake News“ genannt. Dass letztere eine Gefahr für die Demokratie und die soziale Kohäsion darstellen, darüber ist man sich in der Kommission einig. Wie der Brite Julian King martialisch hervorhob: „Es ist eine neue Art des Kampfes mit neuen Einsatzregeln.“ Marija Gabriel ergänzte nicht weniger dramatisch „Wir müssen das Gleichgewicht zwischen Zivilgesellschaft und sozialen Plattformen wieder herstellen.“

Die Frage, wie man das zu tun gedenke, schien lange Zeit weniger klar. Die Suche nach Antworten hat Monate gedauert. Viele öffentliche Konsultationen, Beratungen, Expertengruppen und Analysen später, steht also ein Kommissionstext. Doch dieser scheint angesichts der verbalen Dramatisierung der Situation alles andere als konsequent und ambitiös. Zwar jongliert der Text mit Schlagwörtern wie „Transparenz“, „Glaubwürdigkeit“, und „Diversität“, doch sind die Vorschläge doch eher halbherzige Versuche, um dem Problem entgegen zu wirken.

Kommission setzt auf freiwilliges Engagement

So schlägt die Kommission neben einer gemeinsamen Plattform für Faktenprüfer oder einer besseren Medienerziehung auch einen EU-weiten Verhaltenskodex vor, an den sich Online-Plattformen halten sollen. Diese werden dazu aufgerufen, ihre Nutzer besser vor Desinformation zu schützen und den Zugang zu Qualitätsjournalismus zu verbessern. Das soll dadurch ermöglicht werden, dass sie vertrauenswürdige Inhalte bevorzugen, Nutzern helfen falsche Profile und Bots zu identifizieren oder aufzeigen, wenn politische Inhalte gesponsert wurden.

Wie genau sie das tun können, sollen die visierten Dienstleister binnen kürzester Zeit selbst herausfinden. Helfen soll dabei ein sogenanntes Multi-Stakeholder-Forum, bei dem Vertreter verschiedener Interessengruppen ein wenig brainstormen. Der Zeitplan ist eng: Schon im Juli soll der Kodex stehen. Im Oktober will die Kommission dann schon Bilanz ziehen.

Der Haken bei der Sache: Die ganze Übung beruht auf dem freiwilligen Engagement der Plattformen. „Wir haben keine Zeit zu verlieren“ lautet die Begründung von Kommissarin Marija Gabriel. Man müsste jedoch zaubern können um in so einer kurzen Zeitspanne etwas Nennenswertes auf den Tisch zu bringen.

Wahrhaftige Regulierung unwahrscheinlich

Alexander Fanta von Netzpolitik.org hält den Vorschlag der Kommission für „sehr schwach“. Er vergleicht: „Man würde es ja auch nicht der Tabakindustrie überlassen, sich eigene Regeln aufzustellen.“ Für den Journalisten der „Plattform für digitale Freiheitsrechte“ ist klar, dass die freiwillige Selbstregulierung vor allem den Plattformen selbst in die Hände spielt, nicht aber deren Nutzer effektiv vor Manipulation und Desinformation schützen wird.

Die Kommission verzichtet auf ihr schärfstes Schwert.“Olaf Steenfadt, „Reporter ohne Grenzen“

Die sozialen Netzwerkbetreiber haben spätestens nach den Enthüllungen um Cambridge Analytica Maßnahmen angekündigt, die für mehr Transparenz sorgen sollen. „Facebook, Twitter und co. werden sehr glücklich sein. Nun können sie ihre Pseudo-Maßnahmen sogar als ‚konform mit den EU-Standards’ verkaufen“, kritisiert Fanta im Gespräch mit REPORTER.

Folglich stellt sich die Frage nach der Einflussnahme der mächtigen Plattformen auf die politischen Entscheidungsträger in Brüssel „Man kann davon ausgehen, dass dieser Einfluss unheimlich groß ist“, so die Einschätzung des Experten für digitale Gesellschaft bei Netzpolitik.org. Indem sich die Kommission hinter Analysen und Expertengruppen versteckt, würde sie sich darüber hinaus aus der Verantwortung stehlen, bedauert Fanta. In anderen Worten: Der Kommission fehlt offenbar der Mut, um aggressiver vorzugehen und das Problem wirklich beim Schopf zu packen.

Keine Frage des Wettbewerbsrechts?

Olaf Steenfadt von „Reporter ohne Grenzen“ pflichtet dem bei. Er war Teil der Expertengruppe, die für die Kommission Vorschläge ausarbeiten sollte. Für ihn fängt das Problem bereits damit an, dass die Kommission im Vorfeld für sich ausgeschlossen hat, dass die Problematik der Desinformation unter das Wettbewerbsgesetz fällt. „Ich sehe Fake News nicht als Kartellproblem“, twitterte etwa die Kommissarin für Wettbewerb, Margarethe Vestager. Angesichts des Zerfalls des Geschäftsmodelles des traditionellen Journalismus durch die Monopolisierung der sozialen Medien ist aber fragwürdig, warum die Kommission Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht kategorisch ausschließt. „Die Kommission verzichtet auf ihr schärfstes Schwert “, bedauert Steenfadt.

Vor diesem Hintergrund scheint schleierhaft, welche regulatorischen Schritte die Kommission einleiten will, wenn sich die sozialen Plattformen nicht auf einen zufriedenstellenden Kodex einigen können. Zum einen hat sie kaum Handlungsspielraum, zum anderen ist es in dieser Legislaturperiode zu spät für jegliche rechtliche Maßnahmen.

Man würde es ja auch nicht der Tabakindustrie überlassen, sich eigene Regeln aufzustellen.Alexander Fanta, „Netzpolitik.org“

Eine weitere Forderung der Kommission ist nicht weniger kontrovers: Während der Text auf der einen Seite bedauert, wie lax die sozialen Plattformen mit den Nutzerdaten umgehen und sich insbesondere in Bezug auf die bald in Kraft tretende Datenschutzregulierung (GDPR) militant als Hüter des Datenschutzes verkauft, so fordert sie auf der anderen Seite besseren Zugang zu Social-Media-Daten für Forscher, Faktenprüfer und öffentliche Behörden. Ein Widerspruch? Selbst in kommissionsinternen Kreisen bemängelt man dieses Paradox.

Dennoch: Selbst wenn die großen Plattformen diese Informationen herausgeben, ist nicht klar, wie viel man damit anfangen kann. „Man bittet ja auch nicht Coca Cola um ihr Rezept, um Ernährungsnormen festzulegen“, vergleicht etwa Olaf Steenfadt. Er bezweifelt die Praktikabilität eines solchen Unterfangens. Die Algorithmen seien so komplex, dass sie in ihrer Gesamtheit wohl keinerlei Einsichten liefern können.

Wenig Vertrauen in die Kommission

Auch jene, die als Teil des sogenannten High Level Expert Groups für die Kommission an Lösungsvorschlägen gearbeitet haben, scheinen schon im Vorfeld wenig Vertrauen in deren Umsetzung gehabt zu haben. So hat „Reporter ohne Grenzen“ gemeinsam mit der Europäischen Rundfunkunion (EBU), der Nachrichtenagentur AFP und dem Globale Netzwerk für Redakteure (GEN) parallel zu den EU-Bemühungen ein eigenes Projekt auf die Beine gestellt: die „Journalism Trust Initiative“. Ähnlich wie beim Verhaltenskodex der Kommission sollen sich Journalisten, Medienvertreter, Plattformen und andere Interessensgruppen auf gewisse Vertrauensindikatoren für mehr Transparenz, Verantwortung und Rechenschaftspflicht einigen.

Doch bei der Trust Initiative betreffen diese Indikatoren in erster Linie die Arbeit der Journalisten. Ähnlich wie in anderen Berufsgruppen sollen bestimmte Standards zu journalistischen Prozessen festgelegt werden, zum Beispiel Transparenzkriterien oder die Angabe von Informationen über die Besitzverhältnisse in den Medienunternehmen. Dass diese Standards sich mehr mit Prozessen wie mit Inhalten befassen hat gute Gründe. „Denn wenn sich in erster Linie mit Inhalten befasst wird, kann das schnell zur Zensur führen“, sagt Olaf Steenfadt.

Ziel des Projektes ist nicht weniger als eine Re-Monetisierung des Qualitätsjournalismus, zum Beispiel durch die Entwicklung von Algorithmen, die unabhängigen Journalismus bevorzugen. „Es ist ein explanatives Projekt“, erklärt Steenfadt. „Doch große Medienvertreter und Plattformen wie Google haben ihre Unterstützung zugesagt.“

Problematisches Journalismusverständnis

Das Projekt macht deutlich: Die beste Waffe gegen Desinformation sind Medienpluralismus und unabhängiger Journalismus. Dabei wird, ähnlich wie im Rahmen der Whistleblower-Direktive, die wichtige Rolle des Journalismus als Garant demokratischer Prozesse fortlaufend rhetorisch hervorgehoben. In der Praxis jedoch wird sie vielerorts politisch vernachlässigt. Demnach steht bessere Presseförderung auch nicht allzu weit oben auf der Liste der Maßnahmen, die die Kommission vorschlägt.

Schon das Journalismusverständnis der Kommission sei problematisch, kritisiert Olaf Steenfadt. In der Tat erweckt die Kommissionskommunikation zur Desinformation stellenweise den Eindruck, als stelle die Kommission Regierungsarbeit und guten Journalismus auf eine Ebene. Zum Beispiel indem sie unabhängige Faktencheck-Netzwerke mit EU-Projekten für strategische Kommunikation vergleicht oder die Notwendigkeit von unabhängigem Journalismus auf EU-Themen begrenzt.

Zum anderen aber fehlt der Kommission das Mandat. Ihr bleibt also nur übrig, halbherzig an die Mitgliedstaaten zu appellieren. Diese sollen doch bitte selbst den Medienpluralismus garantieren und Qualitätsjournalismus fördern. Angesichts der rezenten Entwicklungen in Ungarn und der Ermordungen von Journalisten in der Slowakei und in Malta, scheint das jedoch etwas dürftig.

Reform der Pressehilfe in Luxemburg

In Luxemburg muss man derweil darauf hoffen, dass die Reform der Pressehilfe mit Sinn und Verstand angegangen wird. Die Regierung beruhigt: Noch in dieser Legislaturperiode soll ein Gesetzesvorschlag kommen. Man würde an einem Text arbeiten, der guten Journalismus unterstützen würde: So sollen Kriterien zur Evaluierung von Originalität und Qualität der Beiträge festgelegt werden und die Onlinepresse stärker gefördert werden. „Vor allem soll aber die Zahl der eingestellten, qualifizierten und anerkannten Berufsjournalisten eine Rolle spielen, nicht mehr die Auflagen oder Seitenanzahl der Zeitungen“, erläutert ein Sprecher von Premier- und Medienminister Xavier Bettel.

Wie sehr letzteres die Realität verwässern kann, hat der Fall Editpress gezeigt. Doch im gleichen Atemzug heißt es aus dem Staatsministerium: „Wir wollen jedoch nicht alles durcheinander wirbeln oder denen etwas wegnehmen, die gewohnt sind, etwas zu bekommen.“ Grundlegende Änderungen oder neue Anreize sind demnach also doch nicht unbedingt zu erwarten.