Sind europäische Spitzenkandidaten ein Fortschritt für die parlamentarische Demokratie auf EU-Ebene? Lässt sich das politische System der Europäischen Union überhaupt wirkungsvoll reformieren? Ein Essay über die Machbarkeit einer europäischen Demokratie.
Knapp 51 Prozent der Bürger in der EU haben an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilgenommen. Eine Wahlbeteiligung, die in vielen Ländern ein Grund zur Sorge wäre, wird von manchen Politikern und Kommentatoren als großer Sieg der Demokratie gefeiert. Damit ist das aktuelle Stadium des demokratischen Fortschritts in der EU bereits gut umschrieben.
Dass sich nur rund die Hälfte der Wahlberechtigten an einer europaweiten Abstimmung beteiligen, ist allerdings nur ein Symptom des oft beschworenen „Demokratiedefizits“ der EU. Viel schwerer wiegen einerseits das strukturelle Defizit, wonach es überhaupt kein europäisches Volk gibt, also kein einheitliches „demos“, das von Brüssel aus regiert werden könnte. Zudem bestehen mehrere institutionelle Defizite, die eine Demokratisierung des politischen Systems der EU erschweren.
Das europäische Projekt und das fehlende Volk
„Die Demokratie ist ein Ensemble von Institutionen, die darauf abzielen, der Ausübung politischer Macht Legitimation zu verleihen“, schrieb der liberale Soziologe und Publizist Ralf Dahrendorf in seinem Werk „Die Krisen der Demokratie“. Geht man von dieser Minimal-Definition aus, ist es leicht ersichtlich, warum die EU bis heute ein objektives Demokratie-Problem hat. Die europäische Einigung wurde nämlich von Beginn an aus anderen Gründen als der Legitimation ihrer zunehmenden politischen Macht unternommen.
Vielmehr standen und stehen beim europäischen Staatenverbund die Friedenssicherung, die Solidarität sowie die wirtschaftliche und politische Kooperation zwischen souveränen Staaten im Mittelpunkt. Die Demokratie und damit die allmähliche Legitimation der EU durch die europäischen Völker kam überhaupt erst etwas später ins Spiel.
Ein europäisches Volk lässt sich eben nicht einfach so erfinden oder von oben herab verordnen. Ohne ein Volk ist jedoch jeder Einsatz für eine wahrhaftige Demokratie zum Scheitern verurteilt.“
Dass die EU ein Demokratiedefizit hat, ist in der Politikwissenschaft ziemlich unbestritten. Der Hauptgrund: Die EU kann nicht als Staat aufgefasst werden, also nicht als jene politische Einheit, in der die Demokratie gewöhnlich auftritt. Andererseits ist die EU auch keine gewöhnliche internationale Organisation. Sie ist vielmehr ein staatsähnliches Zwitterwesen, ein politisches System eigener Art, das allein deshalb mit anderen Demokratie-Maßstäben gemessen werden müsse, so der politologische Mainstream.
Und doch stellen Politiker und Beobachter an die EU immer wieder die gleichen Ansprüche wie an einen demokratisch verfassten Nationalstaat. Die Wissenschaft ist eine Sache, die Wahrnehmung durch die breitere Öffentlichkeit und das Image der europäischen Institutionen eine andere. „Demokratisch“ ist jedenfalls nicht der erste Begriff, der einem in den Sinn kommt, wenn man an die Funktionsweise der EU denkt. Die Gründe dafür sind vielfältig …
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