Die Europawahl gilt als Schicksalswahl, bei der sich Pro-Europäer als Verteidiger des europäischen Projektes gegen Nationalisten und Populisten inszenieren. Doch geht es wirklich um das Überleben der EU? In Wahrheit ist die Sachlage weitaus komplexer. Eine Analyse.

„Ich glaube schon, dass es jetzt zum ersten Mal so ist, dass wir sagen können, dieses Europa kann auch wirklich scheitern, dieses Europa kann auch wirklich zerfallen, dieses Europa kann auch wirklich in Nationalismen zerfallen.“ So beschreibt der Spitzenkandidat der Sozialisten, Frans Timmermans, die anstehende Europawahl am 26. Mai. Immer wieder wird diese als „Schicksalswahl“ beschrieben. Als der Moment, in dem über die Zukunft Europas entschieden wird.

Demnach steht Europa an einem Scheideweg. Die Bürger haben die Wahl zwischen jenen Parteien, die die Grundwerte der EU beschützen wollen. Und jenen, die die EU von innen zerstören wollen, bis vom Projekt einer geeinten EU mit gemeinsamen Wertvorstellungen nur noch eine leere Hülle bleibt. Wenig überraschend stand auch hierzulande die erste Elefantenrunde unter dem Slogan: „Huet Europa nach eng Zukunft?“

Es scheint bereits in Stein gemeißelt, bevor die Menschen sich überhaupt zu den Urnen begeben: Nach den Europawahlen werden rechtspopulistische und nationalistische Parteien so stark sein, wie noch nie. Jeder Zehnte wolle sicher Rechte wählen, geht etwa aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts „YouGov“ hervor. Befragt wurden rund 24.000 Wahlberechtigte aus zwölf Mitgliedsstaaten.

Der Kampf, den Anti-Europäer sich wünschen

Solche Prognosen machen Angst. Vor allem, da die etablierten Parteien für viele Bürger keine Alternative mehr darstellen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wollen die Menschen nämlich vor allem gegen jene Parteien stimmen, die sie am meisten ablehnen. Und nicht für solche Parteien, von denen sie das Gefühl haben, dass sie ihre Interessen am besten vertreten.

Pro-Europäer „dürfen nun aber nicht in die Falle geraten und zu Beschützern des Status quo in Europa werden oder erlauben, dass die Wahlen zu einem Referendum zur Migrationsfrage werden. Das ist nämlich genau der Kampf, den die Anti-Europäer sich wünschen“, warnt Mark Leonard, Politikwissenschaftler und Direktor des European Council on Foreign Relations.

Ich werde dieses Europa verteidigen, gegen Nationalisten und Populisten, die es zerstören wollen.“EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber

Doch genau dieser Trend zeichnet sich aktuell ab. Die etablierten Parteien inszenieren sich einheitlich als große Beschützer, statt mit programmatischen Alternativen aufzuwarten. „Ich werde dieses Europa verteidigen, gegen Nationalisten und Populisten, die es zerstören wollen“, betont etwa der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber. Für Jean Asselborn (LSAP) ist es ein Kampf um die Seele Europas. Und auch DP-Präsidentin Corinne Cahen betonte letzten Donnerstag auf dem Kongress der liberalen Partei: „Es geht um den Zusammenhalt in Europa, um das Zusammenleben auf Basis unserer Werte und der Menschenrechte.“

Wenn sich Salvini, Orbán, Le Pen, Farage und Co. zusammentun, droht eine Katastrophe – darüber sind sich die meisten Politiker einig. Insbesondere Polen und Ungarn werden immer wieder als Beispiel dafür angeführt, wie diese Katastrophe aussehen könnte. Der Schutz der Minderheiten, eine unabhängige Justiz, Pressefreiheit, Toleranz und Solidarität … lang erkämpfte Errungenschaften könnten auf einmal der Vergangenheit angehören.

Die ewige Verteidigung der „Festung Europa“

Die viel zitierte „Sicherheit Europas“ lässt die EU als Festung erscheinen, die es unbedingt zu beschützen gilt. Die Feinde sind vielfältig. Euroskeptiker sind nur ein Teil davon. Daneben sind es Großmächte wie Russland oder die USA, die die EU bedrohen. „Europa hat keine Strategie. Deswegen müssen wir die großen Strategen fürchten“, drückt es etwa der DP-Spitzenkandidat Charles Goerens aus.

Europa riskiere bloß noch ein Objekt der Weltpolitik zu sein, schreibt der Historiker Timophy Garton Ash. Im 19. Jahrhundert hätte Europa das „scramble for Africa“ angetrieben. Heute betreiben außereuropäische Mächte laut Ashton ein „scramble for Europe“.

Auf der anderen Seite sind die Feinde Migranten, die die Grenzen Europas niederreißen. Obwohl die sogenannte Migrationskrise überwunden scheint, nimmt sie im aktuellen Wahlkampf – zumindest auf gesamteuropäischer Ebene – einen zentralen Platz ein. Dabei geht es weniger um die Menschen, die täglich im Mittelmeer ertrinken, als um die Frage wie man die Bürger vor ihnen schützen kann. Die Migration sei die „offene, politische Wunde des Kontinents“, sagte Manfred Weber jüngst im Deutschlandfunk. Um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, müsse man diese Wunde schließen.

Was die Bürger wirklich wollen, sind Alternativen

Indem sich die etablierten Parteien so sehr auf diesen Kampf um die Festung Europas einlassen, rückt die Frage in den Hintergrund, wieso sich die Menschen vom ‚Mainstream‘ hin zu den Rechten abwenden.

So zeigt etwa eine Studie des „European Council on Foreign Relations“ (ECFR): Die aktuelle Debatte spiegelt die Sorgen der Bürger in Europa nicht wirklich wider. Die Vorstellung eines Scheideweges zwischen einem offenen Europa und einem Europa der Nationalstaaten; jene einer Ost-West-Spaltung oder die Idee, dass die Migrationsfrage die Europawahlen entscheidet: Laut der Studie handelt es sich dabei lediglich um Mythen.

Die Wähler sind nicht auf der Suche nach einer Alternative zu Rechts oder Links. Sie suchen eine Alternative.“Studie des „European Council on Foreign Relations“

Die Wähler ließen sich demnach nicht in homogene Gruppen unterteilen. Manche wüssten nicht einmal, wofür sie am kommenden Wochenende genau abstimmen. Und: „Sie sind nicht auf der Suche nach einer Alternative zu Rechts oder Links. Sie suchen eine Alternative“, schreiben die Autoren.

Die wahre Kluft liege also nicht zwischen Euroskeptikern und Pro-Europäern, sondern zwischen den Anhängern des „Status quo“ und Verfechtern eines grundlegenden politischen Wandels. Zwischen Wählern, die an das aktuelle System glauben und jenen, die glauben, das System sei kaputt. Dabei ist das „System“ nicht lediglich Europa, sondern das politische System als solches. Viele Bürger haben demnach genauso wenig (oder noch weniger) Vertrauen in ihren jeweiligen Nationalstaat als in die EU.

Migration ist nur ein Streitthema unter vielen

Folglich drehen sich die Sorgen der Menschen auch nicht nur um Migration und geschlossene Grenzen. „Die Wahlen zum Europäischen Parlament in 2019 werden sich radikal von den üblichen Erzählungen der Schlagzeilen in den Medien unterscheiden: Die Wahlen werden kein Referendum über die Migration sein“, so eine Schlussfolgerung der Studie.

Die Probleme und Ängste der Bürger seien vielfältig und von Land zu Land verschieden. Darunter: Soziale Kohäsion, radikaler Islam, die Rückkehr des Nationalismus, Auswanderung, der Stand der Wirtschaft oder der Klimawandel. Lediglich in Ungarn sei die Migration das Thema, das die Menschen am meisten umtreibt.

Den Wahlkampf als Kampagne für oder gegen Europa zu führen, sei demnach keine besonders weitsichtige Strategie, schlussfolgern die Autoren, zu denen etwa der bulgarische Politologe Ivan Krastev gehört. Viel mehr gehe es darum, jenen Menschen, die nicht mehr ans System glauben, glaubhafte Alternativen zu vermitteln. Nur so könnte man sie „zurück ins System bringen.“

Etablierte Parteien könnten sich selbst schaden

Doch solche „glaubhafte Alternativen“ stehen bei den etablierten Parteien nur bedingt im Vordergrund. Denn indem sie sich als  „Retter Europas“ inszenieren, haben sie sich einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem Status quo größtenteils entzogen. Sie haben schlicht verpasst, konkrete Antworten zu liefern, wie sich das „kaputte System“ reparieren lässt.

Die strukturellen Probleme der EU, die Ivan Krastev in seiner Monographie „After Europe“ als „autistische Störung“ bezeichnet, werden sowohl in den Debatten, wie auch in den Programmen der großen Parteien nur am Rande angesprochen. Luxemburg ist da keine Ausnahme. Zwar betonen alle, Europa den Bürgern wieder näherbringen zu wollen. Doch glaubt man der ECFR-Studie, reicht das nicht aus, um bei den Wählern wieder als „glaubhafte Agenten des Wechsels“ zu gelten.

Vielmehr könnte der Fokus auf den möglichen Verfall Europas mehr schaden, als nützen. Er vermittelt den Eindruck, dass die Menschen sich lediglich für eine von zwei gegensätzlichen Vorstellungen der EU entscheiden können. Auf der einen Seite ein Europa, das zwar demokratisch, aber kaputt ist. Auf der anderen Seite eine europafeindliche Alternative.

Wenn sich die Wahl am 26. Mai auf diese Frage reduziert, dann sind die Parteien in jene Falle getappt, die Mark Leonard prophezeit hat. Der „Plan“ der Populisten und Euroskeptiker wäre damit aufgegangen.