Wenn es nach dem Europäischen Parlament geht, soll einer der Spitzenkandidaten aus den Europawahlen Präsident der EU-Kommission werden. Dass es dazu kommt, ist angesichts der realen Funktionsweise der EU-Institutionen jedoch noch nicht ausgemacht.
In der Theorie klingt alles ganz einfach: Die Bürger der EU wählen ein neues Europäisches Parlament. Einer der zuvor von den Parteienfamilien bestimmten Spitzenkandidaten, der eine Mehrheit im Parlament hinter sich versammeln kann, wird Präsident der Europäischen Kommission. Die Mitgliedstaaten schlagen in Abstimmung mit dem Kommissionspräsidenten ihre designierten Kommissare vor, die vom Europäischen Parlament angehört und bestätigt werden müssen. Erst dann kann die neue Kommission ihr Amt antreten.
In der Praxis gibt es beim Konzept der Spitzenkandidaten allerdings noch einige Zwischenstufen. Laut EU-Vertrag gibt es nämlich keinerlei Automatismus, wonach unbedingt einer der Spitzenkandidaten tatsächlich Präsident der EU-Kommission werden muss. Allein der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, kann einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlagen, heißt es im Vertrag von Lissabon. Diese Person kann allerdings nur mit einer Mehrheit im Parlament zum Präsidenten der EU-Exekutive gewählt werden.
„Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, so schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit einen neuen Kandidaten vor, für dessen Wahl das Europäische Parlament dasselbe Verfahren anwendet.“ (Artikel 17, 7 des EU-Vertrags)
Wahlergebnis nur ein Kriterium unter vielen
Demnach kommt den Staats- und Regierungschefs eine besondere Rolle in diesem Prozess zu. Vor der Wahl des Kommissionspräsidenten steht jedenfalls eine Phase der informellen Verhandlungen zwischen den Staaten, zwischen dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament sowie zwischen den unterschiedlichen Parteien. Dabei dürfte eine weitere Tatsache die Verhandlungen erschweren: Neben dem Kommissionspräsidenten müssen in den kommenden Monaten mit dem Ratspräsidenten und dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank weitere Top-Jobs in der EU besetzt werden.
Der Kandidat, den der Europäische Rat vorschlägt, muss zudem eine Mehrheit im Parlament erhalten. Allein das dürfte sich dieses Mal als schwieriger erweisen als noch vor fünf Jahren. 2014 hatten sich noch die EVP und die Sozialdemokraten im Parlament auf eine Koalition geeinigt, um Jean-Claude Juncker zum Kommissionschef zu wählen. Dieses Mal haben beide europäische Parteien gemeinsam jedoch keine Mehrheit mehr. Somit kann man davon ausgehen, dass es am Ende zu einem umfassenderen Verhandlungspaket zwischen Parteien und EU-Institutionen kommen wird.
Das Prinzip, wonach einer der Spitzenkandidaten der europäischen Parteien Kommissionspräsident wird, muss sich also noch bewähren. Im Kontext des komplexen EU-Institutionengefüges ist die „Berücksichtigung“ des Resultats der Europawahlen jedenfalls nur ein Kriterium unter vielen.
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