Für die Europawahlen haben DP und ADR gezielt Wahlwerbung an ausgesuchte Wählergruppen verschickt. Die Praxis ist zwar nicht neu und laut Wahlgesetz erlaubt. Dennoch bewegen sich die Parteien seit dem Inkrafttreten der EU-Datenschutzrichtlinie in einer rechtlichen Grauzone.
„First, let me applaud your decision as an expression of your interest in Luxembourg and for Europe as a whole.“ „Antes de mais, deixe-me felicita-lo por essa iniciativa demonstra assim o seu interesse pelo Luxemburgo e Europa no seu conjunto.“ „Ich gratuliere Ihnen für das Interesse, das Sie für Luxemburg und Europa aufbringen.“ Die Europawahlen machen erfinderisch. In einem Brief wendet sich die DP in diesen Tagen in verschiedenen Sprachen an die ausländischen Wähler in Luxemburg.
Die Wähler erhielten das Schreiben je nach Nationalität auf Englisch, Deutsch, Französisch und Portugiesisch. Nach den einleitenden Worten werden einige Gründe genannt, warum die DP am kommenden Sonntag die beste Wahl sei. Zur Sicherheit gibt es die abschließende Erklärung dazu: „Kreuzen Sie den Kreis an, über dem DP steht“. Unterschrieben hat den Brief Xavier Bettel – sein Amt als Premierminister führte er allerdings nicht an.
Auch die ADR hat ausländische Wähler per Schreiben kontaktiert. Manche belgische Staatsbürger erhielten den Brief mit Wahlargumenten für die Alternativdemokraten auf Flämisch, polnische Staatsbürger auf Polnisch. REPORTER liegen mehrere dieser Schreiben vor.
Eine „existierende Praxis“ der Parteien
An die Kontaktdaten der Wähler kommen die Parteien dank der Wählerlisten, die sie bei der Gemeinde beantragen können. Dort sind etwa Name, Vorname, Adresse, Geburtsdatum, Geburtsort sowie die Nationalität der Wahlberechtigten vermerkt.
Man könnte die Wähler mindestens informieren, im Idealfall aber nach ihrem Einverständnis fragen.“Hervé Wolff, Anwalt und Spezialist für Datenschutz
Dass die politischen Parteien sich diese Informationen für Werbezwecke zu eigen machen, hat in Luxemburg schon fast Tradition: Wie Xavier Bettel, diesmal offiziell in seiner Eigenschaft als Staatsminister, auf eine parlamentarische Anfrage von Fernand Kartheiser (ADR) antwortet, handelt es sich um eine „existierende Praxis“. Diese werde aufgrund des Wahlgesetzes zwar akzeptiert, sei aber nicht der eigentliche Sinn der Existenz der Listen.
Die Listen sind nämlich aus einem ganz anderen Grund öffentlich zugänglich, wie es Bettel in seiner Antwort auf die parlamentarische Anfrage betont: Die Bürger sollen so die Möglichkeit haben, ihre Daten zu kontrollieren und gegebenenfalls zu ändern.
„Wir haben das immer so gemacht“
„Die Wahllisten liegen ja nicht umsonst aus. Das Gesetz erlaubt es der Partei, die Listen zu nutzen“, argumentiert Gast Gibéryen (ADR) auf Nachfrage von REPORTER. Wenn andere Parteien diese Möglichkeit nicht nutzen würden, hätten sie „den Zug verpasst.“
Xavier Bettel ist bei den meisten Ausländern sehr bekannt.“Corinne Cahen, DP-Parteivorsitzende
„Wir haben das immer so gemacht, und daher auch dieses Mal“, sagt ihrerseits Corinne Cahen (DP). Bisher habe es diesbezüglich auch nie eine Diskussion gegeben. Die DP-Vorsitzende weist darauf hin, dass gewöhnlich auch andere Parteien die Wähler anschreiben. „Es ging uns ja auch nicht darum, die Menschen zu nerven, sondern zu informieren.“
Doch die Briefe gehen freilich über eine neutrale Information hinaus. Es handelt sich um parteiische Wahlwerbung. Dass die Schreiben an die ausländischen Wähler vom Premierminister Xavier Bettel unterschrieben wurden, habe dabei pragmatische Gründe: „Xavier Bettel ist bei den meisten Ausländern sehr bekannt“, die DP sei schließlich die Partei des Premierministers, so Corinne Cahen.
Wahllisten fallen unter Datenschutzrichtlinie
Mit dem Inkrafttreten der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO/GDPR), die Verarbeitung personenbezogener Daten regelt, hat sich der gesetzliche Rahmen dieser Praxis allerdings verändert. Bei der Herausgabe der Wahllisten greift die Verordnung in mindestens zweierlei Hinsicht: Auf der einen Seite muss der vertrauliche Umgang mit den Informationen gewährleistet sein. Und es darf nicht zu einer Zweckentfremdung kommen.
Dass die Wählerlisten überhaupt weiterhin von den Parteien genutzt werden dürfen, ist dem Artikel 20 des luxemburgischen Wahlgesetzes zu verdanken. Dort steht: „Les données des citoyens contenues dans les listes ne peuvent pas êtres ultilisées à des fins autres qu’électorales.“ Solange die Parteien die Daten also ausschließlich während der Wahlperiode zu politischen Zwecken nutzen, ist gesetzlich alles in Ordnung.
Wahlgesetz rechtfertigt bisherige Praxis
Für Alex Bodry (LSAP) ist diese Klausel dennoch ein „zweifelhafter“ Widerspruch. „Von allen Seiten hören die Menschen nur Datenschutz. Nicht einmal ein Klassentreffen können sie organisieren, weil sie wegen der DSGVO nicht an die Kontaktinformationen kommen. Und dann haben sie auf einmal gezielt adressierte Briefe von Parteien im Postfach, weil der Artikel 20 des Wahlgesetzes das erlaubt.“
Man muss sich die Frage stellen, wie sich das Wahlgesetz und die DSGVO verbinden lassen.“Alex Bodry, LSAP-Fraktionsvorsitzender
Auch der Rechtsanwalt Hervé Wolff findet den besagten Artikel des Gesetzes fragwürdig. Er kritisiert, dass die Wähler nicht darüber aufgeklärt werden, dass ihre Daten zu Werbezwecken genutzt werden. „Man könnte die Wähler mindestens informieren, im Idealfall aber nach ihrem Einverständnis fragen“, so der im Datenschutzrecht spezialisierte Anwalt.
Auch ließe der besagte Artikel einen gewissen Interpretationsspielraum: „Zu Wahlzwecken“ könnte auch deutlich enger gefasst werden und impliziere keineswegs das Versenden von Wahlwerbung durch die Parteien. Die nationale Datenschutzkommission (CNPD) verweist auf Nachfrage von REPORTER darauf, dass es ähnliche Passagen auch in den Wahlgesetzen anderer Länder, etwa Belgien, gebe. Die Parteien sollen vor Wahlen durchaus die Möglichkeit haben, die Wähler gezielt zu kontaktieren.
Sensible Daten und rechtliche Grauzonen
Damit sind aber noch nicht alle rechtlichen Grauzonen abgedeckt. Denn die Nutzung der personenbezogenen Daten muss laut der Verordnung dem Verarbeitungszweck entsprechen und darf nicht „exzessiv“ sein. Wo also die Grenze ziehen? Ist es noch vertretbar, dass die politischen Parteien tranchieren, wer zum ersten Mal wählt, wer einen ausländischen Pass hat, und sie dann sogar die Sprache des Schreibens anpassen? Schließlich handelt es sich dabei bereits um mehrere Verarbeitungsschritte.
Die nationale Datenschutz-Kommission (CNPD) schreibt diesbezüglich in einer Mitteilung von 2018 (Prospection électorale et protection des données): „La CNPD ne conteste pas la possibilité d’effectuer des opérations de tri et de sélection sur les listes, en fonction de l’âge ou de l’adresse des électeurs. Néanmoins, la CNPD met en garde contre des tris pouvant cibler des personnes sur base de leurs origines réelles ou supposées, notamment par la consonance des noms ou le lieu de naissance.”
Auf Nachfrage erklärt die CNPD, dass diese Kommunikation vor allem für die Nationalwahlen gegolten habe. Zudem handele es sich hierbei weniger um eine Frage des Datenschutzes, sondern es bestehe das Risiko, dass aufgrund des Geburtsortes falsche Schlussfolgerungen bezüglich der Herkunft der Wähler gezogen würden.
Der Experte Hervé Wolff gibt allerdings zu bedenken, dass allein die Nationalität gemäß der DSGVO als sensible Information gewertet werden kann – etwa weil sich dadurch Rückschlüsse auf die Ethnie einer Person ziehen lassen.
ADR vernachlässigt Informationspflicht
Ein weiteres Problem: Um DSGVO-konform zu sein, müssen die Parteien ihrer Informationspflicht nachkommen. Im Schreiben an die Wähler muss also unter anderem stehen, wer für die Datenverarbeitung verantwortlich ist, woher die Daten stammen und zu welchem Zweck sie verwendet werden. Zudem müssen die Wähler auf ihr Widerrufsrecht hingewiesen werden.
Es haben auch Leute bei uns angerufen, die gefragt haben, wie wir an ihre Adresse gekommen sind. Denen haben wir das dann erklärt.“Gast Gibéryen, ADR-Abgeordneter
Bei den Briefen der DP an die Wähler, die REPORTER vorliegen, ist dies der Fall. Bei der gezielten Wahlwerbung der ADR fehlen diese Angaben allerdings. Laut Gast Gibéryen handelt es sich dabei um ein Versäumnis. Wahrscheinlich hätte das Sekretariat der Partei nicht über alle Vorgaben Bescheid gewusst.“Es haben auch Leute bei uns angerufen, die gefragt haben, wie wir an ihre Adresse gekommen sind. Denen haben wir das dann erklärt.“
Laut der Datenschutzkommission ist es auch nicht das erste Mal, dass die Parteien ihrer Informationspflicht nicht nachgekommen sind. Bereits bei den Gemeindewahlen habe man sie darauf hingewiesen.
Debatte zur Reform des Wahlgesetzes
Doch ist die Praxis der gezielten Wahlwerbung angesichts der immer schärferen Datenschutzregeln überhaupt noch zeitgemäß? Für Alex Bodry sind die aktuellen Briefe ein Anlass, die Gesetzgebung auf den Prüfstand zu stellen. „Man muss sich die Frage stellen, wie sich das Wahlgesetz und die DSGVO verbinden lassen.“ Eine Anpassung des Artikel 20 etwa könnte die Unklarheiten beheben, so der Fraktionschef der LSAP.
Der gleichen Meinung ist auch Martine Hansen (CSV). Sie findet die Vorgehensweise der ADR und DP „speziell“ und „moralisch leicht anzuzweifeln“. Das gelte besonders, wenn eine Selektion aufgrund von Nationalität und Sprache vorgenommen wird, so die CSV-Fraktionschefin.
Eine Änderung des Wahlgesetzes ist laut Bodry im entsprechenden Parlamentsausschuss zwar bereits thematisiert worden, doch bisher sind die Gespräche ins Leere gelaufen. „Wenn die Parteien selbst betroffen sind, dann sind das immer schwierige Diskussionen.“
Die Welt ändert sich, da muss man sich anpassen. Dieses Mal haben wir es noch gemacht, weil wir es immer gemacht haben.“Corinne Cahen, DP-Parteivorsitzende
„Wenn man das unbedingt diskutieren will, kann man das tun“, sagt seinerseits Gast Gibéryen. Er verweist aber darauf, dass eine Änderung des Gesetzes nicht verhindere, dass die Menschen Wahlwerbung erhalten. Schließlich könnten Flyer und anderes Material weiterhin auch ohne gesonderte Wählerlisten an alle Briefkästen des Landes verteilt werden.
Auch die DP verschließt sich den Diskussionen nicht. „Die Welt ändert sich, da muss man sich anpassen. Dieses Mal haben wir es noch gemacht, weil wir es immer gemacht haben“, so Corinne Cahen. Bis zu den nächsten Wahlen 2023 bleibe jedoch viel Zeit, um eventuelle Änderungen der Regeln vorzunehmen.
Missbrauch durch Parteien nicht ausgeschlossen
Bei den Nationalwahlen haben sich die etablierten Parteien im gemeinsamen Wahlabkommen übrigens darüber verständigt, auf Briefe an ausgewählte Bürger zu verzichten. Im laufenden Europawahlkampf konnten sich die Parteien auf kein solches Abkommen einigen.
Eine Frage, die zudem weder die CNPD noch die Parteien abschließend klären können: Wie lässt sich eigentlich ein Missbrauch der Daten durch Parteien oder Dritte verhindern? Xavier Bettels Antwort auf die besagte parlamentarische Anfrage lautet: Jede Übermittlung von persönlichen Daten berge das Risiko einer „exploitation abusive, volontaire ou accidentelle“. Dieses Risiko könne „auch bei politischen Parteien nie ganz ausgeschlossen werden“.